# taz.de -- Die serbische Rechte: Der Traum von Großserbien
       
       > Proukrainische Aktivist:innen werden immer wieder von serbischen
       > Nationalisten angegriffen. Die zeigen sich mit Russland solidarisch.
       
 (IMG) Bild: 9. Mai 2022, Belgrad: Russische Propaganda bei Demo zur Erinnerung an den Sieg über Nazideutschland
       
       AUS BELGRAD taz | Am Ufer der Sava auf der linken Seite der Brankovbrücke,
       die Neu-Belgrad und das alte Stadtzentrum verbindet, ziehen sich Häuser den
       Berghang hinauf. Dort befindet sich auch das bekannte Literatur- und
       Kulturzentrum Krokodil, das sich bisher als einzige Kulturinstitution in
       der Hauptstadt Serbiens getraut hat, eine ukrainische Flagge aus
       Solidarität mit dem überfallenen Land zu hissen. Das blieb nicht folgenlos.
       
       Vielfach wurde das Zentrum, das zugleich Bar und Veranstaltungsraum für
       interkulturelle Projekte, Lesungen und Workshops ist, zur Zielscheibe
       serbischer russophiler Nationalisten. Zuletzt in der Nacht vom 21. auf den
       22. April, als die Außenwände mit „Russland“- und „Z“-Aufschriften
       beschmiert wurden.
       
       Auch im März wurde das Zentrum zweimal bei Nacht von jungen Neonazis
       angegriffen, wobei neben Sachschäden glücklicherweise niemand verletzt
       wurde. Nachdem über Wochen hinweg immer wieder ein Antikriegsgraffito der
       russischen emigrierten Künstler:innen Gleb Pušev und Ana Gladiševa mit
       russophilen Aufschriften verunstaltet worden war, entschied man sich, die
       Wände wieder einheitlich grau zu färben.
       
       Warum fühlt sich die serbische Rechte durch Solidaritätsbekundungen mit der
       Ukraine provoziert? Es scheint, dass Russ:innen, die sich gegen den
       [1][Angriffskrieg Russlands] positionieren und die von Putin propagierte
       russische Vormachtstellung anzweifeln, in patriotischen Serb:innen die
       Erinnerung an die 1990er Jahre unter Slobodan Milošević, dessen Vision
       eines Großserbiens und die eigenen Großmachtfantasien wachrufen.
       
       ## Von serbischen Neonazis angegriffen
       
       Serbische Nationalisten gehen dabei mitunter so weit, emigrierte
       Russ:innen aufgrund ihrer Antikriegseinstellung anzugreifen. Ilja Zernov,
       Mitglied der Bewegung Demokratisches Russland und aktiver Demogänger,
       berichtet der taz von einem Überfall, infolgedessen sein Trommelfell
       beschädigt wurde: Demnach wurde der aus Russland vor politischer Verfolgung
       geflüchtete Student bei dem Versuch, auf einem großen prorussischen
       Graffito in Belgrad die Aufschrift „Tod der Ukraine“ zu übermalen, von
       serbischen Neonazis körperlich angegriffen. Drei der fünf Angreifer konnte
       er erkennen.
       
       Bis heute hat Zernov von der Polizei keine Informationen darüber erhalten,
       ob überhaupt ein Verfahren gegen die drei von ihm identifizierten und
       polizeilich gemeldeten Angreifenden eingeleitet wurde. Auch die russische
       und seit vielen Jahren in Belgrad lebende Aktivistin Ekaterina Yashchenko
       berichtet: Es seien bereits einige solcher Fälle bekannt, bei denen
       geflohene russische Staatsbürger:innen Opfer rechter Gewalt in Serbien
       wurden.
       
       [2][Die Jugoslawienkriege sind in Serbien nie richtig aufgearbeitet
       worden]. Die Stiftung für Menschenrechte (Fond za humanitarno pravo) hat
       erst kürzlich einen Bericht über den Revisionismus in serbischen Medien zu
       den Kriegsverbrechen der 1990er Jahre veröffentlicht, in dem zwei Phasen in
       der medialen Berichterstattung ausgemacht werden.
       
       Während in der Phase vom Ende des Milošević-Regimes (2000) bis zum
       Regierungswechsel 2012 die Kriegszeit in den Medien durchaus kritischer
       thematisiert werden konnten, ist nach 2012 mit Machtübernahme der
       Serbischen Fortschrittspartei (SNS), besonders seit der Amtszeit von
       Präsident Aleksandar Vučić ab 2014, eine Zunahme revisionistischer Rhetorik
       zu beobachten.
       
       ## Fehlende Erinnerungspolitik
       
       Da man im ersten Jahrzehnt nach dem Sturz von Slobodan Milošević kein
       klares Narrativ der Kriege der 1990er Jahre formulierte – es wurde bis auf
       das jährliche Niederlegen von Kränzen für serbische Opfer durch
       Staatsbeamte keine Erinnerungspolitik betrieben – tat sich eine
       Deutungslücke auf. Diese nutzte die SNS (im Bündnis mit der Sozialistischen
       Partei Serbiens, SPS) als Chance zur Etablierung eines eigenen und sich von
       der Vorgängerregierung abgrenzenden nationalistischen Narrativs.
       
       Diese [3][„Memory Industry“], ein Begriff der serbischen Historikerin
       Jelena Đureinović, investiert seither Zeit, Geld und Ressourcen in die
       Erinnerungspolitik. So vertreibt etwa das Verteidigungsministerium die
       verschriftlichten Erinnerungen von Kriegsteilnehmern in Košare und
       Paštrik sowie die Memoiren von verurteilten Kriegsverbrechern wie
       Dragoljub Ojdanić und Nebojsa Pavković in einem eigenen Verlag.
       
       Statt anzuerkennen, dass Serbien Kriegsverbrechen wie das Massaker von
       Srebrenica verantwortete, bei dem [4][im Juli 1995 über 8.000 Bosniaken]
       ermordet wurden, werden diese Kriege ganz offiziell als „Befreiungskriege“
       betitelt. Mittels dieser Umdeutung wird die Rückeroberung eines verlorenen
       Territoriums, das in das Mutterland wieder eingegliedert werden müsse,
       imaginiert.
       
       Dunkel erinnert dieses Narrativ an Putins Einheitsrhetorik von „Ukrainern,
       Belarussen und Russen“ als großrussischem Volk und der sich daraus
       ableitende Anspruch auf ukrainischen Boden; Angriff als angebliche
       Verteidigung.
       
       ## Gefestigtes Opfernarrativ
       
       Überhaupt wird an dunkle Kapitel der eigenen Geschichte in Serbien nicht
       gerne erinnert, dazu zählt die Kollaboration mit den deutschen Besatzern
       während des Zweiten Weltkriegs ebenso wie besagte Kriegsverbrechen in den
       1990er Jahren. So konnte sich über die Jahre ein gewisses Opfernarrativ
       festigen, wonach alle gefallenen serbischen Soldaten und Helden an einer
       langen „Leidensgeschichte“ mitschreiben.
       
       Beginnend mit dem Kosovomythos, der sogenannten Schlacht auf dem Amselfeld
       1389, als der später heiliggesprochene Fürst Lazar die Serben gegen die
       Osmanen verteidigte, setzt sich diese Geschichte in den
       Unabhängigkeitskämpfen gegen die Habsburger, das Osmanische Reich oder
       Österreich-Ungarn und sogar im Partisanenkampf gegen Hitlerdeutschland
       fort.
       
       Heute wird sie weitergeschrieben und instrumentalisiert von Präsident
       Vučić, der sich als Verteidiger aller Serben außerhalb serbischen
       Staatsgebietes, in der „Republika Srpska“ in Bosnien und Herzegowina oder
       im Kosovo, inszeniert.
       
       Dieses Zusammenspiel von Heldentum und Leiden findet sich auch in der
       Rhetorik Putins wieder, der wiederholt auf die Sicherheitsinteressen des
       postsowjetischen Russlands verweist. Die angeblich vom Westen gesteuerte
       Ukraine steht einem aufrichtigen Russland entgegen. Dieser Opfermythos
       gepaart mit einer behaupteten Vormachtstellung und der Abgrenzung gegenüber
       westlichen Feinden – in Russland sind das die „ausländischen Agenten“, in
       Serbien die „nationalen Verräter, ausländischen Lohnempfänger“ – verbindet
       beide Länder.
       
       ## Vermeintliche historisch-kulturelle Nähe zu Russland
       
       Dabei geht es teils widersprüchlich zu: Einerseits wird in Serbien stets
       eine historische Nähe zu Russland beschworen. [5][So hätten die Russen den
       Serben in manch schwerer Stunde beigestanden.] Interessanterweise spielt
       indes Serbien für die russische Geschichtspolitik überhaupt keine Rolle.
       
       Progressive Kräfte in Belgrad machen dieser Tage oft den Scherz, in
       Russland würde man Serbien mit Sibirien verwechseln, so wenig wisse man
       über das Land. Es ist die einseitige Liebe eines großen Teils der
       serbischen Gesellschaft: 40 Prozent der Serben würde lieber ein Bündnis mit
       Russland als mit der EU eingehen. Seit 2012 ist Serbien offiziell
       EU-Beitrittskandidat, Präsident Vučić schlingert seit Jahren zwischen Ost
       und West hin und her.
       
       Von der beschworenen historisch-kulturellen Nähe zu Russland kann kaum die
       Rede sein: Serbisch-russische Beziehungen waren im 20. Jahrhundert nahezu
       nicht existent. Ein Vergleich mit einem anderen südslawischen Nachbarland
       macht das deutlich: Die slawische Bruderschaft und der orthodoxe Glaube,
       die als Gemeinsamkeiten zwischen Serb:innen und Russ:innen immer wieder
       in der Formel „Russen und Serben – Brüder für immer“ auf prorussischen
       Großdemonstrationen skandiert werden, könnten auch auf andere orthodoxe
       slawische Völker zutreffen, wie etwa auf Bulgarien. Bulgarien hat jedoch
       immer Kontakt mit der Sowjetunion gehabt, weil es Teil des Ostblocks, des
       Warschauer Pakts und des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) war.
       
       Diese intensiven Beziehungen bestanden nicht zwischen der Sowjetunion und
       Jugoslawien, das sich unter Tito 1948 von Stalin entfernte. Wie der
       Historiker Nenad Stefanov einmal im österreichischen Standard ausführte,
       erweist sich das slawische orthodoxe Russland gerade wegen des seit so
       vielen Jahren nicht bestehenden Kontakts als ideale Projektionsfläche für
       den verletzten serbischen Nationalstolz. Belgrad war schließlich einmal das
       Zentrum des Vielvölkerstaats Jugoslawien.
       
       Wenn sich nun dieser Tage der Hass von serbischen Nationalisten als Gewalt
       gegen Menschen, die sich mit der Ukraine solidarisieren, entlädt, ist diese
       Gewalt auch als gegen den Westen gerichtet zu werten. Es waren stets
       internationale, als westlich wahrgenommene Institutionen, wie der
       Internationale Gerichtshof in Den Haag, der den serbischen Staat mittels
       Gerichtsverfahren an die eigene Kriegsschuld der 1990er Jahre erinnert – im
       Gegensatz zu Russland.
       
       10 May 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Philine Bickhardt
       
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