# taz.de -- Avni Doshis Roman „Burnt Sugar“: Unter emotionaler Dauerspannung
       
       > Gibt es dafür eine angemessene Sprache? Avni Doshis Debütroman „Burnt
       > Sugar“ erzählt von einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung.
       
 (IMG) Bild: Mütter können die seltsamsten Wesen bleiben, die wir treffen, schrieb Marguerite Duras einmal
       
       I would be lying if I said my mother's misery has never given me pleasure.“
       – „Zu sagen, dass das Elend meiner Mutter mich nie gefreut hat, wäre eine
       Lüge.“ Ich wünschte, ich könnte solche ersten Sätze schreiben. Das
       Eingangsstatement der Ich-Erzählerin in Avni Doshis Debütroman „Burnt
       Sugar“ ist wie ein Paukenschlag. Und was er einläutet, ist ein
       literarischer Tabubruch: Wie kann ein Buch umgehen mit der Hassliebe zu
       einer schlechten Mutter?
       
       Der bisher nur auf Englisch erschienene und für den renommierten britischen
       Booker-Preis nominierte Roman spielt in der westindischen Metropole Pune.
       Die Künstlerin Antara ist frisch verheiratet, als ihre Mutter Tara beginnt,
       dement zu werden.
       
       Der Gedächtnisverlust ihrer Mutter ist für die Tochter Anlass, sich an die
       turbulente gemeinsame Vergangenheit zu erinnern: Als kleines Mädchen nimmt
       ihre Mutter sie mit in den Ashram eines Sektenführers (angelehnt an Bhagwan
       Shree Rajneesh, Gegenstand der Netflix-Dokuserie „Wild Wild Country“). Dort
       ist das Kind sich selbst überlassen.
       
       Während Tara ihrer Beziehung zum Guru „Baba“ nachgeht, verwahrlost Antara.
       Mit sieben Jahren kann sie weder schreiben noch sich auf eine fürsorgliche
       oder auch nur okaye Mutter verlassen. Den Absprung schafft das Duo erst,
       als Baba eine neue, jüngere Bettgenossin erkürt. Doch die Odyssee des Kinds
       setzt sich fort, weg von der depressiven Mutter schicken ihre Großeltern
       sie in ein katholisches Internat, wo sie wieder misshandelt und als „dirty
       Hindu“ beschimpft wird.
       
       So messy die Geschichte zwischen Mutter und Tocher ist, so nüchtern ist
       Antaras Blick auf die Welt und ihre verfallenden Bewohner, auf „the aged
       Parsi spinster with marshmallow arms“, „stray dogs … with mangled paws and
       chewed ears“ und auf ihren eigenen Körper, „resembling an overripe pear“.
       
       ## Scharfzüngige Gedanken
       
       Die Erzählerin hält die Welt mit ihrer Schonungslosigkeit auf Distanz. Als
       Mittdreißigigjährige verbringt sie ihre Zeit damit, jahrelange dasselbe
       Foto zu kopieren und ihre scharfzüngigen Gedanken für sich zu behalten –
       „for fear of sounding careless with words“.
       
       Manchmal zeitigt dieser innere Monolog einen sehr komischen Effekt, etwa
       wenn sie die Begegnung eines befreundeten Paares mit ihrer Mutter
       beschreibt: „A bisexual, a power-monger and a demented lady walk into a
       bar.“ Doch farblos bleibt etwa die Beziehung zwischen Antara und ihrem
       namenlosen Mann; die Schilderungen ihres Middle-Class-Lebens zwischen dem
       seit Kolonialzeiten bestehendem Social Club, Kokspartys und den nonchalant
       mitgemeinten Hausangestellten gehören zu den schwächeren Passagen des
       Buchs.
       
       Männer sind in „Burnt Sugar“ ohnehin bloße Randfiguren, im Zentrum steht
       die ambivalente Beziehung zwischen Mutter und Tochter.
       
       ## Mütter sind seltsam
       
       Die steht unter dauerhafter emotionaler Spannung – und droht ständig zu
       explodieren. „Unsere Mütter“, schrieb die Schriftstellerin [1][Marguerite
       Duras] einmal, „werden immer die seltsamsten, verrücktesten Menschen
       bleiben, die wir jemals getroffen haben.“
       
       „Burnt Sugar“ ist über die konkret abgebildete toxischen Beziehung hinaus
       eine Studie dieser universalen Sprengkraft von Mutter-Kind-Beziehungen.
       Jeder Konflikt, jedes Problem mit der eigenen Mutter bedrohe das Ich mit
       der Selbstauflösung, beschreibt das Doshi. In einem Essay für Harpers
       Bazaar India zweifelte sie daran, jemals Kinder haben zu wollen.
       Kritiker*innen stellten das Buch bereits in eine Reihe mit großen
       Mutterschaftsversuchen wie Sheila Hetis „Motherhood“ und [2][Rachel Cusks]
       „Aftermath“.
       
       Tara ist objektiv betrachtet eine schlechte Mutter, sie schlägt ihr Kind,
       erniedrigt sie und lässt sie physisch und psychisch verkümmern. Antara
       ihrerseits hintergeht ihre Mutter über Jahre. Als sich deren Zustand
       vorübergehend verbessert, sabotiert sie gar den gesundheitlichen
       Fortschritt. Doch da ist auch die Sorgearbeit, die Antara leistet, und die
       Erinnerung an lichtere Momente, die vertraute Präsenz des mütterlichen
       Körpers, die Gerichte, die Tara meisterhaft zubereitete.
       
       ## Erinnerung ist ein geteiltes Projekt
       
       „Dies ist eine Liebesgeschichte und eine Geschichte des Betrugs“, heißt es
       in der Begründung der Booker-Preis-Jury, auf dessen Shortlist das Buch
       steht. „Aber nicht zwischen Liebenden – zwischen Mutter und Tochter.“ Die
       beiden Frauen können nicht voneinander lassen, auch wenn die mentalen
       Irrwege der Mutter den töchterlichen Zugriff auf die Realität zunehmend
       gefährden.
       
       Erinnerung, demonstriert Doshi eindrucksvoll, ist immer ein geteiltes
       Projekt. Da, wo Antara vermutet, dass ihre Mutter „is leaking, all over and
       from everywhere“, wirkt ihre Umnachtung ansteckend. „Burnt Sugar“ ist auch
       ein Roman noir, in dem zwei zynische Antiheldinnen die Leserin auf ein
       Verwirrspiel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit mitnehmen. Spielt
       Tara ihre Erkrankung nur vor? Hat Antara tatsächlich eine innovative
       Heilung für Alzheimer entdeckt? Können wir der Perspektive der Tochter
       wirklich vertrauen?
       
       Am Ende schließt sich der Kreis. Antara wird selbst Mutter und fantasiert,
       postnatal depressiv, zwischen knallharten Beobachtungen ihrer
       dysfunktionalen Patchworkfamilie darüber, ihre Tochter aus dem Fenster zu
       stürzen. Tara und Antara stehen auf derselben Seite, als Frauen, deren Wert
       in ihrer unweigerlich verfallenden jugendlichen Schönheit liegt, als
       Mütter, die liebende Eltern, Ehefrauen und Gastgeberinnen sein sollten und
       doch nicht können. Und als verlassene Geliebte desselben Mannes.
       
       ## Acht Entwürfe in sieben Jahren
       
       Noch schmerzhafter, als eine schlechte Mutter zu haben, ist die Angst
       davor, so zu werden wie sie. Dass sich die Beziehung der beiden Frauen auf
       diese Weise, wenn nicht in Wohlgefallen, so doch in analoges Leid auflöst,
       ist etwas schade.
       
       Schuld an dieser gleichnishaften Abgeschlossenheit könnte der
       Entstehungsprozess des Buchs sein: Nachdem Doshi 2013 für ihr Manuskript
       den britischen Tibor-Jones-Preis erhielt, ordnete ihre Agentur umfassende
       Überarbeitungen an. Das Ergebnis: acht unterschiedliche Entwürfe in sieben
       Jahren. „It was a big mess“, so Doshi.
       
       Ein Glück, dass auch die etwas zu geglättete Endversion so viel Scheiße zu
       bieten hat – buchstäblich. „Burnt Sugar“ ist voll von Körperfunktionen, von
       Durchfall und Erschöpfung, von Schweißausbrüchen und tropfenden Brüsten. „I
       always smell like milk now“, erklärt Antara gegen Ende der Erzählung. „Like
       milk, shit and vomit.“ Mutter und Tochter sind nun beide „leaking out“.
       Doshi trägt den schlampigen Körper, die unkontrollierbare Physis in die
       Literatur.
       
       Ob die in Dubai lebende Autorin dafür mit dem Booker-Preis geehrt wird,
       entscheidet sich am 19. November.
       
       13 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
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