# taz.de -- Retrospektive für Ulla Wiggen: Die Schaltpläne ihres Geistes
       
       > Sie entwarf eigensinnige Tech-Welten, heute malt Ulla Wiggen
       > melancholisch-sachliche Körperbilder. In Kassel wird ihre erste
       > Retrospektive gezeigt.
       
 (IMG) Bild: Filmraum „Kino 2“: Von Venedig nach Kassel – Cecilia Alemani über Ulla Wiggen, Installationsansicht Fridericianum, Kassel
       
       Für die britische Version der Kraftwerk-LP „Ralf and Florian“ setzte 1973
       der Grafikdesigner Barney Bubbles eine sachlich gemalte Leiterplatine auf
       das Cover. Das war eine passende Ästhetik für die [1][Soundpioniere aus
       Düsseldorf], die sich gerade der elektronischen Musik öffneten. Allerdings
       malte die Stockholmer Künstlerin Ulla Wiggen schon zehn Jahre zuvor solche
       Diagramme auf Leinwand und stellte zu diesem Zeitpunkt den technologischen
       State of the Art dar.
       
       Fasziniert von damals teuren elektronischen Bauteilen, malte Wiggen
       Schaltpläne, elektronische Geräte, Widerstände und Kondensatoren. Dafür
       wandte sie Gouache auf medizinischem Gaze-Verband an, später auch
       Acrylfarben. In penibler Handarbeit entwirft Wiggen eine imaginäre Notation
       elektronischer Welten. Ihre Bilder wirken wie technische Zeichnungen, sind
       aber wahrscheinlich völlig dysfunktional: Ob aus ihren Schaltplänen und
       Verdrahtungen eine technische Kohärenz herauszulesen wäre, überfordert hier
       die Kunstkritik.
       
       Wiggens begann als Autodidaktin ihre unkonventionelle Art der Malerei. Ihr
       Studium der angewandten Kunst in Stockholm hängte sie rasch an den Nagel,
       besuchte später noch die Kunstakademie, machte mehrere Ausbildungen in der
       Psychotherapie. Spät, sie war schon über 80 Jahre alt, hatte Ulla Wiggen
       eine erste Einladung zur Kunstbiennale in Venedig. Auch die jetzige
       Ausstellung in der Kunsthalle Fridericianum Kassel ist Wiggens erste
       Retrospektive überhaupt.
       
       ## Früher Dialog zwischen Kunst und Technik
       
       Großzügig kuratiert, bietet die Kasseler Schau gleich zu Beginn eine
       Übersicht über Wiggens Leben und Werk. So kam sie schon als Neunzehnjährige
       in Kontakt mit einer zwischen Stockholm und New York pendelnden Avantgarde,
       stieß dabei auch auf Fylkingen, eine innovative Gruppe von Komponist:innen,
       Künstler:innen, Ingenieur:innen und Geisteswissenschaftler:innen
       in Stockholm. Einem Dialog zwischen Kunst und Technik, wie es Fylkingen,
       aber auch das Studio für elektronische Musik des Schwedischen Rundfunks
       (EMS) vorantrieben, stand der Musiker und Komponist Knut Wiggen vor, Ulla
       Wiggens Ehemann.
       
       Fylkingen wurde vom Starkurator Pontus Hultén bald schon ins Moderna Museet
       eingeladen, das sich so zum Zentrum für neue Musik, Performances und
       Happenings entwickelte. Zeitgleich lud das EMS internationale Komponisten
       ein.
       
       Wiggen sammelte nun [2][mit dem Komponisten John Cage] in schwedischen
       Wäldern Pilze und wurde 1965 als Assistentin des [3][agitatorischen
       Pop-Künstlers Öyvind Fahlström] und dessen Frau Barbro Östlihn in die
       Kunstszene Manhattans katapultiert. Ihre Tätigkeit bei dem Paar beschrieb
       sie einmal nüchtern als „Malen nach Zahlen“. Diese eher maschinelle Art der
       Malerei unter Zuhilfenahme von Kamera und Diaprojektor hatte Fahlström sich
       von Andy Warhol abgeschaut und Wiggen wiederum für sich übernommen. Das
       muss eine künstlerische Befreiung gewesen sein.
       
       Ihre Begegnungen in New York zwischen 1965 und 1967 mit Szenegrößen wie den
       Pop-Artisten Robert Rauschenberg und [4][Claes Oldenburg] oder [5][dem
       Choreografen Merce Cunningham] brachten ihr neue Kontakte, vor allem aber
       explosionsartig künstlerische Emanzipation.
       
       ## Ambitionierte Tech-Events
       
       1966 nahm sie dann auch an den legendären Performances „9 Evenings: Theatre
       and Engineering“ teil. Zehn Künstler:innen arbeiteten dafür mit mehr als
       30 Ingenieur:innen der als Bell Lab bekannten Forschungsabteilung der
       US-Telefongesellschaft AT&T zusammen, um in einer riesigen Armeehalle
       ambitionierte Tech-Events zu produzieren. Für die Anti-Vietnam-Revue von
       Öyvind Fahlström sollte Wiggen schließlich in einem Kinderpool voller
       Gelatine einen Orgasmus vortäuschen – so sah damals wohl sexuelle Befreiung
       aus.
       
       Selbstbewusst forderte sie 1968 eine erste Ausstellung in der Stockholmer
       Galerie Prisma ein, darauf folgte die viel rezipierte Wanderausstellung
       „Cybernetic Serendipity“ in London, Washington und Los Angeles. Ihre 1963
       begonnene Serie „Electronics“ endet 1969 im „Nirgendwo“. So heißt ihr Bild
       von einem Digitaldisplay, das an einer Stange hängt. Danach malte sie
       sachlich kühle Personenporträts. Und es gab Lebenskrisen, Trauerarbeit, die
       Anstrengung des Parallelberufs als Psychotherapeutin.
       
       Mit der „Intra“-Serie kehrte sie 2013 zur öffentlich gezeigten Malerei
       zurück. Knochen, Innereien oder aufgesägte Zähne springen einem darauf wie
       aus einem medizinischen Handbuch entgegen. Dem anatomischen Realismus
       widerstreben merkwürdige Auswüchse, menschliche Teile schweben auf den
       Leinwänden oder rotieren darauf gleich einer Laubsägearbeit. Ihre
       „Humans“-Serie zeigt Gehirn und Nervennetz, koppelt sich quasi mit den
       frühen Schaltbildern kurz.
       
       Im Fridericianum sind die „Iris“-Bilder Wiggens aktuellste Reihe. „Es hat
       nichts mit Überwachung zu tun. Ich habe das Innere des Körpers gemalt. Und
       dann will ich etwas mit meiner Haut und den Sensoren machen“, erzählt die
       Künstlerin in Kassel der taz. Die auf runde, plastisch geschliffene
       MDF-Platten gemalten Menschenpupillen sind umwerfend schöne und zugleich
       kühle Bilder, sie liegen zwischen Digitalität und sezierender
       Körperdarstellung – betörende Mensch-Maschinen und penible Porträts, deren
       abstrakte Sachlichkeit nicht von der ihnen inneliegenden Melancholie
       ablenkt.
       
       23 May 2024
       
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