# taz.de -- Ausbeutung bei Lieferdiensten: Die falsche Freiheit
       
       > Digitale Lieferdienste stehen für ein Arbeitsprinzip, das sich immer mehr
       > ausbreitet. Die Auftragsvergabe durch Algorithmen macht die Menschen
       > einsam.
       
 (IMG) Bild: Gehetzt vom Algorithmus: Fahrradkurier unterwegs
       
       Dieser Text muss mit einem Eingeständnis beginnen: Die Missstände, die ich
       beklage, wurden auch durch mich herbeigeführt. Ich war bislang nicht Teil
       der Lösung, sondern eher des Problems: Lieferdienste für Essen oder
       Lebensmittellieferungen innerhalb von zehn Minuten – Apps, die mir diese
       Dienste ermöglichen, sind auch auf meinem Handy installiert. Wenn ich
       Sonntagabend auf dem Sofa liege und zu faul zum Kochen bin, bestelle ich
       schon mal Essen. Statt noch mal zum Supermarkt zu gehen, lasse ich mir die
       Lebensmittel liefern.
       
       Damit bin ich in meiner Generation nicht allein. Wir sind es gewöhnt, eine
       Vielzahl an digitalen Dienstleistungen rund um die Uhr zur Verfügung zu
       haben. Nur die wenigsten fragen sich dabei, was das eigentlich mit unserer
       Gesellschaft macht.
       
       In letzter Zeit wurde oft über die schlechten Arbeitsbedingungen der
       Kurierfahrer*innen diskutiert. Beim Lebensmittellieferdienst
       [1][Gorillas] streiken die Fahrer*innen mittlerweile fast täglich. Der
       Versuch der Gründung eines Betriebsrats wurde von der Geschäftsführung
       torpediert. Ein Schema, das man bereits von anderen digitalen Unternehmen
       kennt: Arbeitnehmer*innenrechte werden dort möglichst schnell und
       effektiv bekämpft.
       
       Doch hinter diesen Konflikten steckt mehr als nur der klassische
       [2][Arbeitskampf]: Es geht um ein neues Prinzip des Wirtschaftens. Die
       schlechte Behandlung der Arbeitnehmer*innen ist nicht der singuläre
       Ausfall einer Geschäftsführung. Es ist ein neues digitales Arbeitssystem,
       das hier installiert wird und das sich auf immer neue Bereiche der
       Wirtschaft ausdehnen wird, wenn wir nicht schnell reagieren.
       
       ## Bewusst herbeigeführte Einsamkeit
       
       Nun ist die [3][Ausbeutung] der Arbeitnehmer*innen kein neues
       Phänomen. Sie ist so alt wie der Kapitalismus selbst. Heute haben sich
       allerdings einige Grundpfeiler verschoben. Im digitalen Kapitalismus sind
       der Markt und das Unternehmen oft identisch. Nehmen wir etwa Amazon: Hier
       werden die Kund*innen systematisch an proprietäre Märkte gebunden.
       Während es im Fordismus um die effiziente Nutzung von Arbeitskraft ging,
       geht es in der digitalen Wirtschaft darum, selbst der Markt zu sein.
       
       Das erklärt auch die unfassbaren Summen, die diesen jungen Unternehmen zur
       Verfügung stehen. Gorillas wurde zuletzt mit über einer Milliarde Euro
       bewertet. Entsteht ein neuer Markt, wird dort viel Geld hinein gepumpt,
       damit das Unternehmen sehr schnell selbst zum Markt wird. Aggressivität
       lässt dabei den Shareholder Value steigen. Frei nach dem früheren Facebook-
       Motto: „Beweg dich schnell und mach Sachen kaputt“.
       
       Doch im Digitalen haben sich auch die Arbeitsbedingungen verändert. Die
       Lieferdienste bieten erstmals vollständig per Algorithmus gesteuerte Jobs
       an. Die Fahrer*innen melden sich in der App an, der Algorithmus erteilt
       die Aufträge – die Entmenschlichung der Arbeitswelt. Während auf den
       Werbeprospekten mit Worten wie „Team“ und „Community“ geworben wird, bieten
       diese Unternehmen vor allem eins: Einsamkeit.
       
       Eine Einsamkeit, die sehr bewusst herbeigeführt wird. Alles, was
       Gemeinsamkeit schafft, alles, wo Menschen zusammenkommen, erzeugt Reibung.
       Und Reibung ist Sand im Getriebe der digitalen Lieferdienste. Konzerne
       versuchen so, eine in Gänze singularisierte Arbeitsumgebung zu schaffen.
       Ein Mitspracherecht gibt es in diesem System nicht mehr – mit Algorithmen
       lässt sich auch schwer diskutieren. Nichts stört die Effektivität und den
       Gewinn des Unternehmens.
       
       ## Soziale Marktwirtschaft geht anders
       
       Die Steuerung von Arbeitnehmer:innen per Algorithmus ist ein Prinzip,
       das sich immer tiefer in unsere Arbeitswelt einschleicht; die Lieferdienste
       sind nur die Speerspitze dieser neuen Bewegung. Viele
       Bankberater*innen füttern den Algorithmus nur noch mit Daten. Selbst
       die Polizei wird in einigen Ländern mittlerweile vom Algorithmus gesteuert,
       indem dieser sagt, wo in der Stadt es sich lohnt, hinzufahren.
       
       Am Beispiel der Lieferdienste lässt sich noch eine zweite bedenkliche
       Entwicklung beobachten: Wir rutschen ins Zeitalter des überwachungs- und
       bewertungsgetriebenen Arbeitens. Die Kurierfahrer*innen sind während
       ihrer Arbeit dauerhaft überwacht. Es wird mitgeschnitten, wo sie hinfahren,
       wie ihre Kommunikation abläuft, es wird Buch darüber geführt, wie viele
       Auslieferungen geschafft werden.
       
       Am Ende bewertet die Kundschaft die Leistung. Ist man mal unfreundlich,
       steckt man im Stau oder bringt kaltes Essen, gibt es eine negative
       Bewertung. Dabei ist die Bewertungslogik besonders perfide: Kund*innen
       haben alle Rechte, die Lieferant*innen keine. Wenn die Leistung nicht
       mehr stimmt, ist der/die Einzelne schnell austauschbar – auch für die
       sogenannte Community.
       
       Was uns als große „Freiheit“ verkauft wird, ist in Wirklichkeit das genaue
       Gegenteil. Hinter Werbe-Versprechen wie dem einer zwanglosen Community
       steckt vor allem die Ablehnung staatlicher Regulierung: Der Vorrang der
       Ökonomie vor der Politik. Es ist eine spätkapitalistisch-digitale
       Traumwelt, die immer weiter fortschreitet. Doch wollen wir Freiheit
       wirklich so für uns definieren?
       
       Es wird Zeit, dass wir uns als Gesellschaft gegen diese Prinzipien wehren.
       Wenn wir uns vom blendenden Freiheitsversprechen lösen, ist eine politische
       Regulierung auch möglich. In Spanien müssen die Unternehmen beispielsweise
       den Gewerkschaften den Code für die Algorithmen zur Verfügung stellen, um
       mehr Transparenz für die Kuriere zu schaffen. Wir brauchen auch
       Verpflichtungen der Unternehmen auf feste Ansprechpersonen. Wir müssen
       Genossenschaftsmodelle fördern, in denen Fahrer*innen sich selbst
       organisieren. Und wir müssen der permanenten Überwachung klare Grenzen
       setzen.
       
       Wenn wir diese Schritte jetzt nicht gehen, dann etablieren wir ein Prinzip
       in unserer Wirtschaft, das mit einer sozialen Marktwirtschaft nur noch
       wenig zu tun hat.
       
       12 Jul 2021
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Yannick Haan
       
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