# taz.de -- Ampelkoalition und Kulturkampf: Weg mit dem Diskursmüll!
       
       > Ist das Tempolimit ein Angriff auf die Freiheit? Mit einem Ampelbündnis
       > besteht die große Chance, dass in die Debatte über Klimaschutz mehr
       > Vernunft einzieht.
       
 (IMG) Bild: Reichstagspoesie: Eine Ampel kann im besten Fall das Ende von Büllerbü bedeuten
       
       [1][Eine Ampelkoalition] kann im besten Fall das Ende von Bullerbü
       bedeuten, und das wäre eine wirklich großartige Nachricht. Bullerbü ist ja
       nicht nur das von Astrid Lindgren erdachte Kinderbuchidyll in Südschweden.
       Drei Bauernhöfe, glückliche Kinder, Apfelbäume im Garten, Kornblumen.
       
       Nein, Bullerbü ist auch eine Chiffre, mit der Klimaschutzpolitik in
       Deutschland seit Jahren als Kulturkampf inszeniert wird. Sie wird
       verächtlich verwendet, herablassend und mit der Absicht zu diskreditieren.
       Und die Rollen sind klar verteilt. Die Bullerbü-Fans, das sind die
       Fortschrittsverweigerer, gerne Grüne, Fridays-for-Future-AktivistInnen oder
       andere ökologisch Bewegte.
       
       [2][FDP-Chef Christian Lindner lästerte im Wahlkampf] bei jeder Gelegenheit
       über das „Lastenrad-Bullerbü der Grünen“. Die Sozialdemokratin Franziska
       Giffey verdichtete ihre Autos-first-Politik in dem Satz, Berlin sei halt
       nicht Bullerbü. Und Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), die der
       Agrarindustrielobby hilft, wo sie kann, kanzelte KritikerInnen mit der
       Ansage ab, jene hingen romantisierenden „Bullerbü-Vorstellungen“ an.
       
       Mit diesem Unfug könnte bald Schluss sein, der Ampel sei Dank. Das Bündnis,
       das von SPD, Grünen und FDP verhandelt wird, ist in mehrfacher Hinsicht der
       Beginn einer neuen Ära. Nicht nur, dass es nach 16 Jahren die Hegemonie von
       CDU und CSU bricht (mit Folgen, die bisher nur in Ansätzen erörtert
       wurden), dass erstmals seit Adenauer drei Parteien zusammenarbeiten und das
       Ende der Volkspartei-Ära damit endgültig besiegeln.
       
       Die neue Koalition hat auch das Zeug dazu, den Diskurs über Klimaschutz vom
       Kopf auf die Füße zu stellen. Sie könnte den Scheingegensatz Vernunft vs.
       Bullerbü, der in deutschen Diskussionen an anderer Stelle gerne auch anders
       formuliert auftaucht, endlich ad acta legen. Weg von identitätspolitisch
       aufgeladenen Scheindebatten, hin zum Notwendigen, wenn das gelänge, hätte
       sich die Ampel allein dafür gelohnt. In Deutschland wurde ja eine zutiefst
       materielle Frage, nämlich die, wie die Erde für die Menschheit lebenswert
       zu erhalten ist, vor allem moralisch diskutiert.
       
       ## Nackensteak statt Gemüsebratling
       
       Beispiele? Bitte schön. Hier die vermeintliche Freiheit, dort die linke
       Verbotsideologie. Hier Wachstum, Wohlstand und Glück, dort grauer Verzicht.
       Oder, lebensweltlich auf den Alltag heruntergebrochen, weil sich dann alle
       so schön gruseln: Freie Fahrt für freie Bürger statt Tempolimit,
       Nackensteak statt Gemüsebratling, Kurztrip nach Mallorca statt nach
       Niedersachsen. Solche in groben Strichen gezeichneten Zerrbilder markierten
       in etwa das Niveau des Mainstreamdiskurses.
       
       Mit Folgen natürlich. Denn wer lässt sich schon von miesepetrigen
       Verbotshanseln das Steak vom Grill klauen? Klimaschutz gilt vielen
       BürgerInnen in Deutschland bis heute wahlweise als Bedrohung des guten
       Lebensstils, als nerviger Kostentreiber oder als Besserverdienerfetisch,
       den sich Leute mit wenig Geld nicht leisten können. Wer dafür wirbt, ist
       der Spielverderber, der den Deutschen etwas wegnehmen will.
       
       Annalena Baerbock hat das in diesem Wahlkampf zu spüren bekommen. Sie ist
       nicht an Kleinigkeiten wie Lebenslauf oder Copy-and-paste gescheitert,
       sondern an der Tatsache, dass den Deutschen zu viel ökologische Veränderung
       unheimlich war. Die Gesellschaft war nicht „bereit, weil ihr es seid“ – und
       dafür ist auch der öde Kulturkampf verantwortlich, der in Wirklichkeit
       keiner ist.
       
       FDP, Grüne und ihre WählerInnenmilieus stehen sich dabei als Antipoden
       gegenüber, die zum Klischee geronnen sind. Die einen rasen angeblich mit
       dem Porsche über die Avus, die Champagnerkiste auf dem Beifahrersitz. Die
       anderen fahren mit dem SUV vor dem Biomarkt vor. Solche Feindbilder lassen
       sich herrlich pflegen, auch von uns JournalistInnen, sie taugen für
       Aufmerksamkeit und Klicks.
       
       Mit der neuen Regierung könnte eine neue Nüchternheit einziehen. Ein
       genauerer Blick auf die Wirklichkeit, auf das Nötige und auf echte
       Differenzen. Simple Schablonen lassen sich nicht mehr aufrechterhalten,
       wenn sich Christian Lindner mit Annalena Baerbock ganz real über das
       deutsche CO2-Restbudget beugen muss. Dann gilt es nämlich zu schauen, wo
       noch wie viel CO2 eingespart werden kann. Und jede Tonne zählt, was das
       Tempolimit vielleicht in neuem Licht erscheinen lässt. Dieser Zwang zur
       Kooperation wird in den öffentlichen Diskurs ausstrahlen.
       
       Es bringt nichts, die eigenen Leute auf die anderen zu hetzen, wenn man mit
       denen etwas hinkriegen will. Allein das wäre ein großes Glück. Kulturkämpfe
       richten immensen Schaden an, indem sie vom Eigentlichen ablenken und auf
       unwichtige Nebenpfade führen. Ein Beispiel ist das ewige Framing von
       ökologisch sinnvollen Gesetzesänderungen als Verbotsideologie.
       
       Sind Verbote des Teufels oder notwendig? Man kann diesen Quatsch ja
       wirklich nicht mehr hören, aber solche Bullshit-Debatten haben uns in der
       Vergangenheit monatelang beschäftigt. Oft wurde auf Pappkameraden
       eingedroschen, auch Christian Lindner warnte vor Verboten, die keiner
       gefordert hatte, schon gar nicht die Grünen, denen stets die Angst vor dem
       Verbotspartei-Label in Robert Habecks Hemdkragen sitzt. Solche Debatten
       verkleistern die Wirklichkeit. Denn wenn Lindner gegen ein imaginiertes
       Schnitzelverbot wettert, Olaf Scholz herzhaft in eine Bratwurst beißt und
       selbst Anton Hofreiter im taz-Interview beteuert, jeder könne so oft
       Schweinebraten essen und nach Mallorca fliegen, wie er wolle, warum sollte
       dann irgendein normaler Mensch auf die Idee kommen, dass grundstürzende
       Veränderungen anstehen?
       
       Solche Schönfärberei könnte die neue Regierung in Zukunft beenden. Die im
       Kern unglaublich vulgäre Idee, ungebremster Fleischkonsum/freies
       Rasen/Billigflüge seien ein unabdingbares Freiheitsrecht, lässt sich nur
       dann vertreten, wenn CO2-Ausstoß keine Rolle spielt – und fossile Energie
       unbegrenzt zur Verfügung steht.
       
       ## Die Grünen haben es bereits verstanden
       
       Beides ist aber in der nächsten Legislaturperiode nicht nur nicht mehr der
       Fall (die Gaskrise lässt grüßen!), es ist schlicht nicht mehr erlaubt. Die
       neue Regierung wird die erste sein, die klimapolitisch in einem harten
       Rahmen verhandelt, juristisch und politisch. Das Verfassungsgericht hat im
       April keinen Zweifel daran gelassen, dass Klimaschutz zum Schutz kommender
       Generationen verpflichtend ist. Nicht ungebremster Konsum ist Freiheit,
       sondern engagierter Klimaschutz, das ist die kategoriale Umdeutung, die die
       Richter vornahmen. Denn nur er sichert kommenden Generationen die
       Spielräume, frei zu entscheiden.
       
       Das Klimaschutzgesetz, das die Große Koalition nach dem Richterspruch neu
       formuliert und beschlossen hat, übersetzt diese Zielsetzung in Politik. Das
       ist also der Rahmen: Die Ampelkoalition ist dazu verpflichtet, engagierten
       Klimaschutz zu liefern, manche werden finden: dazu verdammt.
       
       Die Grünen haben das bereits verstanden. Bei Lindners FDP und auch der SPD
       von Olaf Scholz ist man sich da nicht so sicher. Ihnen – oder zumindest
       relevanten Teilen der Parteien – steht ein Clash mit der Realität bevor.
       Die FDP hat im Wahlkampf die Volte vorgeführt, einerseits die massivste
       Verteuerung fossiler Energien aller Parteien zu fordern – und in der
       ersten, zaghaften Debatte darüber nach einer Benzinpreisbremse zu rufen.
       Die Scholz-SPD agierte ähnlich widersprüchlich. Solche Taschenspielertricks
       gehen in der Regierung nicht mehr.
       
       ## Kann die Ampel soziale Wuchten austarieren?
       
       Zurück zu Bullerbü. Die drei Bauernhöfe in Südschweden sind auch deshalb
       eine heile Welt, weil sie eine nivellierte Gesellschaft zeigen. Alle haben
       Arbeit oder eine Aufgabe, es gibt keine Existenzangst, die Solidarität
       untereinander ist hoch. So gesehen täte der deutschen Gesellschaft ein
       bisschen mehr Bullerbü gut. Die Vermögensungleichheit ist hierzulande
       grotesk hoch, Pflegekräfte verdienen immer noch viel zu wenig, das
       Hartz-IV-System, das auf schwarze Pädagogik und Zwang setzt, gehört
       abgeschafft.
       
       Die große Frage ist, ob die Ampel soziale Unwuchten austarieren kann, was
       neben Klimaschutz die zweite große Aufgabe ist – und hier ist Skepsis
       angebracht. Von diesen drei Parteien wird man zum Beispiel keine fairere
       Reichtumsverteilung erwarten dürfen. Die von SPD und Grünen geforderte
       Vermögensteuer stirbt den schnellen Heldinnentod, und die FDP wird darauf
       bestehen, über die Soli-Abschaffung sehr Wohlhabende weiter zu begünstigen.
       
       Wie nah sich FDP und Grüne beim Klimaschutz im Glauben an neue Technologien
       sind, oder darin, dass harte Preispolitik hilfreich ist, wird sich schnell
       zeigen. Aber was ist mit armen Menschen? Der höhere Mindestlohn, den Olaf
       Scholz durchsetzen muss, wenn er sich nicht komplett zum Horst machen will,
       ist ja kein Wundermittel. In ihrer Aufbruchseuphorie könnten Grüne und FDP
       den unteren Rand vergessen, und ob die SPD dies austariert, ist offen.
       Scholz hat auch eher die arbeitende Mittelschicht im Blick als die
       erschöpfte Langzeitarbeitslose.
       
       Das Bündnis von SPD, Grünen und FDP wird daran gemessen werden, wie viele
       Kohlendioxidmoleküle von deutschem Boden aus noch in der Atmosphäre landen.
       Aber auch daran, dass es kein Bündnis der BalkonklatscherInnen wird.
       
       11 Oct 2021
       
       ## LINKS
       
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