# taz.de -- Barbara Skargas Gulag-Bericht: Zehn Jahre im Gulag
       
       > Nach der „Befreiung“ durch die Rote Armee 1944/45 kam Barbara Skarga in
       > Arbeitslager. Ihr nun auf deutsch übersetzter Bericht ist brandaktuell.
       
 (IMG) Bild: Schuften bis zur Apathie: Strafgefangene in einem sowjetischen Gulag zu Zeiten Stalins
       
       Barbara zog ein luftiges Sommerkleid an. Die Sonne brannte schon früh vom
       Himmel. Es würde ein heißer Tag werden. Am Abend wollte die polnische
       Philosophiestudentin auf eine Party gehen und sorglos feiern. Mitte 1944
       schien der Zweite Weltkrieg schon fast zu Ende zu sein. Sie warf sich noch
       eine Handtasche über die Schultern und machte sich auf den Weg zu ihrem
       Bekannten, mit dem gemeinsam sie im polnischen Untergrund gegen die
       deutschen Besatzer kämpfte. Doch dort warteten schon die „Befreier“ auf
       sie.
       
       Stunden später fand sie sich in einem Gefängnis des russisch-sowjetischen
       Geheimdienstes NKWD wieder. Der Vorwurf: Als polnische Faschistin habe sie
       mit den Deutschen kollaboriert. Dass ihr ein Jahr Gefängnis, zehn Jahre
       Haft im sowjetischen Gulag und ein weiteres Jahr Zwangsarbeit in einer
       sibirischen Kolchose bevorstehen würden, ahnte sie damals noch nicht. Erst
       1956 durfte sie zurück nach Hause, doch nicht ins litauische Vilnius – das
       lag inzwischen in der Sowjetunion –, sondern nach Warschau in Polen, das es
       als Satellitenstaat Moskaus hinter dem Eisernen Vorhang auch nicht viel
       besser getroffen hatte.
       
       Erst drei Jahrzehnte später wagt es die inzwischen renommierte
       Philosophieprofessorin Barbara Skarga, [1][ihre Erinnerungen an die
       russisch-sowjetischen Gefängnisse,] die Straflager für politische Gefangene
       und die wirtschaftlich völlig ineffiziente Kolchose aufzuschreiben. Aber
       auch nach dem Tod Stalins herrscht noch lange Jahre die „Zeit der großen
       Angst“. In Polen gibt es auch 1985, 40 Jahre nach Kriegsende, noch keine
       Presse- und Meinungsfreiheit. Wer gegen die Zensur verstößt, landet im
       Gefängnis.
       
       Über den russischen Sowjet-Verbrechen gegen Hunderttausende Polen, Litauer,
       Letten, Esten und Ukrainer lastet ein erzwungenes Schweigen. Daher
       verändert Skarga 1985 viele Ortsnamen und Details, die sie verraten und
       erneut ins Gefängnis bringen könnten. Sie publiziert ihre Erinnerungen
       vorsichtshalber unter Pseudonym und in einem polnischen Exilverlag in
       Paris. Das elende Leben in russisch-sowjetischen Gefangenschaft
       überschreibt sie bitter-sarkastisch mit dem offiziellen Propagandaslogan
       des Regimes: „Nach der Befreiung“.
       
       ## Das erste Werk einer Frau, die 10 Jahre Gulag überlebte
       
       Über den konspirativen „zweiten Umlauf“, den es neben dem offiziellen
       Buchmarkt in der kommunistischen Volksrepublik Polen gab, kommt ihr Buch
       nach Polen zurück und wird in intellektuellen Kreisen diskutiert. Nach dem
       „Archipel Gulag“ des [2][russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn]
       von 1973 und dem bereits zuvor erschienen Zeitzeugnis „Welt ohne Erbarmen“
       (1953) des exilpolnischen Journalisten Gustaw Herling-Grudziński ist das
       Buch „Nach der Befreiung“ das erste große Werk einer Frau, die zehn Jahre
       im Gulag und in der sibirischen Verbannung überlebt hat.
       
       Nach der politischen Wende in Polen 1989 und den ersten noch halbfreien
       Wahlen im damaligen Ostblock im Juni 1990 erscheint ihr Buch in mehreren
       Auflagen unter ihrem wirklichen Namen Skarga und ohne die einst notwendige
       Ortsnamen-Camouflage. Nur die Kolchose heißt nach wie vor „Budjonowka“ –
       vielleicht als Schutz gegenüber den Menschen, die dort noch immer leben
       müssen.
       
       Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 sind
       Skargas Erinnerungen wieder hochaktuell. Sie zeigen auf, was den
       Ukrainerinnen und Ukrainern „[3][nach der Befreiung vom Faschismus“ drohen
       würde].
       
       Nun kann man ihr Buch auch auf Deutsch lesen. Der Hamburger Verlag Hoffmann
       und Campe hat es auf Anregung der polnisch-belgischen Philosophin Alicja
       Gescinska ins Programm genommen. „Vieles von dem, was Skarga beschrieben
       hatte, ist auf schmerzliche Weise wiedererkennbar geworden“, schreibt
       Gescinska im Vorwort. „Die russische Rhetorik über die Notwendigkeit, das
       Nachbarland vom Faschismus zu befreien.“ Außerdem: Hunger als Waffe,
       Deportationen, die Evakuierungen genannt werden. Scheinreferenden und
       -wahlen. „Skarga schrieb, wie es früher war, und die Parallelen zur
       heutigen Zeit sind nicht zu verkennen“, so Gescinska.
       
       ## Die emotionale Abstumpfung
       
       Vilnius im Jahr 1944: Das Schlimmste für die 25-jährige
       Philosophiestudentin Barbara Skarga ist die im Gefängnis allgegenwärtige
       Angst vor Vergewaltigung, Folter, Schmerzen, Hunger und der
       fortschreitenden emotionalen Abstumpfung. Entsetzlich ist für sie aber auch
       der Gestank von Menschen, die sich nicht regelmäßig waschen können. Der
       eigene Körper nimmt den für Sowjetgefängnisse typischen Geruch von
       Exkrementen, stinkendem Schweiß und dem sich zersetzenden Menstruationsblut
       von über 20 Frauen in einer Zelle an. Ein ganzes Jahr lang gibt es keine
       Watte, kein Toilettenpapier, keine Seife. Immerhin gelingt es den Frauen,
       sich einen Bottich Wasser pro Tag zu erkämpfen.
       
       Das Essen besteht meist aus einer dünnen Suppe mit ein paar Kohlblättern
       oder Möhrenstückchen, aber ohne jedes Fett. Nach nur wenigen Monaten sind
       die Frauen nur noch Gerippe und durch die stundenlangen Verhöre, zu denen
       sie meist nachts gerufen werden, apathisch oder hysterisch. Immerhin: nach
       und nach setzt bei allen die Menstruation aus – ein Gestank weniger.
       
       Skarga ist 37 Jahre alt, als sie endlich – zwölf Jahre nach der „Befreiung
       durch die Rote Armee“ – zurück nach Hause darf. Sie ist 65 Jahre alt, als
       sie ihre Erinnerungen aufschreibt. Die Grande Dame der polnischen
       Philosophie, die sich normalerweise mit französischem [4][und deutschem
       Positivismus auseinandersetzt,] schildert Extremsituationen. Gestank und
       verweigerte Hygiene seien ein Mittel der Folter. Mit der Zeit lösten sich
       menschliche Würde und Selbstachtung auf. Die stinkenden Gefangenen begannen
       sich vor sich selbst zu ekeln. Dieses Leitmotiv aus Selbstverachtung, Ekel
       und Gestank zieht sich durch das ganze Buch.
       
       Warum sie eigentlich verhaftet und später als „Faschistin“ und
       „Kollaborateurin mit den Deutschen“ verurteilt wurde, berichtet sie erst
       später. Die konspirative Heimatarmee (Armia Krajowa oder AK), in deren
       Reihen sie gegen die deutschen Besatzer gekämpft hatte, war für die
       russischen Sowjets die „falsche Armee“, da die AK auf den Befehl der
       konservativen polnischen Exilregierung in London hörte. Die „richtige
       Armee“ hingegen war für den russisch-sowjetischen Geheimdienst die
       polnische Volksarmee (Armia Ludowa oder AL), die ebenfalls gegen die
       Deutschen kämpfte, aber auf den Befehl aus Moskau hörte.
       
       ## Das gigantische Gulag-System
       
       Die assoziative Methode Skargas irritiert zu Beginn der Lektüre etwas, da
       nur Anfang und Ende des Buches auch der tatsächlichen Chronik der
       Ereignisse entsprechen, die Autorin sich aber ansonsten bemüht, ihre
       Erinnerungen thematisch zu ordnen. So heißen die Kapitel: „Der Alltag – das
       Gefängnis; Das Hospital; Die Arbeit; Der Alltag – das Lager; Die Liebe;
       Theater und Schauspieler; Budjonowka; Die Grenze.“ Dadurch gibt es kaum
       Wiederholungen, obwohl Skarga in zwei Gefängnissen und mehreren
       Strafarbeitslagern des gigantischen Gulag-Systems einsitzt und am Ende noch
       ihr Leben in einer sibirischen Kolchose fristen muss.
       
       Im Laufe der Lektüre baut sich wie bei einem großen Puzzle die tatsächliche
       Chronologie der Ereignisse zu einem vollständigen Bild auf. Doch das Buch
       endet etwas abrupt am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Medyka–Przemyśl.
       Dabei hätte man gerne noch gelesen, wie die da 37-jährige Skarga ihr Leben
       im nunmehr kommunistischen Nachkriegs-Warschau wiederaufbaut.
       
       Die Stiftung Karta in Warschau geht von rund 570.000 Polen aus, die wie
       Skarga im und nach dem Zweiten Weltkrieg Repressionen des Sowjetregimes
       ausgesetzt waren. „Mein Mann Zygmunt Gluza und ich haben 1987 angefangen,
       das ‚Ost-Archiv‘ aufzubauen“, berichtet Alicja Gluza, sie ist
       stellvertretende Leiterin von Karta. „Die Anfänge waren sehr schwierig.
       Alles war hochgeheim und konspirativ, da es in der realsozialistischen
       Volksrepublik Polen verboten war, die Sowjetverbrechen zu erforschen und
       aufzuarbeiten.“
       
       Gluza zeigt auf eine lange Reihe weiß eingebundener Bände: „Das ist der
       Index der Repressionierten.“ Seit dem politischen Wandel in Polen 1989/1990
       konnten die Gluzas legal arbeiten, später auch Kontakt [5][zur russischen
       Stiftung Memorial] aufnehmen und Zehntausende Einzelschicksale von „im
       Osten verschollenen Polen“ klären. „Natürlich ist der Index inzwischen auch
       digitalisiert und für jeden Interessierten zugänglich“, so Gluza.
       
       „Wir hatten auch mit Barbara Skarga Kontakt.“ Sie geht eine steile
       Wendeltreppe runter und zieht zielsicher ein Buch aus einem der Regale:
       „Hier! Das ist die Erstausgabe von,Nach der Befreiung'.“ Sie macht eine
       weite Armbewegung: „Das hier sind alles Erinnerungen, Memoiren, Tagebücher,
       Briefe und Fotos aus dem Osten. Nicht alle hatten das Glück, den Gulag oder
       die Verbannung nach Sibirien zu überleben.“ Insgesamt seien es 20 Millionen
       Menschen gewesen. Viele seien gestorben. „Wir bewahren hier das Andenken an
       die polnischen Opfer auf“, so Gluza. „Auch das von Barbara Skarga.“
       
       22 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gefaengnisroman-aus-der-Sowjetunion/!5969313
 (DIR) [2] /Nobelpreis-fuer-Literatur-2015/!5237044
 (DIR) [3] /Zum-Tag-der-Befreiung/!5850907
 (DIR) [4] /90-Geburtstag-von-Juergen-Habermas/!5600386
 (DIR) [5] /Auszeichnung-fuer-Memorial-Mitbegruenderin/!6009832
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gabriele Lesser
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Gulag
 (DIR) Polen
 (DIR) Sowjetunion
 (DIR) Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
 (DIR) Stalin
 (DIR) Rezension
 (DIR) Social-Auswahl
 (DIR) Theater
 (DIR) Schwerpunkt Zwei Jahre Krieg in der Ukraine
 (DIR) Faschismus
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Dokumentartheater über die Sowjetzeit: Der Apparat arbeitet weiter
       
       Die russische Theatergruppe KnAM lebt im Exil. Mit „My Little Antarctica“
       erzählte sie beim Berliner Festival FIND vom Leben in Straflagern.
       
 (DIR) Russen und der Krieg in der Ukraine: Wodka und Tränen
       
       Die im Krieg in der Ukraine gestorbenen Soldaten verklärt der Kreml zu
       Helden. Viele Menschen in Russland scheinen gefangen in Gleichgültigkeit
       und Hass.
       
 (DIR) Virginia Cowles „Looking for Trouble“: Auf beiden Seiten gekämpft
       
       Reporterin Virginia Cowles erlebte die Verdüsterung Europas in den 1930er
       Jahren. Ihre brillanten Porträts und Analysen erscheinen erstaunlich
       aktuell.