# taz.de -- Bernardine Evaristo über Sichtbarkeit: „Die Verlage sind aufgewacht“
       
       > „Mädchen, Frau etc.“ handelt von 12 Schwarzen Menschen in Großbritannien.
       > Ein Gespräch mit Autorin Bernardine Evaristo über Diversity und Wandel im
       > Literaturbetrieb.
       
 (IMG) Bild: Bernardine Evaristo 2019 in London
       
       taz: Frau Evaristo, [1][in Ihrem Buch „Mädchen, Frau, etc.“] geht es um das
       Leben von zwölf Schwarzen britischen Personen – elf davon sind Frauen, eine
       ist nichtbinär. Wieso wollten Sie diese Geschichten erzählen? 
       
       Bernardine Evaristo: Als ich 2013 begann, das Buch zu schreiben, waren
       Schwarze Frauen in der britischen Literatur unsichtbar. Auch ich hatte
       schon viele Bücher geschrieben, in denen Schwarze Frauen vorkamen, aber
       keines davon hatte ich ausschließlich den Geschichten dieser Frauen
       gewidmet. Also dachte ich mir: Ich schreibe ein Buch mit so vielen
       Schwarzen Frauen wie möglich, um damit zu beginnen, unsere Abwesenheit in
       der Literatur auszugleichen.
       
       Weshalb ist es wichtig, diese Sichtbarkeit herzustellen? 
       
       Das ist eine große Frage. Es sagt viel über unsere Marginalisierung in der
       Gesellschaft aus, dass wir in der Literatur kaum sichtbar waren. Wenn du in
       einem Land lebst, an diesem Land aber nicht auf allen Ebenen teilnimmst,
       dann gibt es eine gewisse Lücke in deinem Leben. So ging es mir, als ich in
       den 60ern und 70ern aufgewachsen bin. Und dann habe ich gemerkt, dass das
       ja im 21. Jahrhundert immer noch passiert.
       
       Sie haben zwölf sehr unterschiedliche Charaktere entwickelt: darunter sind
       Studierende, Großmütter, Queers, eine Landwirtin, eine Investmentbankerin.
       Manche von ihnen sind radikale Feministinnen, andere können mit Feminismus
       nichts angefangen. 
       
       Man sollte beim Lesen nicht nur ein oder zwei Erzählungen begegnen. Mir war
       es wichtig, sie so divers, so unterschiedlich wie möglich zu haben. Das hat
       bedeutet, Protagonistinnen mit unterschiedlichem Alter abzubilden, die
       verschiedene Zeiten in Großbritannien erlebt haben, die verschiedene
       Hintergründe haben. Es war wichtig, dass manche auf dem Land leben, manche
       in der Stadt, dass sie unterschiedliche Jobs haben.
       
       Haben Sie ein feministisches Buch geschrieben? 
       
       Manche sagen das. Wenn ich es so bezeichnen würde, würden die Leute denken,
       ich wollte ihnen ein feministisches Argument auftischen. Aber das ist
       dieses Buch nicht, es hat nicht einfach ein feministisches Argument.
       
       Sie setzen sich darin detailliert mit verschiedenen politischen Positionen
       und radikalen Diskursen auseinander. 
       
       Es hat sich für mich natürlich so angefühlt, dass manche dieser Charaktere,
       die unterschiedliche Aspekte des Frauseins beleuchten, sich politisch
       auseinandersetzen würden. Wenn ich von Yazz schreibe, einer 19-jährigen
       Studentin, muss sie an den politischen Debatten teilhaben, die junge Frauen
       in diesem Moment führen. Yazz unterscheidet sich damit von ihrer Mutter,
       die in den 80ern politisiert wurde. Oder von Morgan, einer nichtbinären
       Person, mit der ich Fragen rund um Geschlecht vertiefe. Ich möchte nicht,
       dass es klingt, als seien diese Probleme der Ausgangspunkt gewesen. Der
       Ausgangspunkt war, verschiedene Charaktere zu entwickeln. Da war es
       selbstverständlich, dass sie politischen Kämpfen auf ganz unterschiedliche
       Weise begegnen.
       
       Sie schreiben seit vierzig Jahren, auch Ihre vorherigen Romane kreisten um
       verwandte Themen. Wie erklären Sie sich, dass Sie jetzt, mit Ihrem achten
       Buch, so einen Durchbruch erzielt haben? 
       
       Literaturpreise werden von denen geformt, die sie vergeben. Noch vor
       einigen Jahren bestand die Jury des Booker Prize nur aus Personen des
       Establishments. Das waren natürlich mehr Männer als Frauen, man müsste mal
       rausfinden, wie viele von ihnen in Cambridge oder Oxford studiert haben,
       wahrscheinlich die meisten. Als ich gewonnen habe, war es eine sehr
       unübliche Jury: Es waren mehr Frauen als Männer, zwei davon waren of Color.
       Das hat es davor noch nie gegeben. Es geht immer um die Qualität von
       Literatur, aber auch darum, wer den Geschmack bestimmt, wer determiniert,
       was Qualität eigentlich bedeutet. Ich habe diesen Preis bekommen, weil die
       Jury mein Buch verstanden hat. Wäre es eine andere Jury gewesen, hätte mein
       Buch vielleicht nicht gewonnen.
       
       Amma, eine der Protagonistinnen, macht feministisches Theater. Als sie die
       Gelegenheit hat, im National Theatre aufzuführen, hadert sie damit,
       plötzlich mitten im Mainstream zu sein. Auch Sie haben Theater gemacht,
       auch Sie arbeiten politisch, auch Sie haben nun durch den Preis eine
       größere Bühne. Erkennen Sie sich in Ammas Geschichte wieder? 
       
       Nein, wir unterscheiden uns. Amma hat sehr lange am Rande der Branche
       gearbeitet. Ich nicht. Ich werde seit zwanzig Jahren von einem der weltweit
       größten Verlage verlegt. Ich bin Professorin. Ich gehöre längst zum
       Mainstream, auch wenn der Preis mich weltweit noch mal bekannter gemacht
       hat. Und ich glaube, dass wir in den Strukturen sein müssen, im
       Establishment. Dort ist die Macht. Wir müssen innerhalb dieser Räume etwas
       verändern und sie egalitärer machen.
       
       Dafür setzen Sie sich schon sehr lange ein. Lässt sich heute noch über
       Diversität und Repräsentation sprechen, ohne dass diese blumigen Begriffe
       zu Worthülsen werden? 
       
       Es stimmt, Diversität ist zu einem Klischee geworden. Manchmal spreche ich
       deswegen lieber von Inklusion. Aber bei Diversität geht es im Grunde darum,
       allen die Möglichkeit zu geben, vollumfänglich an der Gesellschaft
       mitzuwirken. Das möchte ich für die Künste, für die Literatur. Welche
       Sprache das ermöglicht, ist mir letztlich völlig egal.
       
       [2][Als Sie den Booker Prize erhielten,] sagten Sie in Ihrer Dankesrede,
       dass Sie die erste Schwarze britische Frau seien, die diesen Preis bekommt.
       Wieso war es Ihnen wichtig, in diesem Moment darauf hinzuweisen? 
       
       Weil viele Menschen das nicht wissen. Sie wissen nicht, wie sehr wir als
       Frauen und Menschen of Color marginalisiert werden. Es war ein historischer
       Moment, ich wollte rausholen, was geht. Ich habe ein politisches Statement
       gemacht. Es ist wichtig, dass die Leute das wissen, weil wir dann Fragen
       stellen müssen: Wieso braucht es so lange, bis diese Menschen in diese
       Positionen kommen?
       
       Und wie lautet die Antwort auf diese Frage? 
       
       Das hängt damit zusammen, dass diese Industrie eine sehr traditionelle,
       sehr weiße, mittelschichtige Industrie ist. Sie ist sehr „Oxbridge“. Die
       Gesellschaft wird nicht in den Entscheidungspositionen abgebildet. Aber das
       ändert sich. Black Lives Matter war ein wichtiger Katalysator, weil gezeigt
       wurde, dass Rassismus nicht nur in den USA passiert, sondern auch hier in
       Großbritannien, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Die Verlage
       sind aufgewacht, weil die Menschen sie gefragt haben, wieso sie uns nicht
       veröffentlichen.
       
       Sie bereiten mit Ihrem Verlag eine Reihe vor, in der vergessene Werke von
       Schwarzen Brit:innen neu aufgelegt werden. Was bringt so eine Neuauflage?
       
       Ich spreche ja die ganze Zeit darüber, dass Literatur von Autor:innen of
       Color verlegt und dann gleich wieder vergessen wird. Niemand weiß, dass sie
       existiert haben. Jedes neue Buch von Personen of Color wird behandelt, als
       sei es das erste, als habe diese Literatur keine Geschichte und kein
       Fundament. Mein Verlag hat mich gefragt, wieso wir nicht welche dieser
       vergessenen Werke zurückbringen. Die Reihe nennt sich „Black Britain:
       Writing Back“. Ich habe sechs Romane ausgesucht, der erste ist von 1936:
       „Minty Alley“ von C. L. R. James. Diese Bücher haben die Zeit überstanden.
       Sie werden heute auf eine Weise gelesen werden, wie sie es früher nicht
       wurden.
       
       In sozialen Netzwerken teilen Sie häufig Arbeiten von neuen britischen
       Gegenwartsautor:innen. Welchen jungen Stimmen sollte man gerade zuhören? 
       
       Da gibt es immer mehr. Es gibt Sachbücher wie „Brit(ish)“ von Afua Hirsch,
       „Loud Black Girls“ von Elizabeth Uviebinené und Yomi Adegoke. Es gibt die
       Gothic Novelsvon Sarah Collins oder die Romane von Diana Evans. Sie sehen,
       es ist heute anders als noch vor zehn Jahren. Ich hoffe, dass diese
       Autor:innen weiterhin veröffentlichen werden, dass wir bald eine
       Literatur haben, die alle in diesem Land widerspiegelt, und dass wir dann
       nicht mehr über dieses Thema sprechen müssen.
       
       9 Feb 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Roman-ueber-schwarze-Frauen/!5743693
 (DIR) [2] https://www.theguardian.com/books/2019/oct/15/booker-winners-bernardine-evaristo-margaret-atwood-rule-breaking
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Simon Sales Prado
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Feminismus
 (DIR) Literatur
 (DIR) Großbritannien
 (DIR) Diversity
 (DIR) Übersetzung
 (DIR) Boris Johnson
 (DIR) Schlaf
 (DIR) Literatur
 (DIR) Tagung
 (DIR) People of Color
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Tanja Handels über den Literaturbetrieb: „Der Text muss gut fließen“
       
       Darüber, wer was übersetzen darf, gab es zuletzt viel Wirbel.
       Ausschlaggebend sollten Kompetenz und Können sein, sagt Übersetzerin Tanja
       Handels.
       
 (DIR) Rassismus in Großbritannien: Bericht wirbelt in London Staub auf
       
       Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung stößt auf teils
       heftige Kritik. Berater von Premier Johnson kündigt Rücktritt an.
       
 (DIR) Schlafen ist politisch: Träumt weiter!
       
       Schlaf gilt als privat. Gleichzeitig wird er durch Arbeit eingegrenzt, von
       Familie strukturiert, mit Apps optimiert. Aber der Schlaf hat Potenzial.
       
 (DIR) Roman über schwarze Frauen: Emotionale Leerstellen
       
       „Mädchen, Frau etc.“: Bernardine Evaristo schreibt einen Roman über
       schwarze Frauen in Großbritannien, quer durch die kulturellen Szenen.
       
 (DIR) Britische Literatur-Tagung in Berlin: „Für mich ist Gender eine Handlung“
       
       In der Werkstatt der Kulturen hat eine Tagung zum Thema „Writing Gender:
       Sexuality, Feminism and Masculinity“ stattgefunden.
       
 (DIR) Antirassistische Bibliothek: „Schwarze Frauen sichtbar machen“
       
       Die Bibliothek „Audream“ soll Literatur und Wissen Schwarzer Frauen
       zugänglich machen. Das Besondere: Die Bücherei ist mobil.
       Projektinitiatorin Chima Ugwuoke über ihre Idee.