# taz.de -- Buch über Michel Houellebecq: Die Kunst der Provokation
       
       > Die Literaturkritikerin Julia Encke macht sich in einer kenntnisreichen
       > Studie daran, das Phänomen Michel Houellebecq zu entschlüsseln.
       
 (IMG) Bild: Stil? Darauf legt Michel Houellebecq keinen Wert
       
       Als Michel Houellebecq in einem Interview 2001 nach der Lektüre des Koran
       den Islam „die bescheuertste Religion von allen“ nannte, war die Aufregung
       groß. Mehrere muslimische Verbände zeigten ihn an und verlangten, das
       TV-Literaturmagazin „Campus“ auf France 2 vor der Ausstrahlung zu sehen, um
       solche Aussagen zu zensieren. Ein Szenario, das wie geschaffen war für
       Houellebecq, denn es hätte aus seinem Roman „Unterwerfung“ sein können.
       
       Houellebecqs Kommentar zu dem umstrittenen Satz, in der dann ausgestrahlten
       Fernsehsendung lautete: „Der Islam, die bescheuertste Religion der Welt?
       Das hängt vom Tag ab.“ Und auch diese Nonchalance haben ihm seine Kritiker
       wohl kaum als Zugeständnis ausgelegt, denn ihnen dürfte völlig zu Recht
       geschwant haben, dass Houellebecq sie nicht ernst nimmt.
       
       Als Provokateur hat, wie die FAS-Redakteurin Julia Encke in ihrem neuen
       Buch „Wer ist Michel Houellebecq?“ sehr material- und kenntnisreich
       ausbreitet, sich der Schriftsteller große Verdienste erworben. Er hat aber
       nicht nur den Zorn der Muslime auf sich gezogen, sondern auch eine
       ungewöhnliche Abneigung eines großen Teils des französischen Kulturbetriebs
       hervorgerufen, der einerseits zur Skandalisierung seiner Bücher beigetragen
       hat, es aber andererseits degoutant findet, dass der Autor dadurch berühmt
       wurde und nicht etwa durch die literarische Qualität bzw. das, was das
       Feuilleton glaubt, es wäre eine.
       
       So entstehen Feindschaften fürs Leben. Das Feuilleton, vor allem das
       französische, leidet darunter, dass es eine Figur erschaffen hat, die der
       Betrieb nicht mehr loswird, die ein munteres Eigenleben führt, und das,
       obwohl man den Lesern ausführlich mitteilt, wie wenig Houellebecq taugt.
       
       Julia Encke, die Houellebecq häufig getroffen hat, geht es jedoch nicht nur
       um den Provokateur Houellebecq, sondern auch um den „Schriftsteller“, den
       „Romantiker“, den „Gewinner“ und den „Visionär“, wie die Kapitel des Buches
       heißen. Aber in welcher Rolle auch immer sich der Autor äußert, er ruft
       sofort seine Widersacher auf den Plan. So mit seiner Beobachtung, dass man
       die Ehe abschaffte, würde man die Prostitution verbieten, wie das viele
       liberale Stimmen mit den besten Absichten fordern, ohne zu sehen, wie ihnen
       Houellebecq vorwirft, dass dies für die europäischen Gesellschaften auf
       einen „Selbstmord“ hinausliefe. Seine Diagnose wurde sofort als Polemik
       missverstanden, auch von Barbara Vinken, die in der NZZ schrieb,
       Houellebecq mache sich „zum Sprachrohr einer völlig erotikfreien,
       spießbürgerlich-kapitalistisch-verdinglichten Doppelmoral“.
       
       ## „Neuer Realismus“
       
       Houellebecqs Erfolg, scheibt Encke, besteht darin, dass er einer Art „neuem
       Realismus“ verpflichtet sei, indem er den „durchschnittlichen Menschen“ zu
       seinem Sujet gemacht habe. Dieser gewöhnliche Mensch ist nicht angenehm,
       und er bietet eine große Projektionsfläche, denn in einer „für den
       einzelnen unerträglich“ gewordenen neoliberalen Gesellschaft erweist sich
       der Mensch als äußerst anpassungsfähig und zugleich sperrig und
       widerspenstig, wenn er seinen Hass in den sozialen Medien auslebt.
       
       Der Mensch, wie ihn Houellebecq beschreibt, ist „der absoluten
       Unumkehrbarkeit von Verfallsprozessen“ ausgeliefert, die Mitglieder der
       Gesellschaft sind nicht nur einem unerbittlichen Konkurrenzkampf
       ausgesetzt, als vereinzelte Nomaden haben sie auch ihre alten Gewissheiten
       verloren und irren ziellos umher, monströse Gestalten, die ihrer sozialen
       Fähigkeiten verlustig gingen.
       
       Diese Konstante in Houellebecqs Romanen ist ziemlich deprimierend, aber als
       Zustandsbeschreibung durchaus realistisch. Mit einem gewissen sarkastischen
       Vergnügen zeigt Houellebecq die psychischen Abgründe auf, in die die
       Menschen unter diesen Voraussetzungen stürzen. Er kennt dieses Milieu, weil
       er selbst in Firmen gearbeitet hat, in denen er studieren konnte, wie die
       neoliberale Realität die menschliche Psyche deformiert. Dabei verwischt
       Houellebecq, wie Encke zeigt, immer mehr die Grenzen zwischen sich als
       Autor und seinen Protagonisten, bzw. vielleicht ist es gar kein Verwischen,
       sondern eine partielle Übereinstimmung, die bei so ziemlich jedem Autor
       vorkommt, nur dass sie bei Houellebecq zum Skandal wird, weil seine Figuren
       eben keine sympathischen Menschen mit hehren Vorstellungen sind.
       
       Houellebecqs Romane sind nicht besonders gut geschrieben, sie entwickeln
       keinen Sog, sie bereiten kein Vergnügen. Allerdings legt der Autor, wie
       Julia Encke nachweist, auch gar keinen Wert darauf, „Stil zu haben“.
       
       Wenn man einen brillanten Stil liebt, muss man seine Bücher auch nicht
       lesen, aber wenn man sie liest, muss man sich mit ihnen und dem Autor
       auseinandersetzen, und dank Julia Encke weiß man jetzt, dass er mit seiner
       radikalen Gesellschaftskritik auf sehr intelligente Weise mit den
       Erwartungen und Vorurteilen der Medien spielt, die schnell dabei sind,
       jemanden in die rechte Ecke zu stellen, weil er den ideologischen Konsens
       desavouiert. Dass er dafür den Kulturbetrieb ausnutzt und letztlich auch
       mitmacht, kann man ihm dabei kaum vorwerfen.
       
       21 Jan 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Bittermann
       
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