# taz.de -- Hunderte Tote in Mekka: „Klimawandel nicht verantwortlich“
       
       > Die Verantwortung für die Toten liege allein bei Saudi-Arabien, sagt
       > Regimekritikerin Madawi al-Rasheed. Künftig sollten muslimische Staaten
       > die Hadsch organisieren.
       
 (IMG) Bild: Muslimische Pilger umrunden die Kaaba, das heiligste Heiligtum des Islam, im saudi-arabischen Mekka
       
       taz: Frau al-Rasheed, wieder sind Hunderte Menschen bei der islamischen
       Pilgerfahrt gestorben. Warum kommt es in Mekka immer wieder zu Tragödien? 
       
       Madawi al-Rasheed: Die Realität vor Ort klafft auseinander mit dem Narrativ
       der saudischen Regierung, dass sie sich um die Pilger kümmert, dass sie zum
       Beispiel genügend Trinkbrunnen bereitstellt und die Gesundheit und
       Sicherheit der Menschen schützt. Jedes Jahr kommt es während der Hadsch zu
       irgendeiner Katastrophe. Es ist unglaublich, dass im 21. Jahrhundert viele
       hundert arme Pilger ums Leben kommen und ihre Leichen verstreut in den
       Straßen des Pilgerareals herumliegen. Das ist apokalyptisch.
       
       Dieses Mal wurden die meisten offenbar nicht [1][wie 2015 durch eine
       Massenpanik getötet], sondern starben infolge von hohen Temperaturen. 
       
       Das verweist auf ein langfristiges Problem: Saudi-Arabien nimmt den
       Klimawandel nicht ernst. Zwar ist der Klimawandel natürlich ein globales
       Problem, aber bei den Vorbereitungen für die Hadsch wurde die Tatsache
       offensichtlich nicht berücksichtigt, dass die Temperatur heutzutage bei 50
       Grad liegen kann, wenn die Pilgerzeit in den Sommer fällt.
       
       Im Sommer war es in Saudi-Arabien aber doch schon immer heiß. 
       
       Natürlich, aber früher herrschten eher zwischen 40 und 45 Grad. Dennoch:
       Wir können den Klimawandel nicht verantwortlich machen. Bei den Toten in
       Mekka handelt sich um ein Versäumnis der Regierung. Wenn die Temperatur
       steigt und man über 2 Millionen Pilger im Land hat, stellt sich die Frage:
       Welche Vorkehrungen braucht es, um eine Katastrophe zu verhindern?
       Stattdessen werden die Saudis jetzt im Nachhinein die Pilger selbst
       verantwortlich machen. Das ist immer so: Die Pilger sind demnach durch
       eigenes Verschulden gestorben. In der Vergangenheit hieß es in saudischen
       Medien oft, die Toten, wenn sie aus armen afrikanischen Ländern kamen,
       seien ignorant gewesen und hätten die Anweisungen nicht befolgt. Da ist
       auch viel Rassismus im Spiel.
       
       Allerdings hat die saudische Regierung in den letzten Jahren tatsächlich
       viel in die Infrastruktur in Mekka investiert und die Pilgerorte massiv
       ausgebaut und auch verbessert. Oder nicht? 
       
       Das hat sie. Allerdings gibt es auch eine Menge Propaganda. Kurz vor der
       Katastrophe habe ich mir den [2][Twitter-Account von Mark C. Thompson]
       angesehen, ein britischer Akademiker, der zum Islam konvertiert ist und in
       Saudi-Arabien lebt. Er hat dieses Jahr zum ersten Mal die Hadsch gemacht
       und in den letzten Tagen [3][Fotos verbreitet], auf denen er auf bequemen
       Sofas im Freien sitzt. Wenige Stunden später sah ich die Bilder der
       Leichen.
       
       Es gibt immer mehr Muslime weltweit. Wird die Hadsch zu einer
       Massenveranstaltung, die sich nicht mehr kontrollieren lässt? 
       
       Man muss wissen, dass es Teil der (staatlichen Entwicklungsstrategie)
       „Vision 2030“ ist, die Zahl der Pilger sogar noch zu erhöhen. Das Ziel ist,
       dass 3 Millionen Pilger allein zur Hadsch ins Land kommen. Aber auch
       unabhängig davon kann die bloße Anzahl der Pilger nicht als Entschuldigung
       für den Tod von mehr als 600 Menschen herhalten. In Indien gibt es
       Pilgerfahrten mit mehr als 3 Millionen Menschen. Das Problem ist, dass in
       Saudi-Arabien niemand verantwortlich gemacht wird. Wir werden nie erfahren,
       warum die Menschen in Mekka keine Erste Hilfe bekommen haben und warum die
       Leichen nicht eingesammelt wurden. Hinzu kommt, dass der Geist der
       Pilgerfahrt verloren gegangen ist.
       
       Inwiefern? Was meinen Sie damit? 
       
       Bei der Hadsch sind eigentlich alle gleich. Ob Schwarz oder weiß, reich
       oder arm, alle sind gleich gekleidet und vollziehen die gleichen Rituale.
       Es geht um Demut, Spiritualität und die Annäherung an Gott. Aber in
       Saudi-Arabien werden die Hierarchien in der Pilgersaison reproduziert.
       Wohlhabende wohnen in Luxushotels und fahren im Golfmobil durch Mekka. Die
       Unterschiede werden eher reproduziert als aufgelöst.
       
       Dadurch kommt allerdings niemand ums Leben. 
       
       Das Grundproblem ist die Kommerzialisierung der Hadsch, die zu Missständen
       führt. Denn all die Annehmlichkeiten sind nur für Wohlhabende. Es stimmt,
       dass die Regierung Mekka modernisiert hat. Dafür hat sie viel Geld
       ausgegeben, bekommt aber viel auch wieder rein. Diese Form von Entwicklung
       dient nicht dazu, den normalen Pilgern Sicherheit und Komfort zu bieten.
       Sie sollen nur konsumieren. Um die Entwicklung voranzutreiben, haben die
       Saudis viele Grundstücke in Mekka konfisziert. Diese Erschließung war aber
       so teuer, dass überall Fünf-Sterne-Hotels, Einkaufszentren und McDonald’s
       oder KFC-Filialen entstanden sind. Mekka ist mittlerweile wie ein riesiges
       Einkaufszentrum.
       
       Mit der Pilgerfahrt kamen schon immer Menschen ins heutige Saudi-Arabien,
       ohne dass die Herrscher wirklich den Überblick behielten. Heute versucht
       das Regime mehr denn je, die Hadsch unter Kontrolle zu bringen. Doch es
       gibt Berichte über Pilger, die nicht offiziell registriert sind. Was wissen
       Sie? 
       
       Zum einen gibt es einen Visahandel. Die Pilgervisa werden nach einem
       Quotensystem ausgestellt. Für jedes Land, in dem Muslime leben, gibt es
       eine bestimmte Anzahl an Visa. Daran sind Reiseunternehmen beteiligt, die
       die Unterkünfte und so weiter buchen. Teilweise sehen wir Zweit- und
       Drittverkäufe von Visa. Zum anderen gibt es Pilger, die die Visumspflicht
       umgehen. Um in dieses System Transparenz zu bringen, bräuchte es
       investigativen Journalismus, der fragt, wie Visa ausgestellt und verkauft
       werden und wer daraus Profit schlägt.
       
       Was schlagen Sie vor, um künftige Katastrophen zu verhindern? 
       
       Transparenz wäre der erste Schritt. Zweitens, und das ist eine radikale
       Forderung, braucht es einen Rat muslimischer Länder, der die Hadsch
       verantwortet. Dieser könnte Wege finden, die Anzahl der Pilger zu begrenzen
       oder auf andere Weise solchen Katastrophen vorzubeugen.
       
       Warum ist diese Forderung radikal? 
       
       Die Saudis werden die Verantwortung und das Management der Hadsch nicht
       teilen. Obwohl sie das Erbe aller Muslime weltweit ist, betrachten die
       Saudis die Hadsch als ihren Zuständigkeitsbereich. Für die saudische
       Regierung ist sie nicht nur ein geldbringendes Geschäft, sie verleiht ihr
       auch Legitimität. Der König trägt ja den Titel „Diener der beiden heiligen
       Stätten“ (Mekka und Medina). Er wird die Kontrolle über Mekka niemals
       aufgeben, nicht König Salman und auch kein anderer König.
       
       19 Jun 2024
       
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