# taz.de -- Vergessene Wandbilder von Manfred Henkel: Innere Bewegung auf Beton
       
       > Manfred Henkels Kunst im öffentlichen Raum in Berlin wird heute
       > übersehen. Er galt als ein katholischer Künstler, den die Wahrnehmung
       > interessierte.
       
 (IMG) Bild: Manfred Henkels Mosaike von 1975 am Eva-Maria-Buch-Haus, wo heute die Bezirkszentralbibliothek von Tempelhof-Schöneberg ist
       
       BERLIN taz | [1][„Kunst am Bau“] hat keinen guten Ruf. Viele Menschen
       denken bei diesem Stichwort an wenig originelle Metallplastiken, die mit
       öffentlicher Förderung errichtet wurden und nun ohne erkennbaren Nutzen
       verrosten. Es geht aber auch anders: Der Maler Manfred Henkel (1936-1988)
       nahm diese Kunstform ernst. Er hinterließ an vielen Orten in Westberlin
       seine Spuren. Allerdings sind sie inzwischen so sehr Teil des
       architektonischen Alltags, dass sie kaum mehr gelesen werden können.
       Dementsprechend dürfte auch ihr Urheber nur noch wenigen Berliner*innen
       ein Begriff sein.
       
       Der gebürtige Göttinger Henkel lernte sein Handwerk als Meisterschüler des
       linken Malers Manfred Henninger. Dieser hatte unter anderem bei Oskar
       Kokoschka in Dresden studiert und 1929 mit anderen jungen Künstler*innen
       die „Stuttgarter Neue Sezession“ gegründet: Eine Gruppe mit Hang zum
       „expressiven Realismus“, die 1933 von den Nationalsozialisten
       zwangsaufgelöst wurde. Nach der Machtübernahme floh Henninger zunächst über
       die Schweiz auf die Insel Ibiza, musste aber schon 1936 aufgrund des
       spanischen Bürgerkriegs ins schweizerische Tessin zurückkehren, wo er bis
       nach Kriegsende im Exil blieb. Er wurde schließlich 1949 als Professor an
       die Staatliche Akademie der bildenden Künste Stuttgart berufen.
       
       Obwohl Henninger noch vergleichsweise stark figürlich arbeitete, findet
       sich schon bei ihm ein lebendiger und religiös aufgeladener Malgestus wie
       er später für Henkel prägend sein wird. Henningers Sujets sind vor allem
       Landschaften oder Porträts, die er aus unterschiedlich dicken Farbstrichen
       zusammensetzt.
       
       Für ihn besaßen diese farbigen Kompositionen die Fähigkeit, ihre
       Betrachter*innen mit dem Ursprung des Seins zu verbinden: „Die einzelne
       Farbe, so gering die im Bild auftretende Quantität auch sei, stammt aus
       einem der Ströme, welche die Urfarbe sind und die immer durch die Welt und
       die Menschen fließen“, führte er 1947 in seiner Programmschrift „Ein
       Bekenntnis zur Malerei“ aus.
       
       Wie sein Lehrer geriet Henkel in den Mahlstrom der Zeitgeschichte. Noch
       während des Kunststudiums kommt er mit Ellinor „Ello“ Michel (1939–2007)
       zusammen. Sie ist ebenfalls Künstlerin und die Tochter eines womöglich in
       die Vorbereitungen zum Attentat vom 20. Juli 1944 verstrickten
       Wehrmachtsoffiziers. Nach der Geburt eines gemeinsamen Sohns zieht das Paar
       1963 von Stuttgart nach Westberlin.
       
       ## Die 60er Jahre in Westberlin
       
       Dort verliebt sich die Künstlerin in Andreas Baader, den späteren Gründer
       der [2][„Rote Armee Fraktion“ (RAF)]. Obwohl sich das Ehepaar Henkel
       bereits innerlich getrennt hat, wohnen sie noch längere Zeit zusammen,
       zeitweise sogar mit Baader. Später wird auch Gudrun Ensslin, der zweite
       Kopf der RAF und Geliebte von Baader, mit ihrem Sohn Felix bei Henkel und
       seiner neuen Lebensgefährtin Gertrud „Agathe“ Hemmer wohnen. Die
       Kommunardin hatte 1967 auf der berühmten Rückenakt-Fotografie der Kommune I
       nackt posiert. „[I]n zwei netten Zimmern bei freundlichen Leuten, Bekannten
       von uns“, so beschreibt Ensslins langjähriger Verlobter Bernward Vesper im
       März 1968 Helmut Ensslin, dem Vater der Terroristin und evangelischen
       Pfarrer, die Situation.
       
       Obwohl Henkel noch Anfang der 1970er Jahre ein Heimkinderprojekt mit dem
       marxistischen Psychologen Klaus Holzkamp durchführt, entfernt er sich immer
       weiter von der 68er-Bewegung. Nach einem Besuch in einer katalanischen
       Benediktinerabtei in Montserrat konvertiert er zum katholischen Glauben und
       wird fortan häufig als katholischer Künstler wahrgenommen.
       
       So berichtet das Petrusblatt, die ehemalige Kirchenzeitung für das Bistum
       Berlin, dass Henkel 1985 anlässlich einer Ausstellung in der „Berlinischen
       Galerie“ sogar als „Repräsentant[en] einer,Gegenreformation' mitten im
       protestantischen Berlin“ vorgestellt wurde.
       
       Henkel gehört schließlich 1987 dem Gründungsbeirat [3][der Berliner
       Guardini-Stiftung] an, die bis heute das Andenken des katholischen
       Religionsphilosophen Romano Guardini pflegt. Allerdings stirbt der Künstler
       schon im Juli 1988 unerwartet an einem Aneurysma der Bauchschlagader.
       
       ## Die spirituelle Bewegung suchen
       
       In seiner Grabrede für Henkel hebt [4][Eberhard Roters, der
       Gründungsdirektor der „Berlinischen Galerie“], noch mal mit Blick auf
       Henkels Spätwerk das religiöse Anliegen seines künstlerischen Schaffens
       hervor: „Sie geben […] Einblicke in die Lichter des Himmels, nicht in das
       äußere Firmament, sondern in das bewegte innere Firmament der Seele und des
       Geistes, durch das wir mit den großen Bewegungen der Ewigkeit verbunden
       sind […].“
       
       Was das genau heißt, verdeutlicht Henkel 1983 in einem Gespräch mit dem
       Sender Freies Berlin. Darin vergleicht er seine Bilder unter anderem mit
       einem „Goldgrund der alten Ikonen, in denen etwas erscheint“, oder einem
       frühmittelalterlichen Codex, der mit Edelsteinen besetzt ist. Die
       künstlerische Oberfläche soll den Blick für das öffnen, was „hinter den
       Dingen“ liegt. Jede sinnliche Erfahrung könne ins Visionäre umschlagen.
       
       Henkel verstand seine Kunst daher auch als „Schule des Sehens“: Sie soll
       den Blick und die Aufmerksamkeit der Betrachter*innen verfeinern. Das
       gelte aber nicht nur für Bilder in einer Galerie, sondern auch für Orte der
       künstlerischen Meditation im öffentlichen Raum: „Ich finde das sehr, sehr
       wichtig, dass Kunst im Stadtraum zur Vertiefung anregt.“
       
       In enger Zusammenarbeit mit dem Architekten Bodo Fleischer schuf Henkel ab
       Mitte der 1960er-Jahre in Westberlin mehrere Orte, die eine solche
       Versenkung ermöglichen. Ein Beispiel ist das Eva-Maria-Buch-Haus
       (1975-1978) nahe der U-Bahnstation Alt-Tempelhof, in dem sich heute die
       Bezirkszentralbibliothek von Tempelhof-Schöneberg befindet. Auf den ersten
       Blick dominieren Beton und türkisfarbene Fensterrahmen das Erscheinungsbild
       des Gebäudes. Wer das Gebäude aufmerksam betrachtet, wird aber auch Manfred
       Henkels großflächige Mosaike entdecken, die an der Außenfassade des
       Gebäudes angebracht sind. Es sind unterschiedlich große Steine in bunten
       Farben, die vom Künstler unregelmäßig zu schwungvollen Paneelen
       zusammengesetzt wurden.
       
       Leider ist die Zeit nicht spurlos am Gebäude und seinem Außenschmuck
       vorbeigegangen. Manchmal versperrt Gestrüpp den Betrachter*innen den
       Blick. Wer sich aber auf diese „Schule des Sehens“ einlässt, nimmt nicht
       nur das Gebäude selbst, sondern auch die Straßenzüge auf dem Rückweg zum
       U-Bahnhof intensiver wahr.
       
       ## Eisdiele mit Patina
       
       Ganz anders sieht Henkels urbane Kunst im Wedding, in der Müllerstraße
       156d, aus. Passant*innen übersehen das vier Meter und 98 Zentimeter
       breite Gebäude zwischen seinen etwas imposanteren Nachbarn schnell. Es
       wurde Ende des 19. Jahrhunderts erbaut und soll mit etwa vier Metern Breite
       das schmalste Haus Berlins sein. Im Erdgeschoss befindet sich seit 1977
       eine italienische Eisdiele. Der Charme des alten Westberlin entfaltet dort
       seine ganze Wirkung.
       
       Allerdings unterscheidet sich das Haus nicht nur durch seine Maße von den
       anderen Gebäuden des Straßenzugs. Während die Fassaden seiner Nachbarn
       nüchtern in Gelb oder Blau gehalten sind, ranken sich an der ockergelben
       Müllerstraße 156d zarte Malereien nach oben, die Henkel 1976 entwarf.
       
       Da die Fassade inzwischen etwas gelitten hat, lässt sich nicht mehr klar
       erkennen, was der Künstler Henkel bei diesen Ornamenten im Sinn hatte:
       Arme, Zweige oder gar engelshafte Gestalten? Ihr Effekt ähnelt jedoch dem
       der Mosaiken am Eva-Maria-Buch-Haus. Die Betrachter*innen werden durch
       sie darauf gestoßen, in der Außenfassade etwas Höheres zu erkennen. Es kann
       sich also lohnen, der „Kunst am Bau“ im Geiste Manfred Henkels mehr
       Aufmerksamkeit zu widmen: Vielleicht stellt sich dann sogar eine Vision
       ein.
       
       17 Jun 2024
       
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