# taz.de -- Berlinale-Regisseur über Autobiografie: „Es war wichtig, Grenzen zu setzen“
       
       > Auf der Berlinale präsentiert Faraz Shariat seinen Film „Futur Drei“. Ein
       > Gespräch über autofiktionales Erzählen, Musikvideo-Ästhetik und den Iran.
       
 (IMG) Bild: Erzählt eine autofiktionalisierte Biografie mit seinem Film: Regisseur Faraz Shariat
       
       Parvis (gespielt von Benjamin Radjaipour) wächst als unbekümmertes Kind
       iranischer Eltern in Hildesheim auf. Dem Provinzleben entgeht er durch
       Partys und Grindr-Dates. In einer Geflüchtetenunterkunft, wo er
       Sozialstunden ableistet, verliebt er sich in Amon (Eidin Jalali), der mit
       seiner Schwester Banafshe (Banafshe Hourmazdi) nach Deutschland gekommen
       ist. Hier vereinen sich die Perspektiven junger Menschen aus einer ersten
       und zweiten Generation von Migrant*innen mit ihren unterschiedlichen
       Erfahrungen und Chancen. „Futur Drei“, das Spielfilmdebüt des Regisseurs
       Faraz Shariat, wurde bereits mit dem Nachwuchsfilmpreis „First Steps“
       ausgezeichnet und feiert nun auf der Berlinale seine Weltpremiere. 
       
       taz: Herr Shariat, Ihr Debüt „Futur Drei“ feiert auf der Berlinale seine
       Weltpremiere. Das Drehbuch dazu ist im Kollektiv entstanden, gleichzeitig
       wird der Film als autobiografisches Werk beworben. Wie viel von Ihnen
       steckt denn in der Figur Parvis – ein queerer junger Mann, der in zweiter
       Generation in Deutschland lebt? 
       
       Faraz Shariat: Ich kann mich auf jeden Fall sehr gut mit der Figur
       identifizieren. Schon beim Schreiben stellte sich mir die Frage, wo ich
       mich gesehen fühlen würde, wenn ich einen Film schaue – wo ich das Gefühl
       hätte, dass verschiedene Lebensrealitäten zusammenkommen, die mir nahe sind
       und die ich so noch nicht auf der Leinwand gesehen habe. Ich würde aber
       sagen, dass es für die Arbeit an der Geschichte wichtig war, die
       Unterschiede zwischen Parvis und mir aufzuschlüsseln, um die Figur
       überhaupt transportierbar zu machen.
       
       Also ist die Geschichte eher autofiktional als autobiografisch? 
       
       Genau, wir haben oft von autofiktionalisierter Biografie gesprochen. Der
       Ausgangspunkt war auf jeden Fall, in der eigenen Biografie zu suchen und
       dabei Dokumente zu finden, mit denen man arbeiten konnte. Gleichzeitig
       haben wir die Notwendigkeit gespürt, fiktionalisieren zu müssen.
       
       Was für Dokumente waren das? 
       
       Ich habe von meinem Vater circa 40 Stunden Videomaterial mit Aufzeichnungen
       aus meiner Kindheit in den neunziger Jahren bekommen. Die haben wir
       teilweise in den Film eingebaut. Von meinen Geschwistern, die zehn Jahre
       älter sind als ich, gibt es kaum solche Dokumente, weil meine Eltern da
       noch mit existenzielleren Fragen beschäftigt waren. Als ich vier war,
       wurden wir eingebürgert und ich erinnere mich gut daran, dass sich da etwas
       für meine Eltern verändert hat. Von da an war in unserer Familie ein Gefühl
       von Angekommensein zu spüren, das die Videoaufzeichnungen ganz gut
       transportieren.
       
       Ihre Eltern spielen ja sogar Parvis’ Eltern im Film, richtig? 
       
       Das war auch Teil des Arbeitens mit der eigenen Biografie – die Geschichten
       und Erfahrungen meiner Eltern in den Film mit hineinzunehmen. Da spielten
       zwei Aspekte eine Rolle: einmal das Gefühl, dass die beiden die besten
       Darstellenden für die Rollen sind, und andererseits, dass so ein Gefühl von
       elterlicher Wärme und Vertrauen die Atmosphäre am Set bestimmt hat. Ich
       glaube, ich konnte deshalb so viel geben und mich trauen, weil ich das
       Gefühl hatte, meine Eltern stehen hinter mir.
       
       Nicht nur Sie – auch Banafshe Hourmazdi, Benjamin Radjaipour und Eidin
       Jalali, die drei Hauptdarsteller*innen, sind in zweiter Generation als
       Iraner*innen in Deutschland aufgewachsen. War das entscheidend bei der
       Besetzung? 
       
       Uns war es sehr wichtig, spezifisch zu besetzen – nicht nur, weil circa 60
       Prozent des Films auf Farsi sind. Wir wollten auch, dass sich alle
       Beteiligten mit den Diskursen und Erfahrungen rund um das Aufwachsen mit
       Migrationshintergrund in Deutschland identifizieren können. Wir haben
       zunächst versucht, die Figur von Amon, der mit seiner Schwester Banafshe
       aus dem Iran nach Deutschland geflohen ist, mit einer Person zu besetzen,
       die in erster Generation hier lebt und eine ähnliche Geschichte hat. Das
       hat aber aus unterschiedlichen Gründen nicht geklappt.
       
       Das schadet der Handlung ja auch nicht unbedingt – schließlich erzählt der
       Film keine Fluchtgeschichte, oder? 
       
       Nein, eben. Wir interessieren uns in diesem Film nicht vordergründig dafür,
       warum die Leute nach Deutschland gekommen sind, sondern eher, wohin sie
       wollen und wo sie gerade stehen. Als wir das Drehbuch geschrieben haben,
       kam es uns so vor, als hätte die mediale Berichterstattung über Geflüchtete
       fast schon perverse Ausmaße angenommen. Da wurde sich an den traumatischen
       Erfahrungen aufgegeilt, die Menschen auf dem Weg nach Europa gemacht haben.
       
       Das hat uns in dem Gefühl bestärkt, dass die eigene Ermächtigung auch
       Grenzen hat und wir nicht für alles stehen und sprechen können. Das
       Grenzensetzen beim Schreiben der Geschichte war ein ganz wichtiger Aspekt
       bei der Realisierung dieses Projekts.
       
       War es bei der Besetzung der Rollen wichtig, dass sich die Darsteller auch
       über ihre Kultur hinaus mit den Figuren identifizieren konnten? 
       
       Bei vielen Themen, die wir ansprechen, war es nicht nur wichtig, mit
       sensibilisierten Menschen zusammenzuarbeiten, sondern auch eigenes
       Erfahrungswissen haben und beisteuern zu können – um gemeinsam zu
       diskutieren, was man künstlerisch probieren möchte. Das umfasste neben der
       [1][PoC-Perspektive] auch die des Queerseins.
       
       Zum [2][Queersein in Deutschland] als Person of Color haben Sie Ihr eigenes
       Erfahrungswissen nutzen können. Wie recherchierten Sie zu queeren Menschen,
       die im Iran leben? 
       
       Zum einen habe ich viel mit Leuten über Dating-Apps gechattet und dann
       haben wir Leute getroffen, die gerade zufällig hier im Urlaub waren. In
       vielen dieser Recherchegespräche, in denen es ums Queersein im Iran ging,
       habe ich die Erfahrung gemacht: Das, was hier mein Bild vom Iran dominiert
       hat, etwa Folter und Todesstrafe für Homosexuelle, ist auch nur das, was
       durch mediale Berichterstattung bei uns ankommt. Nach dem Motto „There are
       no homosexuals in Iran“, wie es der ehemalige Präsident Mahmud
       Ahmadinedschad gesagt hat. Aber auch im Iran gibt es Menschen, denen es
       möglich ist, sich zu outen. Die sind nicht alle unsichtbar.
       
       Der Film zeichnet sich durch eine ganz eigene visuelle Sprache aus: Mal ist
       er sehr realistisch, fast schon dokumentarisch – dann erinnern die Bilder
       fast an psychedelische Träume. Welche Inspirationen stecken dahinter? 
       
       Wir hatten sehr viele unterschiedliche Inspirationsquellen, besonders
       popkulturelle: Wir haben viele Musikvideos von Solange, Rihanna und
       Childish Gambino angeschaut, von denen wir uns schon bei früheren Projekten
       haben inspirieren lassen. Da steckt oft sehr viel Sehnsucht und Begehren
       mit drin. Ähnlich wie bei den pseudodokumentarischen Filmen von Andrea
       Arnold. „American Honey“ oder „Fish Tank“ gehen ganz tief in ein bestimmtes
       Milieu hinein, wo es weniger um die dramatische Erzählung geht als darum,
       ein Lebensgefühl zu vermitteln. Das ist etwas, das uns angeregt hat und das
       wir auch transportieren wollten.
       
       Wo wir selbst eine große Entwicklung gemacht haben und dementsprechend
       geprägt wurden, sind Räume und Diskurse, die von PoC für PoC in Deutschland
       oder eben auch in anderen weiß dominierten Gesellschaften geschaffen
       wurden. In Berlin-Neukölln gibt es beispielsweise das inklusive
       Cutie.BIPoC-Festival, das eine sehr inspirierende Erfahrung für uns war.
       
       Inwiefern? 
       
       Dort ging es viel um Austausch und Gemeinschaft. Es ging gleichzeitig
       darum, Differenzen sowie Gemeinsamkeiten zu formulieren und darin
       Solidarität zu zeigen. Außerdem hat es uns Möglichkeiten aufgezeigt, wie
       man im Alltag selbstbewusster Rassismus wahrnehmen kann. Was ich sagen
       möchte: Manche Inspirationen kommen nicht nur aus dem Film, sondern auch
       viel aus aktivistischen Räumen oder Debatten – und eben aus der Musik.
       
       Also waren die visuellen Brüche durchaus gewollt? 
       
       Ich sehe den Film als eine Art Fächer verschiedener Inszenierungs- und
       Ästhetikarten. Wir wollten, dass unsere Vielstimmigkeit auch sichtbar wird
       in dem, wie sich der Film anfühlt. Wir haben Widersprüche zugelassen und
       keine lineare Erzählweise verfolgt – sondern den Film sich selbst immer
       wieder neu erfinden oder auch erwachsen werden lassen.
       
       Das letzte Kapitel ist beispielsweise ganz anders inszeniert. Da hat man
       dann das Gefühl, in einem erwachsenen Arthouse-Film zu sein. Im Gegensatz
       dazu weiß man am Anfang gar nicht so genau, ob das jetzt ein Musikvideo
       oder ein Heimvideo sein soll. Wir mochten die Idee, dass die Hybridität
       unser aller Leben auch im Material sichtbar wird.
       
       23 Feb 2020
       
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