# taz.de -- Debatte über Silvester-Gewalt: Politische Pyromanen
       
       > Die CDU nutzt die Silvester-Ereignisse für eine neue Leitkultur-Debatte.
       > Stattdessen ist es an der Zeit, die deutsche Böllertradition zu
       > hinterfragen.
       
 (IMG) Bild: In Deutschland gilt Böllern als eine Art Bürgerpflicht
       
       Nachdem sich der Rauch um die Silvesternacht gelichtet hat, sieht man
       klarer. In vielen Städten wurden Polizisten, Sanitäter, Feuerwehrleute und
       Unbeteiligte mit Feuerwerkskörpern angegriffen. In Berlin-Neukölln brannte
       ein Reisebus aus, dieses Bild war in vielen Medien zu sehen. Auch in
       Hamburg, Leipzig, Hagen und Essen kam es zu ähnlichen Exzessen. Im
       fränkischen Ostheim wurde die Polizei angegriffen, im sächsischen Borna das
       Rathaus attackiert.
       
       Trotz dieses breiten Bildes der Zerstörung und der diffusen Ursachen waren
       die Schuldigen für manche schnell ausgemacht: „Junge Männer mit
       Migrationshintergrund, die diesen Staat verachten“, wie nicht nur
       SPD-Innenministerin Nancy Faeser diagnostizierte. Und der Blick richtete
       sich mal wieder auf Berlin, auf den Bezirk Neukölln.
       
       Dabei war Neukölln an Silvester gar nicht der größte Brennpunkt der Stadt.
       Die meisten Attacken auf Polizei und Feuerwehr wurden in anderen Berliner
       Bezirken registriert, etwa in Mitte und Tempelhof-Schöneberg. Auch die Zahl
       der Festnahmen an Silvester in Berlin musste bei genauerer Betrachtung
       relativiert werden. Zunächst hatte die Berliner Polizei von 145
       Festgenommenen mit 18 verschiedenen Nationalitäten gesprochen.
       
       Später korrigierte der Tagesspiegel die Zahl: [1][Nur 38 Personen seien
       wegen Böllerattacken auf Polizisten und Feuerwehrleute festgenommen worden]
       – die meisten davon deutsche Staatsbürger, viele minderjährig. Nun will die
       Polizei diese Zahl nicht bestätigen.
       
       Das Zahlenwirrwarr zeigt, auf welch fragwürdiger Grundlage seit Silvester
       Stimmung gemacht wird. Während die meisten noch im Raketennebel stocherten,
       führte CDU-Mann Jens Spahn die Vorkommnisse schon auf „ungeregelte
       Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat“
       zurück. CDU-Chef Friedrich Merz polterte bei „Lanz“ gegen „kleine Paschas“
       arabischer Herkunft und behauptete ohne jeden Beleg, „zwei Drittel“ der
       Tatverdächtigen an Silvester stammten „aus dem Ausland“, sie hätten „in
       Deutschland nichts zu suchen“.
       
       Spahn legte noch einmal nach: Das Problem sei die „Macho-Attitüde“ junger
       Männer in Berlin-Neukölln, die durch ein „bestimmtes kulturell-religiöses
       Umfeld“ geprägt sei. Damit bedienen Spahn, Merz & Co rassistische
       Ressentiments, die leider weit verbreitet sind.
       
       Die Silvesterrandale sind mit Ausschreitungen vergleichbar, wie sie auch
       bei Fußballspielen oder Demonstrationen vorkommen: Ausnahmesituationen, in
       denen Gruppendynamiken und Zerstörungswut wirken und sich die
       Kräfteverhältnisse auf der Straße umkehren. Gewaltforscher wissen, dass
       Jugendgewalt oft mit der sozialen Lage zusammenhängt und sie an Orten mit
       viel Arbeitslosigkeit und Armut häufiger auftritt: [2][Dort brauen sich
       Langeweile und jugendlicher Leichtsinn mit Wut und Frust zu einem
       gefährlichen Gemisch zusammen], das sich bei günstiger Gelegenheit entladen
       kann. Und Silvester ist eine günstige Gelegenheit. In Vierteln, in denen
       viele Jugendliche schlechte Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, wird
       die Polizei dann zum Angriffsziel.
       
       Seit Silvester erinnern nun viele, auch CDU-Chef Merz, an das „Neuköllner
       Modell“ der verstorbenen Jugendrichterin Kirsten Heisig und fordern, die
       Strafe für eine Tat müsse auf dem Fuß folgen. Der Witz ist nur: Das
       „Neuköllner Modell“ ist schon seit über zehn Jahren in Kraft, in ganz
       Berlin. Die Eskalation an Silvester hat es aber offensichtlich nicht
       verhindert.
       
       Doch von Erfahrungswissen und Fakten hat sich diese Debatte längst gelöst.
       Sonst müsste man feststellen, dass die Jugendgewalt in ganz Berlin zuletzt
       wieder zugenommen hat. Auch Angriffe auf Feuerwehrleute und Polizisten
       haben bundesweit zugenommen. Bereits nach der Silvesternacht 2018 hatten
       Gewerkschafter und Politiker einen besseren Schutz von Einsatzkräften
       gefordert. Zuletzt gingen die Angriffe aber überwiegend von Coronaleugnern,
       vermeintlichen Normalbürgern oder Fußballfans aus. Eine
       „Integrationsdebatte“ gab es da nicht und auch kaum laute Rufe nach
       härteren Strafen.
       
       Es wird immer deutlicher, dass die CDU dieses Silvester zum Anlass für eine
       konzertierte Kampagne nimmt. Sie hat sich entschieden, mal wieder auf dem
       Rücken von Minderheiten Wahlkampf zu machen, in der Hoffnung, damit
       AfD-Wähler zurückzugewinnen. Dafür holt sie ihre alten
       Nullerjahre-Partykracher „Leitkultur“, „Parallelgesellschaft“ und „Islam“
       aus der Mottenkiste und hoffen, dass diese noch zünden.
       
       ## Die AfD ist erstaunlich still
       
       Die Partei hat sich damit erfolgreich wieder ins Gespräch gebracht, mit
       Rezepten aus der Vergangenheit. Von der AfD hört man dagegen erstaunlich
       wenig: Sie wird mit ihrer eigenen Methode übertönt.
       
       Leider spielen viele Medien dieses Spiel nur zu gerne mit.
       Verantwortungsvolle Journalisten sollten hinterfragen, auf welcher
       Grundlage populistische Schnelldiagnosen gestellt werden und welche Motive
       dahinterstehen. Die Silvesterdebatte zeigt auch, wie wichtig ein seriöser
       Umgang mit Zahlen und Statistiken ist. Und selbst wenn viele der
       Verdächtigen einen Migrationshintergrund haben, bleibt die Frage: Was tut
       das zur Sache? Einen Migrationshintergrund haben in Städten wie Berlin auch
       viele Feuerwehrleute, Polizisten und entsetzte Anwohner. Gerade Menschen,
       die aus Kriegsgebieten geflüchtet sind, können der deutschen
       Böllertradition oft nichts abgewinnen.
       
       Die Silvesternacht böte Anlass, die deutsche Böllertradition zu überdenken.
       In anderen Ländern gibt es zentrale Feuerwerke und -konzerte. Das Böllern
       in die eigenen Hände zu nehmen, ist nicht erlaubt, man hält das aus guten
       Gründen für zu gefährlich. Nur in Deutschland gilt Böllern als eine Art
       Bürgerpflicht, was jedes Jahr zum Faustrecht der Straße führt.
       
       Warum eigentlich? Wir könnten vom Ausland lernen. Dann wäre Silvester
       wieder ein Festtag für alle. Und politische Pyromanen hätten ein Thema
       weniger, mit dem sie zündeln können.
       
       17 Jan 2023
       
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