# taz.de -- Die These: Lasst die Fußgängerzonen sterben
       
       > Corona macht die Fußgängerzonen kaputt – endlich. Sie müssen zugrunde
       > gehen, damit in den Innenstädten etwas Neues entstehen kann.
       
 (IMG) Bild: Oldenburger Innenstadt: Am Montag sollen die Geschäfte als Modellprojekt wieder öffnen
       
       Neulich hat der Norddeutsche Rundfunk 13 Städte und Gemeinden in
       Niedersachsen [1][zu „Auserwählten“ erklärt.] Was für ein Wort! Denn
       auserwählt ist jemand, der von einer höheren Macht – etwa von Gott? – zu
       etwas befugt wird und sich dadurch von anderen abhebt.
       
       Der NDR hat das Wort ironiefrei benutzt, obwohl die höhere Macht hier nur
       die Niedersächsische Landesregierung ist, repräsentiert durch den
       Ministerpräsidenten Stephan Weil, einen SPD-Mann. Die „Auserwählten“ –
       darunter Hildesheim, Oldenburg, Lüneburg, Einbeck und Emden – dürfen vom
       12. April an wieder Trubel und Geschäftigkeit zulassen, weitere Orte kommen
       eventuell später dazu.
       
       Geschäfte dürfen dort öffnen, Theater, Kinos, Fitnessstudios und Museen,
       Straßencafés auch. Natürlich nur unter bestimmten Bedingungen: Wer Zutritt
       zu den sogenannten „sicheren Zonen“ haben möchte, muss einen negativen
       Coronatest vorweisen, muss Maske tragen, bekommt ein farbiges Armbändchen,
       das für einen Tag gilt.
       
       ## In Tübingen erprobt
       
       Und auch wenn einige der Städte jetzt zögern, soll in Niedersachsen wie
       auch im Saarland nachgemacht werden, was in Tübingen bereits erprobt wird.
       Kritik an solchen Planspielen wird gern überhört oder wegmoderiert. In
       Tübingen etwa steigen die Corona-Infektionszahlen, was dann mit der höheren
       Anzahl von Tests begründet wird. [2][Die angebliche wissenschaftliche
       Begleitung solcher Modellprojekte scheint auch eher gering ausgeprägt.] Den
       niedersächsischen Wirtschaftsminister Bernd Althusmann zitierte der NDR mit
       einem denkwürdigen Satz: „Der Weg aus der Krise könne nicht immer nur
       Lockdown lauten.“
       
       Der Epidemieexperte unter den derzeit tätigen Politikern, Karl Lauterbach,
       hat diese Versuche und die fragwürdigen Begründungen dafür mit einem
       nachvollziehbaren Vergleich aus dem Alltagsleben kritisiert: [3][„Testen
       statt Lockdown ist wie Abnehmen durch Essen.“]
       
       Aber, wie es aussieht, geht es bei diesen Versuchen gar nicht darum, genaue
       Erkenntnis darüber zu gewinnen, wie trotz des grassierenden Virus
       öffentliches Leben wieder möglich ist. Vielmehr scheint hier Irrationalität
       im Spiel zu sein. Denn es ist womöglich kein Zufall, dass diese Versuche
       jetzt beginnen, nach dem Osterfest, an dem gläubige Christen das Wunder der
       Auferstehung feiern: den Sieg des Lebens über den Tod. Als wollten die
       Öffnungsverfechter nun das Leben herbeizwingen. Mit dem sehr
       wahrscheinlichen Effekt, dass sie dadurch dem Tod Vorrang geben vor dem
       Leben.
       
       Würden sie vernünftig handeln, dann würden sie davon absehen. Jedoch: Es
       geht ihnen ganz offenbar darum, nicht ihre Bürger und Bürgerinnen, sondern
       ihre Innenstädte und vor allem die Fußgängerzonen zu retten. Und dafür
       riskieren sie Menschenleben. Denn steigende Infektionszahlen werden
       unweigerlich zu mehr Schwerkranken und zu Toten führen.
       
       Auch dieses wahre Motiv hat der NDR benannt: Man darf in den auserwählten
       Orten nun endlich wieder „shoppen gehen“, schrieb er. Kaufen, kaufen,
       kaufen, das ist der Grund für diese wahnwitzige Aktion. Liest man
       Einlassungen Ortskundiger, dann wird dieser Eindruck noch verstärkt. Ulrich
       Schönborn, der Chefredakteur der in Oldenburg erscheinenden
       Nordwest-Zeitung, etwa nennt den Menschenversuch ein [4][„Modellprojekt für
       sicheres Bummeln durch Oldenburgs Innenstadt“], bebildert wird sein
       Kommentar mit einem Foto aus der dortigen Fußgängerzone, die in die
       Geschichte der Stadtplanung eingegangen ist, weil sie das erste
       zusammenhängende Gebiet einer deutschen Stadt war, das fürs
       Einkaufserlebnis autofrei gemacht wurde.
       
       Und dieses Gebiet – ob in Oldenburg oder anderswo – muss gerettet werden,
       weshalb es denen, die es retten wollen, sinnvoll erscheint, den
       fragwürdigen Versuch schönzureden.
       
       Dabei würde ein strenger Lockdown mit komplett geschlossenen Geschäften
       auch und gerade in Fußgängerzonen jene Pause herbeiführen, die diese
       Freiluftarenen des Konsums dringend brauchen, damit die, die für sie
       zuständig sind, in Ruhe darüber nachdenken können, wie es überhaupt
       weitergehen kann.
       
       Die Lage der Fußgängerzonen ist schlecht, und sie war es auch schon vor
       Beginn der Pandemie. Corona hat das Elend nur noch brutaler zutage treten
       lassen. Die Fußgängerzonen jetzt durch scheinbar überlegte Aktionen in
       Schwung zu bringen, den Konsum dort anzukurbeln, würde ihr Ende nur ein
       wenig hinauszögern.
       
       Denn in den Einkaufsstraßen stehen Geschäfte leer, auch in besten Lagen,
       inhabergeführte Läden können sich nur noch halten, weil sie keine Miete
       zahlen müssen; die überall gleichen Ketten bestimmen das triste Bild dieser
       Orte, wenn nicht auch sie längst ihr Filialnetz ausgedünnt haben, weil der
       Onlinehandel ihnen die Kundschaft nimmt.
       
       Esprit ist dabei, die Hälfte seiner Modeläden zu schließen, die
       Parfümeriekette Douglas will jede siebte Filiale aufgeben, Galeria Karstadt
       Kaufhof ein Drittel seiner Häuser. Das Institut für Handelsforschung
       prognostiziert, dass bis 2023 ein Fünftel aller Läden in Innenstädten
       schließen werden, das wären 80.000; der Handelsverband HDE befürchtet gar
       120.000 Läden, die es bald nicht mehr geben wird.
       
       Die Pandemie verschärft das Leiden der Fuzos, wie Fußgängerzonen gern
       abgekürzt werden. Dieser Todesstoß kommt zur rechten Zeit, denn das Projekt
       Fußgängerzone muss beendet werden – um als etwas Neues auferstehen zu
       können.
       
       Begonnen hatte alles auf den Trümmern der zerbombten Städte nach dem
       Zweiten Weltkrieg. Erste autobefreite Straßen entstanden, in Kassel etwa
       machte die Treppenstraße 1953 den Anfang. Später wurden, wie in Oldenburg,
       ganze Stadtkerne umdesignt. Autoverkehr musste weichen, was für viele
       Planer den Nebeneffekt hatte, außerhalb dieser Zonen ihren Traum von der
       autogerechten Stadt zu verwirklichen. Monströse Straßenschneisen
       entstanden, mitunter wurden Stadtplanungsideen der Nazis aus Schubladen
       geholt und endlich umgesetzt, um den Autoverkehr um die Kernstädte zu
       leiten. Die so entstandenen Einkaufszonen passten perfekt in die
       Wirtschaftswunderzeit. Bedarfsweckung trat an die Stelle der
       Bedarfsdeckung.
       
       ## Konsumraum für Konsumtraum der 70er
       
       In den späten 70er Jahren schrieb die Kölner Band Bläck Fööss dieser
       Erlebniswelt mit [5][„Lange Samstag en d'r City“] eine Hymne, man versteht
       sie auch, wenn man des Kölschen nicht mächtig ist. Es war die Hochzeit der
       Fußgängerzone:
       
       „En d'r Stadt es Remmi Demmi/ Alle Parkhüser sin voll/ Üvverall nur
       Minschemasse/ Un die kaufen hück wie doll/ Ne kleine Panz dä es am
       Kriesche/ De Frau Schmitz sök ihr Marieche/ Stauung an 'ner Frittebud/ Denn
       Fritte schmecken immer jut.“
       
       Menschen strömen in die Stadt, sie kommen mit dem Auto, dafür gibt es
       ausreichend Parkmöglichkeiten, sie schlendern umher, werden Teil eines
       Stroms, geben Geld aus, sind mitunter schlecht gelaunt, weil es zu voll
       ist, es geht auch mal jemand verloren, aber zum Abschluss essen sich alle
       an der Imbissbude glücklich.
       
       Das hat lange funktioniert, nach und nach traten jedoch die Schwächen
       zutage: Niemand wollte mehr dort wohnen, Obergeschosse wurden zu
       Lagerräumen, die Städte starben im Kern aus, waren außerhalb der
       Ladenöffnungszeiten trist und leer. Wie Mahnmale stehen hässliche und ihrer
       Funktion beraubte Stadtmöbel dort herum, Pflanzkübel aus Waschbeton,
       galgenartige Lampen.
       
       Oberbürgermeister, Citymanager, Einzelhandelsverbandsleute, lasst die
       Fußgängerzonen sterben und österlich wiederauferstehen als etwas anderes.
       Senkt die Wahnsinnsmieten, kauft leer stehende Immobilien und vermietet sie
       günstig an Leute mit Ideen, an Handwerksbetriebe, sorgt dafür, dass die
       Innenstädte wieder Wohnorte werden, siedelt Volkshoch- und Musikschulen
       dort an, bringt Leben rein, setzt euch zusammen, gebt aber kurzfristig
       nicht Menschenleben auf, um euren Fuzos noch etwas Luft zu verschaffen!
       
       10 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Modellkommunen-Hier-wird-fruehestens-ab-12-April-gelockert,corona7418.html
 (DIR) [2] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-modellprojekte-warum-tuebingen-nicht-als-vorbild-taugt-kommentar-a-f1af2e6b-b7d0-4222-831c-931537b40c63
 (DIR) [3] https://twitter.com/Karl_Lauterbach/status/1376826014735728640
 (DIR) [4] https://www.nwzonline.de/meinung/corona-modellstadt-oldenburg-spiegel-tiefer-verunsicherung_a_51,0,3380056225.html
 (DIR) [5] https://www.youtube.com/watch?v=qpAbd3PIoDo
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Felix Zimmermann
       
       ## TAGS
       
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