# taz.de -- Deutsche Haltung im Nahostkonflikt: Was heißt „Nie wieder“?
       
       > Aufgrund der Geschichte steht Deutschland an Israels Seite. Aus dem
       > gleichen Grund muss es Völker- und Menschenrechte verteidigen. Ein
       > Dilemma.
       
 (IMG) Bild: Menschen flüchten im November 2023 aus Gaza Stadt
       
       Nie wieder – darüber war sich die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg und dem
       deutschen Völkermord an den Juden Europas einig. Aber wofür genau steht
       dieses „Nie wieder“? Nie wieder Krieg und Völkermord?
       
       Das war das Motiv, das zur Gründung der Vereinten Nationen im Oktober 1945,
       zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948 und zur Verabschiedung
       der ersten Genfer Flüchtlingskonvention 1951 führte. Oder sollte es vor
       allem bedeuten, dass Jüdinnen und Juden so etwas nie wieder zustoßen dürfe?
       Diese Überzeugung führte zur Staatsgründung Israels 1948.
       
       Diese beiden Vorstellungen müssen sich nicht widersprechen. Noch nie aber
       standen die unterschiedlichen Lesarten des „Nie wieder“ in einem so
       schroffen Widerspruch wie jetzt. Auf der einen Seite steht eine israelische
       Regierung, die nach dem schrecklichen Massaker der Hamas für sich „freie
       Hand“ beansprucht, um ihre Vorstellung von Sicherheit wiederherzustellen.
       Auf der anderen Seite stehen die [1][Prinzipien des humanitären
       Völkerrechts] und der Menschenrechte, die von Menschenrechtsorganisationen
       und Institutionen wie der UNO verteidigt werden.
       
       Im aktuellen Krieg in Gaza scheint die israelische Armee wenig
       zurückhaltend vorzugehen, und israelische Amtsträger haben mehrfach
       deutlich gemacht, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Schutz
       der Zivilbevölkerung nicht ihre höchste Priorität haben.
       
       Israels Präsident Isaac Herzog machte die gesamte Bevölkerung von Gaza für
       die Taten der Hamas verantwortlich. Premier Netanjahu stilisiert den Krieg
       in religiöser Sprache zu einem Kampf mit dem absolut Bösen, der keine
       Zwischentöne zulässt. [2][„Der Fokus liegt auf Zerstörung, nicht auf
       Genauigkeit“], sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari über die
       militärische Strategie seiner Streitkräfte.
       
       Solchen Worten folgen Taten. Israel stoppte die Zufuhr von Wasser, Strom,
       Treibstoff und Medikamenten – was alle Menschen trifft, die im
       Gazastreifen leben, nicht nur die Hamas. Am 30. Oktober bombardierte
       Israels Armee das dichtbesiedelte Flüchtlingslager Dschabalia im Norden des
       Gazastreifens. Zur Begründung hieß es, ein Hamas-Führer wäre das Ziel
       gewesen.
       
       ## Deutschland in der UN-Generalversammlung
       
       Nach fünf Wochen Krieg ist die Zahl der Toten im Gazastreifen nach
       palästinensischen Angaben bereits auf die Rekordzahl von über 10.000
       gestiegen, darunter mehr als 4.000 Kinder – mehr Kinder, als in den
       vergangenen vier Jahren in allen anderen Konfliktzonen der Welt
       zusammengerechnet umkamen, wie die Organisation Save the Children klagt.
       
       Über 36 Journalisten wurden seit Beginn des Krieges getötet, die meisten
       von ihnen durch israelische Luftangriffe – so viele wie in keinem anderen
       Krieg der vergangenen 30 Jahre, wie das Committe to Protect Journalistst
       sagt. Reporter ohne Grenzen (RDF) haben sich deshalb an den Internationalen
       Strafgerichtshof in Den Haag gewandt. Einige Journalisten, darunter der
       palästinensische Reporter Mohammed Abu Hattab, kamen mitsamt ihrer gesamten
       Familie um. Sie waren nach israelischen Warnungen vor einem Einmarsch aus
       dem Norden geflohen. Doch im Gazastreifen ist keine Gegend mehr sicher.
       
       Im Westjordanland gehen radikale Siedler im Schatten des Kriegs unterdessen
       immer brutaler gegen dort lebende Palästinenserinnen und Palästinenser vor.
       Über 160 von ihnen wurden dort in den vergangenen Wochen getötet. Auf
       Tiktok machten Videos von israelischen Soldaten die Runde, die
       palästinensische Gefangene misshandeln und demütigen.
       
       Angesichts dieser Entwicklungen wirkt es naiv, [3][wenn Bundeskanzler Olaf
       Scholz beim EU-Gipfel in Brüssel behauptet, er habe keine Zweifel daran,
       dass die israelische Armee das Völkerrecht beachte]. Und es wirkt
       kurzsichtig, wenn sich Außenministerin Baerbock in der
       UN-Generalversammlung zusammen mit den rechten Regierungen Großbritanniens
       und Italiens der Stimme enthält, statt mit zwei Dritteln aller Staaten,
       darunter den EU-Partnern Frankreich und Spanien, für eine „sofortige,
       nachhaltige und dauerhafte Waffenruhe“, ungehinderte humanitäre Hilfe für
       Gaza und die „Freilassung aller gefangenen Zivilisten“ zu stimmen. Israel,
       die USA und eine Handvoll weiterer Staaten votierten gegen die Resolution.
       
       Die Bundesregierung macht sich die israelische Lesart des „Nie wieder“ zu
       eigen. Aber damit macht sie es sich zu einfach. Natürlich hat Israel das
       Recht, sich gegen den brutalen Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, dem
       über 1.400 seiner Bürgerinnen und Bürger auf schreckliche Weise zum Opfer
       fielen. Das heißt aber nicht, dass dies in der Form passieren muss, in der
       dies nun geschieht, zumal es damit auch das Leben israelischer Geiseln
       gefährdet.
       
       ## Wertegeleitete Außenpolitik
       
       Selbst US-Präsident Joe Biden warnte Israels Regierung davor, nicht die
       Fehler zu begehen, welche die USA nach dem 11. September gemacht hätten.
       Allein mit brachialer militärischer Gewalt lässt sich dieser Krieg nicht
       gewinnen.
       
       Die Bundesregierung sollte sich daher an die andere, die universalistische
       Bedeutung des „Nie wieder“ erinnern und auf dem Völkerrecht und der Achtung
       der Menschenrechte beharren. Sie sollte auf Menschenrechtsorganisationen
       hören und die internationalen Regeln verteidigen. Und sie sollte dafür
       sorgen, dass der internationale Strafgerichtshof in den Haag mögliche
       Kriegsverbrechen verfolgt, die im Nahost-Konflikt von beiden Seiten
       begangen werden. [4][Das könnte sich sowohl gegen israelische Politiker und
       Offiziere als auch gegen Mitglieder von Hamas und Islamischem Dschihad
       richten]. Deutschland sollte solche Ermittlungen unterstützen.
       
       Dass es dies bisher unterlassen hat, trägt zu einer Kultur der
       Straffreiheit bei, die neue Kriegsverbrechen begünstigt und Israels
       Sicherheit letztlich schadet. Eine wertegeleitete Außenpolitik müsste
       anders aussehen. Ansonsten droht das schrankenlose Recht des Stärkeren
       weltweit noch weiter um sich zu greifen.
       
       13 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Gaza-im-Voelkerrecht/!5967927
 (DIR) [2] https://www.theguardian.com/world/2023/oct/10/right-now-it-is-one-day-at-a-time-life-on-israels-frontline-with-gaza
 (DIR) [3] https://www.sueddeutsche.de/politik/scholz-israel-wird-bei-angriffen-voelkerrecht-einhalten-1.6294278
 (DIR) [4] /Menschenrechtsanwalt-ueber-Krieg-in-Gaza/!5969347
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Daniel Bax
       
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