# taz.de -- 10 Jahre ohne Wehrpflicht: Die Freiwilligenarmee
       
       > Am 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht ausgesetzt. Seitdem gibt es
       > Recruitingkampagnen anstatt der Ladung zur Musterung.
       
 (IMG) Bild: Keine Pflicht mehr: Musterung inklusive ärztlicher Untersuchung
       
       Die Ladung zur Musterung war für Generationen junger Männer ein
       einschneidendes Erlebnis. Der Brief vom Kreiswehrersatzamt mit dem Termin
       und amtlicher Sanktionsdrohung bei Nichterscheinen, die spätere
       Einberufung, [1][im Falle der Kriegsdienstverweigerung] eine bisweilen
       recht zudringliche Anhörung, verdeutlichten vor allem eines: Macht über
       Körper und Zeit. „Bürger in Uniform“ hieß das.
       
       Im Zweifelsfall hatte die Uniform aber Vorrang, es galt das Soldatengesetz.
       Das sich schon seit 1990 ankündigende, dann aber doch recht plötzliche Ende
       der Wehrpflicht vor zehn Jahren war deshalb ein großer Gewinn an
       individueller Freiheit. Die Frage, welchen Zweck die Bundeswehr nach dem
       Kalten Krieg hat, bleibt dabei bis heute seltsam unbeantwortet.
       
       Als der damalige Verteidigungsminister Guttenberg im Mai 2010 bei einer
       Rede an der Führungsakademie [2][der Bundeswehr] in Hamburg eine
       Abschaffung der Wehrpflicht kontemplierte, rührte das am Markenkern von CDU
       und CSU. Von Horst Seehofer bis zu Angela Merkel ging man sofort auf
       Distanz, „als Partei der Bundeswehr“ sage man selbstverständlich ja zur
       Wehrpflicht. Innerhalb weniger Monate drehte sich die Stimmung in der
       Unionsspitze jedoch komplett. Die letzten Wehrpflichtigen der Bundeswehr
       rückten im Januar 2011 ein. Seit dem 1. Juli 2011 ist die Wehrpflicht zwar
       formal nicht abgeschafft, aber ausgesetzt.
       
       Vorgeblich ging es dabei um die Erfüllung von Sparvorgaben. So ist der
       Verteidigungsetat in den vergangenen Jahren „nur“ um mehr als 20 Prozent
       gestiegen. Nicht zuletzt schlagen die Rekrutierungskosten heftig zu Buche.
       Statt muffigen Kreiswehrersatzämtern werben heute generische
       „Karrierecenter“ um den freiwilligen jungen Nachwuchs. Dazu kommen zahllose
       Teilnahmen an Berufsorientierungsmessen, Infoveranstaltungen und Besuchen
       an Schulen. Allein für Werbemittel, Anzeigen und dergleichen werden mehr
       als 30 Millionen Euro im Jahr ausgegeben.
       
       ## Keinerlei Rechtfertigung mehr
       
       Vorausgegangen waren dem abrupten verteidigungspolitischen Wandel von 2011
       zwei Jahrzehnte der Sinnsuche. Mit dem Wegfall des Ostblocks löste sich die
       wichtigste Begründung für eine große stehende Armee inklusive Wehrpflicht
       auf. Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU, 1992–1998) ist eng mit dem
       strategischen Kurswechsel verbunden, von einer reinen Verteidigungsarmee zu
       einem vollwertigen NATO-Partner, inklusive bewaffneter
       „Out-of-area-Einsätze“.
       
       In kleinen Schritten, immer auf Sicht fahrend, begleitet lediglich vom
       Protest der Linkspartei und bis zum endgültigen Einknicken der Grünen 1999
       im Kosovokrieg durch Querschläger von deren linkem Flügel, wurde die
       deutsche Armee fit für den internationalen Kampfjet-Set gemacht.
       
       Die Wehrpflichtigenarmee war so bereits Ende der 1990er nurmehr eine
       Illusion. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer bewegte sich konstant bei
       knapp 150.000 im Jahr. Die sogenannte Wehrgerechtigkeit, also die
       Einberufung aller tauglichen Männer im wehrfähigen Alter, fand sowieso
       mangels Bedarfs schon längst nicht mehr statt. Presseberichte machten die
       Runde über gelangweilte Wehrdienstleistende, die mit offensichtlich
       nutzlosen Tätigkeiten oder gänzlich beschäftigungslos in den Kasernen ihre
       Zeit totschlugen.
       
       Weniger politische, moralische und juristische Auseinandersetzungen,
       sondern alltagspraktische Erfahrung zeigte, dass es keinerlei
       Rechtfertigung mehr dafür gab, halbe Kinder zwangsweise in Uniformen zu
       stecken und ihnen wertvolle Lebenszeit mit der Ausbildung an tödlichen
       Waffen zu stehlen.
       
       ## Der Afghanistaneinsatz der Bundeswehr
       
       Nicht ganz so klar entwickelte sich die generelle Zielvorstellung der
       deutschen Verteidigungspolitik. Als Verteidigungsminister Peter Struck
       (SPD) 2002 erklärte: „Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird
       auch am Hindukusch verteidigt“, war das zwar eine markige
       Zustandsbeschreibung, schließlich ging es um den Afghanistaneinsatz der
       Bundeswehr, aber eben keine nachhaltig begründete Strategie.
       
       Was genau die Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik sind und ob diese
       zwangsläufig mit der Bundeswehr vertreten werden müssen, scheinen seitdem
       alle irgendwie zu wissen, aber bis heute niemand präzise definieren zu
       wollen.
       
       Selbst die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“ der Bundesregierung sind
       eher eine weit auslegungsfähige Stichwortsammlung denn ein
       Grundsatzdokument. Neben sehr vielen Worten zu Verantwortung für Freiheit
       und Menschenrechte ist der vielleicht eindeutigste Punkt in dem Papier das
       Ziel, freie Handelswege und Zugänge zu Rohstoffen zu garantieren.
       
       Der Weg von der unmittelbaren Landesverteidigung hin zu einer Truppe im
       internationalen Einsatz für die Sicherung wirtschaftlicher Interessen ist
       ein so fundamentaler Wechsel, dass der Wegfall der Wehrpflicht rückblickend
       ein wenig wie eine Vermeidungsstrategie wirkt – die Vermeidung einer zu
       offenen, kritischen, die gesamte Gesellschaft betreffenden Diskussion. Der
       2010/11 bereits weitestgehend vollzogene strategische Wandel wurde in
       Guttenbergs Begründung für das Ende des Zwangsdienstes nicht einmal
       sonderlich herausgehoben behandelt. Seitdem hat die Bundeswehr zwar eine
       Menge Einsätze, aber hat sie eigentlich auch einen Auftrag?
       
       ## Ein Spiegel der Gesellschaft
       
       Unter dem langfristigen Paradigmenwechsel haben offenbar auch innere
       Führung und demokratische Zuverlässigkeit der neuen Armee gelitten. Schon
       die ursprüngliche Idee, laut der die Bundeswehr durch die Wehrpflichtigen
       ein Spiegel der Gesellschaft sein sollte und mittels des massenhaften
       Durchlaufs Externer eine unterschwellige zivile Kontrolle der Zeit- und
       Berufssoldaten existierte, war durchaus strittig.
       
       Die Vermutung, dass sich eine Parallelgesellschaft voller Korpsgeist und
       antidemokratischer Gesinnung leichter in der Freiwilligenarmee ausbreitet,
       ist aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die Skandale um
       rechtsradikale Netzwerke im [3][Kommando Spezialkräfte (KSK]) markieren
       dabei nur die berühmte Spitze des Eisbergs. Und einen der seltenen Momente
       von Sichtbarkeit des Militärs in der deutschen Öffentlichkeit neben der
       gelegentlichen Bundestagsdebatte über die Verlängerung konkreter Einsätze
       und dem freundlichen Jugendoffizier beim Schulbesuch.
       
       Der Mangel an öffentlicher Verständigung über den generellen Auftrag der
       Bundeswehr, die Ansprüche an sie und ihre Integration in die Gesellschaft
       ist dabei eine gefährliche Verdrängungsleistung. Junge Menschen zu
       kasernieren und, egal mit welchen Euphemismen man das schönreden will, zum
       Töten auszubilden, bedarf ständiger transparenter Rechtfertigung und
       nachdrücklicher kritischer Überprüfung; unabhängig [4][vom Bestehen einer
       Wehrpflicht.]
       
       Ihre Abschaffung war in diesem Lichte betrachtet keine Zäsur, sondern nur
       pragmatischer Ausdruck des bereits vollzogenen dramatischen Wandels. Ein
       verdruckster Mauerfall in Zeitlupe, der vor aller Augen stattfand, jedoch
       nie hinreichend aufgearbeitet wurde.
       
       1 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Linken-Politiker-ueber-Wehrpflicht/!5693932
 (DIR) [2] /Bundeswehr/!t5008725
 (DIR) [3] /Rechtsextreme-im-KSK/!5693760
 (DIR) [4] /Wiedereinfuehrung-der-Wehrpflicht/!5694240
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniél Kretschmar
       
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