# taz.de -- Umstrittener Videobeweis: Wird so der Fußball gerechter?
       
       > Der Video Assistent Referee greift oft in die Spiele dieser
       > Europameisterschaft ein. Wem nutzt diese Technologie? Ein Pro & Contra.
       
 (IMG) Bild: Schon drüber oder noch Linie? Die Animationen durch den VAR liefern die Bilder dieser EM
       
       ## Ja,
       
       Der VAR ist die beste Erfindung, die jemals im Fußball gemacht wurde.
       Endlich hat es ein Ende mit der Ambiguität, mit dem Ungefähren. Der
       [1][Video Assistant Referee] schafft mit seinem segensreichen Wirken
       ultimative Klarheit. Er objektiviert und befriedet das Spiel. Denn wer kann
       schon etwas gegen die unbestechliche Letztgültigkeit einer quasi
       maschinellen Entscheidung sagen? Eben.
       
       Der VAR verkündet Wahrheit – und hat mit seiner Einführung eine
       kopernikanische Wende im Fußball herbeigeführt. Wo früher der Linienrichter
       mit seiner Fahne herumwedelte, eine Sicherheit suggerierend, die er
       definitiv nicht haben konnte, so sehen wir heute gestochen scharfe
       Tatortprotokolle, ehrliche Schnappschüsse, die jede Diskussion auf dem Feld
       ersticken. VAR und Hawk-Eye (im Tennis) weisen den Weg, wenngleich an der
       VARen Inszenierung im Fußballstadion noch gearbeitet werden muss: Den Fans
       kann Transparenz zugemutet werden.
       
       Kann-Entscheidungen gibt es in der VARen Welt nicht, nur faktische. Wenn
       der dänische Stürmer mit der Schuhspitze im [2][Abseits] war, ein paar
       Zentimeter nur, dann ist das halt so. Es macht keinen Unterschied, ob es
       zwei Meter oder zwei Millimeter sind. Abseits ist Abseits! Wer das
       hinterfragt, hat wohl ein generelles Problem mit Regeln, spaziert auch vor
       kleinen Kindern über rote Ampeln oder macht in der Tempo-30-Zone einen auf
       Bleifuß.
       
       Die Akzeptanz einer VAR-Entscheidung darf nicht davon abhängen, ob mir
       dieses oder jenes Team, dieser oder jener Stürmer sympathisch ist oder
       nicht, es geht um freudige Duldung eines klinischen Bewertungssystems.
       Dabei darf auch die Häufigkeit des VAR-Einsatzes keine Rolle spielen. Und
       gibt es in einem Spiel einmal mehr strittige Situationen? Umso besser, dann
       geht es eben doppelt oder dreifach gerechter auf dem Spielfeld zu. Der VAR
       schafft Rechtsfrieden unter den Parteien. Im Kölner oder jetzt dem
       [3][Leipziger Keller] sitzt eine höhere Instanz, die das Spiel so vermisst,
       dass alle Betroffenen sagen können: Ja, so ist es, großer Manitu!
       
       Ein Abseits kann der VAR mittlerweile gut aufklären, Handlungsbedarf
       besteht freilich noch bei der Festlegung eines Handspiels. Im
       Entscheidungsprozess kommt leider immer noch die Fehlerquelle Mensch hinzu.
       Der Schiedsrichter urteilt letztlich über die Strafbarkeit eines
       Handspiels. Das ist unsauber, oft willkürlich. Das muss auch noch
       schleunigst automatisiert werden. Vorschlag: Wenn der an der Hand
       angeschossene Verteidiger rechnerisch gar keine Zeit hatte, den Arm
       wegzuziehen, weil er eben kein psychomotorischer Zaubermeister ist, dann
       ist er unschuldig. Das sollte doch in Zeiten von Supercomputern und KI
       möglich sein, oder?
       
       Noch immer ist zu viel Unsicherheit und Subjektivität im Spiel. Der Fußball
       aber verdient Besseres. Das Bessere liegt eindeutig im Aufkündigen einer
       verquasten Tradition, die nur dies garantierte:
       Pi-mal-Daumen-Entscheidungen und Zugunsten-des-Angreifers-Quatsch. Wir
       leben nun in einer authentischeren Fußballwelt, dem großen VAR sei Dank!
       Markus Völker
       
       ## Nein,
       
       Wenn es nach mir ginge, hätte der Dortmunder Starkregen auch diesen
       [4][Videokeller] volllaufen lassen können. Während Journalisten und Fans
       immer noch auf der Suche nach einem prägenden Spieler dieser
       Europameisterschaft sind, steht das Gesicht der Euro fest: ein animiertes
       Männchen, dessen Fuß mal über einer willkürlich gezogenen Linie steht oder
       knapp dahinter.
       
       Der Video Assistant Referee, abgekürzt VAR, soll, so sagen seine
       Befürworter, den Zufall minimieren und das Spiel [5][gerechter] machen.
       Dafür werden kalibrierte Linien auf Bildschirme gezogen, Spielszenen werden
       in reduzierter und animierter Form nachgestellt, und herauskommen soll:
       Gerechtigkeit. Das soll gelingen, in dem alles, was den Fußball schön und
       attraktiv macht, eliminiert wird. Kein genialer Pass, der nach nur kurzem
       Blick geschlagen wird. Kein Dribbling und keine Körpertäuschung, mit der
       sich ein Spieler gegen einen anderen durchsetzt. All das wird für nichtig
       erklärt, entscheidend ist diese kalibrierte Linie. Sie soll exakt den
       Moment markieren, in dem der Ball den Fuß des passenden Spielers verlassen
       hat. Dass hier aber immer noch großer Spielraum ist, weiß jeder, der Spiele
       aus eigener Anschauen kennt. Und jeder, der sich mit Medientheorie ein
       wenig auskennt, weiß, dass zur Beurteilung etwa von Zweikämpfen und Fouls
       die Kameraposition entscheidend ist.
       
       Es ist eine Scheinobjektivität, die uns mit VAR und Videobeweis aufgetischt
       wurde. Eigentlich wissen das alle, aber wer will so etwas? Solche Leute,
       die viel Geld investieren und es nicht durch eine zufällige
       Fehlentscheidung der 23. Person auf dem Feld, die mit Pfeife und Autorität
       ausgestattet ist, verlieren wollen. Es ist der Versuch, den Fußball zu
       einer berechenbaren Größe zu machen. Ein marktförmiger Fußball.
       
       Doch die Schönheit des Fußballs besteht ja gerade darin, dass er nicht
       berechenbar ist. Der berühmte Herberger’sche Satz „Der Ball ist rund“
       drückt ja gerade aus, dass in diesem Sport alles möglich ist und sein muss.
       Die Regeln, die, damit Fußball der attraktive Sport bleibt, der er ist,
       wurden über hundert Jahre lang von Schiedsrichtern kontrolliert, und noch
       nach jüngsten Berechnungen aus dem Profifußball lag die Fehlerquote immer
       nur bei etwa sieben Prozent.
       
       Über diese kleine Quote kann diskutiert werden, das macht den Fußball zu
       einem Kulturgut. „Drin oder Linie?“, das ist fast 60 Jahre nach dem
       WM-Finale 1966 in Wembley immer noch die Frage, die deutsche Fans erregt:
       Geoff Hursts Lattentreffer zum 3:2. Ein damals eingesetzter VAR hätte
       vielleicht zu einer Annullierung des Treffers geführt, aber was noch? Es
       hätte kurzfristig den englischen Jubel im Stadion ruiniert, weil ja erst
       auf das Ergebnis der Videoanalyse hätte gewartet werden müssen. Und
       langfristig wäre uns eines der schönsten Debattenthemen der vergangenen
       Jahrzehnte entwendet worden.
       
       Ob jemand im Abseits steht, sollten wir uns bitte weiterhin mit der
       Definition des legendären Trainers Hennes Weisweiler erklären: „Abseits
       ist, wenn das blonde Arschloch wieder den Ball zu spät abspielt.“ Martin
       Krauss
       
       30 Jun 2024
       
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