# taz.de -- Bürgerentscheid über Nationalpark: Schutz oder Nutz
       
       > In Ostwestfalen entscheiden Bürger, ob ein neuer Nationalpark entsteht.
       > Dabei prallen zwei unterschiedliche Konzeptionen von Naturschutz
       > aufeinander.
       
       STEINHEIM taz | Jemand hat eine einsame Zimmerpalme auf die Bühne gestellt,
       ganz an den Rand. Sie steht da etwas verloren neben Tischen, Stühlen und
       Rednerpult, dabei soll es am Dienstagabend vergangener Woche doch um Bäume
       gehen und um Natur. In der, laut Moderator, „wunderschönen Steinheimer
       Stadthalle“, sitzen etwa 350 Männer und Frauen auf grauen Stühlen, viele
       ältere, wenige ganz junge, viele dazwischen.
       
       In dem großen Saal mit hellem Laminat begrüßt der Landrat des Kreises
       Höxter, Michael Stickeln, das Publikum: Die knapp 13.000
       Steinheimer:innen sollen eine „faktenbasierte Grundlage“ für ihre
       Abstimmung über die Bewerbung des Kreises für einen „Nationalpark Egge“
       erhalten, auf insgesamt rund 12.000 Hektar landeseigener Waldflächen.
       „Ausdrücklich“ dankt er Josef Tumbrinck, Staatssekretär im
       Landesumweltministerium dafür, den „weiten Weg von Düsseldorf hierher nach
       Ostwestfalen“ gemacht zu haben.
       
       Das könnte man, zu Beginn des Abends, noch für eine Spitze halten, à la
       „die da aus der fernen Landeshauptstadt wollen uns hier auf dem Land was
       über Naturschutz erzählen“. Vor allem weil Tumbrinck, mit Schnauzbart und
       langer Mähne, im konservativen Ostwestfalen etwas zottelig daherkommt und
       vor seiner Zeit im Bundes- und Landesumweltministerium auch noch lange
       Jahre streitbarer Vorsitzender des Nabu NRW war.
       
       Aber im Laufe der Debatte keimt der Verdacht: Vielleicht hat der Landrat
       das einfach so höflich gemeint, wie er es gesagt hat. Stickeln macht zu
       keiner Zeit einen Hehl daraus, dass er einen „Nationalpark Egge“ nicht für
       nötig, sogar für schädlich hält in seinem Kreisgebiet. Aber er macht das
       zurückhaltend, eher sachlich. So wie die ganze Diskussion zurückhaltend
       abläuft, erstaunlich sachlich und informativ.
       
       Dabei geht es in Steinheim um die ganz großen Fragen: Was ist Natur? Was
       bedeutet es, Natur zu schützen? Müssen Menschen Natur – also Pflanzen,
       Tiere, Pilze – managen? Sie züchten, pflegen, ihnen einen Ort zuweisen, an
       dem sie leben können? Oder, ganz im Gegenteil, müssen Menschen der Natur
       Räume schaffen, in denen sie sich alleine entwickeln kann und Förster oder
       Naturschutzbehörden sich raushalten? Es sind Fragen, wegen denen Landwirte
       in den letzten Monaten Straßen blockiert und Galgen aufgestellt haben und
       wegen denen Aktivisten Kartoffelbrei auf Bilder werfen. Vor der Stadthalle
       in Steinheim parkt der Trecker mit Protestplakat brav auf dem
       Seitenstreifen – jeder kommt daran vorbei.
       
       Das kleine Städtchen Steinheim liegt im Kreis Höxter, einer sehr ländlichen
       Region zwischen Paderborn, Bielefeld, Hannover und Kassel. Zeitgleich mit
       dem Kreis Paderborn stimmen die 143.000 Einwohner des Kreises noch bis zum
       heutigen Mittwoch darüber ab, ob sich die Region bei der Landesregierung
       als Standort für den zweiten Nationalpark NRWs bewerben soll.
       
       Dass Nordrhein-Westfalen neben dem Nationalpark Eifel ein zweites Gebiet
       einrichtet, in dem sich die Natur ohne forst- oder landwirtschaftliche
       Nutzung selbst überlassen bleibt und Wildnis werden darf, das hatten CDU
       und Grüne vor zwei Jahren in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten.
       Allerdings sollte die Bevölkerung vor Ort aktiv beteiligt werden, das
       heißt: Der Ruf nach einem Nationalpark sollte aus den infrage kommenden
       Regionen kommen, etwa dem waldreichen Sauerland, Siegerland-Wittgenstein
       oder eben Ostwestfalen. Doch im ganzen Bundesland fand sich keine Region,
       überall entschieden die zuständigen Kreistage, sich nicht zu bewerben. Auch
       der Kreistag von Höxter hatte gegen den Nationalpark gestimmt.
       
       Doch ausgerechnet in Ostwestfalen, wo seit 70 Jahren mit sicherer Mehrheit
       die CDU regiert, bildete sich eine breite Bewegung, die diese Entscheidung
       der Volksvertreter nicht akzeptieren wollte. Sie setzte ein zweistufiges
       Verfahren in Gang, in dem die Bevölkerung zunächst in einem Bürgerbegehren
       mehrheitlich für den Nationalpark stimmte.
       
       Da der Kreis sich diesem Votum widersetzte, folgt nun Teil zwei: [1][der
       Bürgerentscheid]. Hier sind die Hürden für einen Erfolg deutlich höher:
       Nicht nur die Mehrheit muss die Frage „Soll der Kreis Höxter beim
       Umweltministerium NRW einen Antrag auf die Errichtung eines Nationalparks
       auf den landeseigenen Flächen der Eggeregion stellen?“ mit Ja beantworten;
       es müssen auch mindestens 20 Prozent der 117.000 Stimmberechtigten für Ja
       stimmen, also 23.000 Wähler:innen. Wenn sie das tun, muss der Kreistag
       seine Ablehnung kassieren und sich bewerben. Bis Freitag waren 57.629
       Abstimmungsbriefe in der Kreisverwaltung eingegangen – die Beteiligung ist
       also enorm. Die Podiumsdiskussion in Steinheim war eine der letzten
       Informationsveranstaltungen.
       
       Einige Stunden vor der Debatte sitzen Martina Denkner, 65, Gerhard Antoni,
       60 und Bernd Behling, 68, in einem Café am Eingang der Steinheimer
       Fußgängerzone. Seit Jahren machen die drei gemeinsam an verschiedenen Orten
       grüne Politik im Kreis Höxter; Behling, der zum quietschgrünen Jackett
       grüne Schuhe und eine grüne Brille trägt, als Stadtrat in Steinheim,
       Denkner und Antoni als Kreistagsabgeordnete. Alle drei sind
       wahlkampfgestählt, Flyer und Aufkleber für die Europawahl in Fußgängerzonen
       verteilen, kein Problem.
       
       Auch für den Nationalpark haben sie in Fußgängerzonen und auf Marktplätzen
       geworben und dabei widersprüchliche Erfahrungen gemacht: „So viel Zuspruch
       habe ich noch nie bekommen“, sagt Denkner, „das war äußerst angenehm.“
       Allerdings, sagt die elegante Frau, dunkelblaues Kleid, graue
       Hochsteckfrisur, habe sie die Diskussionen auch als aggressiv empfunden,
       zum Teil persönlich verletzend.
       
       „Ist doch klar“, sagt Antoni, der im orangefarbenen T-Shirt und grauer
       Strickjacke wie ein Religionslehrer aussieht – und das ist er auch –, „der
       Bürgerentscheid ist ein Machtverlust für gewählte Politiker. Die Bürger
       wählen, obwohl die Politiker schon entschieden haben – damit muss man erst
       mal klarkommen.“ Er stellt die Kaffeetasse ab und springt auf. „Hallo, Herr
       Schützenkönig“, ruft er und schüttelt einem Passanten die Hand. Der hat
       nicht nur beim Wettschießen gewonnen, sondern sitzt auch für die CDU im
       Kreistag. „Na, auch schon angereist?“, frotzelt er in die Runde und
       verabschiedet sich.
       
       Man kenne sich hier, sagt Martina Denkner, „alle wissen alles von allen,
       entsprechend sind die Leute vorsichtig mit ihren Äußerungen“. Andererseits
       biete diese soziale Enge auch Sicherheit, „wir wissen, dass wir miteinander
       auskommen müssen“. Daher seien Bürgerbegehren und Bürgerentscheid das
       forderndste, aber auch das spannendste politische Projekt, das sie bisher
       begleitet haben, sagen Denkner, Behling und Antoni. „Diese
       Schwarmintelligenz, die sich hier gezeigt hat, die fasziniert mich“, sagt
       Denkner. Normalerweise müsse man hier in der Gegend „mit jemandem erst
       einen Sack Salz essen, bevor man sich vertraut“.
       
       Aufbruch Richtung Stadthalle, Antoni verabschiedet sich, seine Schüler
       stehen gerade mitten in der Abiturphase, „ich muss in eine Notenkonferenz,
       das geht vor“. Gegen halb sechs schlendern die ersten Besucher:innen
       über den Parkplatz vor der Halle, überall hängen noch die weiß-grünen
       Wimpel vom Schützenfest. Ein Grüppchen von Nationalparksbefürwortern wirbt
       auf Pappschildern für „ein Herz für den Nationalpark Egge“, Denkner und
       Behling reihen sich ein.
       
       Ein paar Meter entfernt verteilt auch Christa Ridder Flyer, allerdings
       gegen den Nationalpark. In schwarzweiß karierten Hosen, weißer Bluse und
       schwarzer Jacke steht sie da, eine resolute 64-Jährige mit kurzen grauen
       Haaren. „Die Egge ist gut so, wie sie ist“, sagt sie. Eine Frau klopft ihr
       auf die Schulter, „sehr gut, dass du schon hier bist“, sagt sie, „wieder
       mal“, sagt Ridder, und beide lachen. „Ich mach das ja schon zum dritten
       Mal“, sagt sie.
       
       Naturschützer haben die Region Ostwestfalen und einen möglichen
       Nationalpark Senne, Egge, Teutoburger Wald seit den 1990er Jahren im Auge.
       Bislang sind sie stets am Widerstand der Region gescheitert, also auch an
       Christa Ridder. Unter dem Motto „Ja zur Natur, Nein zum Nationalpark“ ruft
       der Verein „Unsere Egge“ mit Unterstützung von CDU und FDP zum Neinstimmen
       auf. „Ich muss jetzt rein“, ruft sie und eilt davon, kommt aber extra
       nochmal zurück. Ihr sei es wichtig zu sagen: „Ich finde den ganzen Prozess
       und den Bürgerentscheid übrigens vollkommen richtig, in so einer strittigen
       Frage müssen die Bürger direkt entscheiden.“ Sie verschwindet in der Halle;
       nach der Begrüßung des Landrats folgt die Diskussion auf dem Podium.
       
       Ganz paritätisch besetzt ist es nicht: Als Befürworter sind Josef Tumbrinck
       vom Umweltministerium und Hans Jürgen Wessels vom Förderverein Nationalpark
       Senne-Eggegebirge eingeladen, als Gegner sitzen neben dem Landrat Stickeln
       die Geschäftsführerin der IHK Ostwestfalen zu Bielefeld, die Förster
       Roland Schockemöle und Harald Gläser sowie Frank Grawe von der
       Landschaftsstation im Kreis Höxter, zuständig für die Naturschutzgebiete im
       Kreis, auf der Bühne. Befürworter und Gegner des Nationalparks entwerfen
       gegensätzliche Konzepte von Natur: Trumbrinck und Wessels fechten für
       Wildnis, dafür, Natur machen zu lassen, unbeeinflusste Prozesse zu
       beobachten und von ihnen zu lernen, gerade in Zeiten des Klimawandels,
       [2][in denen alte Gewissheiten auch aus der Forstwirtschaft nicht mehr
       gelten würden]. Sie betonen die ökonomischen Chancen, die ein Nationalpark
       biete: für den Tourismus, aber auch für die Lebensqualität der Menschen vor
       Ort.
       
       Die Gegner verweisen auf die ökonomische Bedeutung des „Clusters Holz“. Vor
       allem aber halten sie gerade in der gefährdeten Natur der Gegenwart ein
       eingreifendes Management des Menschen für erforderlich: Fachleute müssten
       klimaresiliente Baumarten auswählen und pflanzen, um die in den Dürrejahren
       abgestorbenen Fichtenwälder durch Laubmischwälder zu ersetzen, und
       überhaupt: „Bei den Befürwortern des Nationalparks klingt es so, als müsse
       man den Wald vor den Förstern und den Waldbesitzern schützen“, sagt Harald
       Gläser, Förster des Stadtwaldes im nahegelegenen Brakel. Dabei begreife
       auch er als Förster den Wald als lebendigen Organismus, Nachhaltigkeit sei
       gelebte Praxis.
       
       Im Laufe des Abends lernt das Publikum die Waldentwicklungsphasen nach
       Scherzinger kennen, bekommt eine Einführung in die
       Kohlendioxidbilanzierung in Wäldern, in die Holzverluste durch Dürren und
       Stürme der vergangenen Jahre, den Waldumbau in der Egge, in die Potenziale
       der Industrie, des Tourismus. Wie man denn den Fachkräftemangel in dieser
       Branche beheben wolle, fragt einer. Wer denn die Begleitforschung im
       Nationalpark übernehme, ob die lokalen Wissenschaftseinrichtungen
       einbezogen würden, ein anderer. Die Leute fragen, welche Arten in der Egge
       schützenswert seien, ob man Holz künftig importieren müsse, wenn man
       heimische Wälder nicht mehr nutze, was der Unterschied zwischen einem
       Nationalpark und einem Naturschutzgebiet sei, ob es künftig auch Kraniche
       nach Ostwestfalen ziehen würde.
       
       Nein, keine Kraniche, zu wenig Wasser. Im Naturschutzgebiet kann noch
       Forstwirtschaft betrieben werden, im Nationalpark nicht. Die Waldfläche im
       Nationalpark sei zu klein, um die Import-Export-Statistik für Holz zu
       beeinflussen, es gebe in umliegenden Wäldern genug Holz für die Region. Für
       Forschung sei der Bund zuständig, für den Fachkräftemangel hat keiner eine
       Lösung. Für Reiter, Fahrradfahrer und Wanderer bleibe die Egge auch als
       Nationalpark offen, und wie die „Nationalparkverordnung“, also das
       Regelwerk, das Schutz und Nutzung eines Nationalparks regelt, gestaltet
       werde, das werde das Ministerium zusammen mit der Bevölkerung aushandeln.
       
       Im Publikum bilden sich Klatschfraktionen. Vorne, in den ersten Reihen und
       ganz hinten sitzen Gegner des Nationalparks. Jeder Fakt, jede Aussage des
       Landrats oder der Förster wird laut beklatscht. Eher in der Mitte sitzen
       Nationalparksbefürworter: Sie klatschen, wenn Tumbrinck oder Wessels
       sprechen. Zwischenrufe gibt es nicht; nur als Förster Gläser sich sehr
       deutlich nicht an die vorgeschriebene Redezeitgrenze von zwei Minuten hält,
       wird es etwas unruhig.
       
       Am Ende: Erschöpfung. Aber auch das erfrischende Gefühl, wirklich etwas
       geboten bekommen zu haben an diesem Abend, ein breites Bild der Argumente,
       Fakten und Meinungen. Beim Forstwesen gehe es nicht um Bäume, sagt am Ende
       der Förster Schockemöle, sondern um Menschen. Und in Höxter ging es im
       vergangenen Jahr zwar um einen Nationalpark. Es ging aber auch darum, dass
       ein demokratisches Gemeinwesen eine Frage von öffentlichem Interesse
       diskutieren und aushandeln kann, bisweilen emotional, am Ende sachlich.
       Egal, wie die Entscheidung ausfalle, sagt in seinem Schlusswort Landrat
       Stickeln, „danach müssen sich die einen ein bisschen schütteln, die anderen
       dürfen sich ein bisschen freuen – ohne Häme –, und dann setzen wir uns alle
       einen Tisch und setzen sie um“.
       
       12 Jun 2024
       
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