# taz.de -- 55. Biennale von Venedig: Eine große Materialschlacht
       
       > Schick und intelligent ausgedacht, doch oftmals konzeptionell sehr
       > trostlos ausgeführt: Ein Rundgang über die 55. Biennale von Venedig.
       
 (IMG) Bild: Unterhaltsam: Jeremy Deller im britischen Pavillon.
       
       VENEDIG taz | Wie der Titel erwarten lässt, ist Massimiliano Gionis
       zentrale Biennale-Schau „Il Palazzo Enciclopedico“ eine große
       Materialschlacht. Eine Fleißarbeit im Gestus, „und hier hab ich noch ein
       Ass im Ärmel“; noch einen Künstler oder Künstlerin, die ihr neu entdecken
       könnt. Schade nur, dass die Masse des Angebots mit dem Akzent auf einer
       gewöhnlich breiten Präsentation von Outsider Art, das Vergnügen zu schauen
       und zu staunen, die Lust auf den zweiten und dritten Blick peu à peu
       erstickt.
       
       Im Zentralpavillon der Giardini jedenfalls macht der Fortgang des
       Geschehens zunehmend ratlos. Anders im Arsenale, wo der 39-jährige Kurator
       sein enzyklopädisches Anliegen gut umgesetzt hat. Weniger kleinteilig, mit
       großen Installationen und weithin bekannten Künstlern und Künstlerinnen wie
       Dieter Roth, Rosemarie Trockel oder Richard Serra, die schon Klassiker der
       zeitgenössischen Kunst sind und der Outsider Art standhalten.
       
       Denn Letztere heißt wunderbare Bilder, Plastiken und Sammlungen, rasant
       einfallsreich und erfindungsstark im Umgang mit Material, Form und Themen.
       Bestürzend fantasievoll ist der Blick auf die Welt, zugleich aber ebenso
       bestürzend festgelegt, auf ein Schema und seine Variationen.
       
       ## Esoterik und Signature Art
       
       Aufschlussreich dabei: Kunst als Zwangshandlung ist Signature Art
       schlechthin. Jene Kunst, bei der die Handschrift mit dem Künstler auch
       Galeristen, Sammler und Preislage zu erkennen gibt. Vielleicht ist es dies,
       was am Ende ermüdet und viele Zusammenstellungen des Palazzos
       diskreditiert. Was etwa soll den Eigensinn des österreichischen Architekten
       und Bildhauers Walter Pichler mit den esoterischen Anmaßungen Rudolf
       Steiners verbinden?
       
       Überhaupt die Esoterik. Ja, sie ist eine gewaltige Triebkraft bildnerischen
       Schaffens. Und eine fast unüberwindliche Barriere zum Feld der Kunst. Hilma
       af Klint (1862–1944), eine vermeintlich frühe Abstrakte, die derzeit als
       Entdeckung gefeiert wird, sieht in Venedig enttäuschend nach Esoterik aus.
       Ihre gewiss originellen abstrakt-ornamentalen Farbkompositionen sind
       Illustration der okkulten Lehren, denen sie anhing. Ein Weg zu Kandinsky
       ist nirgendwo zu entdecken.
       
       Doch die Gurus und Sektenführer, die C. G. Jungs, Steiners, Alister
       Crowleys einmal beiseitegeschoben: In Gionis Palazzo sind zahllose
       Entdeckungen zu machen, etwa Levi Fisher Ames’ (1843–1923) wundervolle
       Schnitzmenagerie realer und erfundener Tiere. Oder der 1987 geborene
       japanischer Outsider-Künstler Shinichi Sawada, der ähnlich, nur in Ton, die
       liebenswürdigsten, lachhaftesten und anrührendsten Kreaturen erschafft.
       
       Dazwischen fallen jüngere Talente wie Ellen Altfest auf, die mit beinhartem
       Realismus brilliert, oder Künstler in der Mitte ihrer Karriere wie Enrico
       David, dessen Installation aus Wandteppichen, Skulptur und Gemälde die
       Kunst der Inneneinrichtung bis knapp an den Rand ihrer Sakralisierung im
       Altarraum betreibt.
       
       ## Programmatische Entscheidungen
       
       Kunst ist eben – wie jede andere Tätigkeit auch – Arbeit, Training und
       daraus abgeleitete, programmatische Entscheidungen. Die Antwort auf die
       Frage etwa, wann es genug und die Arbeit fertig ist, ist eine zentrale
       Anforderung an die künstlerischer Intelligenz. Sarah Sze im Pavillon der
       USA macht da keine gute Figur. Ihre überbordenden, dreidimensionalen
       Materialcollagen finden kein Ende und zeigen dabei vor allem eines: dass
       sich alles mit allem verbinden lässt. Was sie sonst noch bedeuten, steht
       leider nur dem auf Papier.
       
       Überwältigung ist auch die Strategie von Anri Sala im
       Französischen/Deutschen Pavillon, an dem das Beste der überraschende Umbau
       des Innenraums ist. Eine neue kreisförmige Architektur ermöglicht Sala die
       optimale Präsentation drei aufeinander Bezug nehmender Projektionen.
       Welcher künstlerische Mehrwert freilich in der videodokumentierten
       Zerlegung und gleichzeitigen Feier von Ravels „Piano Concerto for the Left
       Hand in D Major“ von 1930 liegen soll, erschließt sich nun wirklich nicht.
       
       Der deutsch-französische Pavillontausch ist so vor allem gut gemeint. Auch
       die transnationale Auswahl der deutschen Kuratorin Susanne Gaensheimer –
       sie zeigt komplexe Werke von Ai Weiwei, Dayanita Singh, Santu Mofokeng und
       Romuald Karmakar – wirkt konzeptionell willkürlich. 
       
       Und sonst? Mathias Poledna im Österreichischen Pavillon will mit seinem
       drei Minuten langen Zeichentrickfilm „Imitation of Life“ wohl Walt Disney
       neu erfinden. Wie der Künstler erklärt, soll der Film ein Gegenlesen von
       europäischer Kunst und nordamerikanischer Massenkultur ermöglichen. Er tut
       es aber nicht, weil er viel zu sehr von Disney und der Originalmusik von
       1930 lebt.
       
       ## Flüssige Dramaturgie im Britischen Pavillon
       
       Wirklich unterhaltsam, aus eigener und nicht geliehener oder abgeleiteter
       Kraft, ist Jeremy Deller im Britischen Pavillon. Dabei profitiert er wie so
       oft durchaus von der Mitarbeit seiner Landsleute. Jetzt steuern die
       Insassen der Gefängnisse Ihrer Majestät Everthorpe, Shotts und Parc selbst
       gezeichnete Porträts englischer Politiker bei. Bei Deller kommt vieles
       zusammen. William Morris versenkt Roman Abramovichs 100-Millionen-Yacht,
       David Bowie geht auf Ziggy-Stardust-Tournee. Doch egal ob Deller einen
       gefährdeten Raubvogel ins Spiel bringt oder Videos vorangegangener Aktionen
       zeigt, seine Dramaturgie ist flüssig. Man versteht an jedem Punkt des
       Geschehens, worum es (ihm) in „English Magic“ geht.
       
       Das scheint nun auch im Russischen Pavillon, den Udo Kittelmann, der Leiter
       der Berliner Nationalgalerie, kuratiert hat, ganz einfach zu sein.
       „Gentlemen, the time has come to confess our Rudeness, Lust, Narcissism,
       Demagoguery, Falsehood“ etc. pp., lautet die Ansage von Vadim Zakharov im
       ersten Stock des Pavillons, der ebendiesen Gentlemen vorbehalten ist. Die
       Frauen haben das Erdgeschoss und Regenschirme, die sie gegen die harten,
       goldenen Münzen schützen, die von oben, wo die Männer herrschen, auf sie
       niederregnen. Gespielt wird die antike Sage von Danae.
       
       Ausrichterin und Sponsorin ist Stella Kesaeva, auf die das Geld ihres
       Oligarchengatten niedergeht. Nun ja. So kommt der Moskauer Konzeptualismus,
       den Zakharov einst mitbegründete, auf den Hund. Schick und intelligent, was
       die formale Ausführung, trostlos, was das harmlose Konzept betrifft.
       
       ## Kein Highlight
       
       Ein Highlight nach Art des Polnischen Pavillons bei der letzten Biennale
       ist nirgendwo in Sicht. Vor allem nicht im Polnischen Pavillon, wo Konrad
       Smolenski die Kirchenglocken läuten lässt. Im polnischen Kontext klingt das
       vor allem katholisch.
       
       Ohne jedes Material und Medium, abgesehen vom menschlichen Körper, kommt
       Rumänen aus und zeigt doch alles, was es jemals auf der Biennale gab. Mit
       der „Immateriellen Retrospektive der Biennale von Venedig“ stellt eine
       Gruppe junger Kunstleute um die Performancekünstler Alexandra Pirici und
       Manuel Pelmus Kunstwerke nach, die seit 1895 bis heute auf der Biennale zu
       sehen waren.
       
       Auch und ganz bestimmt ein Palazzo Enciclopedico, von vornherein auf der
       Metaebene gebaut. Besonders hübsch und perfide dort, wo die Truppe „This Is
       So Contemporary“ wiederaufführt, die Performance, mit der Tino Sehgal 2005
       im Deutschen Pavillon vertreten war. Aber Pirici/Pelmus reflektieren und
       reagieren auch auf ihre eigene Situation, sie stellen die prekäre
       ökonomische Lage in Rumänien zur Diskussion, wobei der Reichtum der
       Imagination nicht als Antwort, sondern als Provokation zu verstehen ist.
       Der beste Pavillon einer doch gelungenen Biennale.
       
       ## ■ von Venedig, 1. Juni bis 24. November
       
       2 Jun 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Brigitte Werneburg
       
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