# taz.de -- E-Mail an Corona-Skeptikerin: Das macht mich wütend
       
       > Unser Autor bekommt eine E-Mail von einer Person, die ihm nahesteht. Voll
       > mit Halbwahrheiten und zurechtgedrehter Kritik zu Corona. Hier die
       > Antwort.
       
 (IMG) Bild: Kritisch bleiben ist wichtig, Quellen überprüfen auch
       
       Liebe X,
       
       wir kennen uns schon eine ganze Weile. Dass wir politisch nicht immer einer
       Meinung sind, ist mir gelegentlich aufgefallen. Als ich deine letzte Mail
       gelesen habe, musste ich trotzdem schlucken.
       
       „Ist dieses Virus wirklich so gefährlich?“, fragst du. „Warum hört man in
       den Medien keine abweichenden Meinungen? Woher bekomme ich unabhängige
       Informationen?“ Dazu hast du eine PDF-Datei angehängt: „[1][120
       Experten-Stimmen zu Corona]“.
       
       Seit Ende April kursiert diese Zitatsammlung im Netz, ein Autor ist nicht
       angegeben. Es geht weder um Reptilienmenschen noch um die Rothschilds.
       Selbst [2][Bill Gates] taucht nur einmal auf. Stattdessen: Virolog*innen,
       die das Coronavirus für harmlos halten. Jurist*innen, die
       Grundrechtseinschränkungen geißeln. Ärzt*innen, die für schnelle
       Durchseuchung werben. Es sind die Argumente derer, die nicht spinnen, aber
       die Coronamaßnahmen der Regierungen trotzdem für Wahnsinn halten.
       
       ## Durchpusten statt aufpusten
       
       Es tut mir leid, dass ich auf deine Mail erst jetzt antworte. Ich hatte mir
       eigentlich vorgenommen, die 24 Seiten komplett durchzuarbeiten:
       Originalquellen aufrufen, Übersetzungen einholen, Kontext lesen, vielleicht
       auch mal am Telefon eine Nachfrage stellen.
       
       Ich bin gescheitert. Nach drei Tagen habe ich gerade mal die Hälfte durch.
       Erst am zweiten Tag ist mir aufgefallen, dass viele Zitierte mehrfach
       auftauchen. Eine Aussage erscheint sogar wortgleich an zwei Stellen.
       
       Wer die Zahl der Zitierten so aufpustet, lässt die Gruppe der
       Kritiker*innen größer erscheinen, als sie tatsächlich ist. Durch die
       schiere Menge wird es fast unmöglich, alles herauszufiltern, was nicht
       stimmt, nicht belegt oder schlicht veraltet ist. Das Statement eines
       israelischen Biochemikers zum Beispiel, der Ende März sagte, er wäre
       überrascht, wenn sein Land am Ende mehr als zehn Coronatote zu beklagen
       habe. Etwa einen Monat später lag die offizielle Opferzahl bei 200. Wie
       viele wären es heute wohl ohne die auch in [3][Israel] sehr harten
       Gegenmaßnahmen?
       
       ## Grautöne erlauben
       
       Viele Aussagen finde ich sogar richtig. Das totale Demonstrationsverbot zum
       Beispiel, das vielerorts wochenlang galt, war nicht verhältnismäßig.
       
       Die Datengrundlage für die geltenden Einschränkungen ist noch immer
       erschreckend dünn. Und ganz sicher werden nicht nur Menschen an Corona
       sterben, sondern auch an den Folgen der Corona-Schutzmaßnahmen.
       
       Über all das berichten Medien übrigens seit Wochen. Sie lassen Menschen wie
       Boris Palmer, Juli Zeh und Julian Nida-Rümelin zu Wort kommen, die einen
       liberaleren Umgang mit dem Virus fordern. Journalist*innen beschränken sich
       allerdings nicht darauf, sondern hören weitere Stimmen, beleuchten andere
       Aspekte, erlauben Grautöne. Die Macher*innen deiner PDF-Datei picken sich
       nur das heraus, was ihre These stützt: dass das komplette Regierungshandeln
       Mist sei. Das ist das Gegenteil von Journalismus. Und ganz ehrlich? Das
       macht mich wütend.
       
       ## Hinterfragen ist richtig
       
       Manche Versuche sind besonders plump – zum Beispiel wenn die Macher*innen
       des PDFs Ökonom*innen zitieren, die vor wirtschaftlichen Schäden der
       Coronarestriktionen warnen, aber verschweigen, dass andere Ökonom*innen
       auch vor wirtschaftlichen Schäden einer unkontrollierten Coronaverbreitung
       warnen. Oder wenn eine Analyse österreichischer Wissenschaftler zitiert
       wird, derzufolge bei Corona die „Altersabhängigkeit“ des Sterberisikos
       konsistent sei „mit der des allgemeinen jährlichen Sterberisikos“. Dass die
       Forscher im selben Papier trotzdem „umfassende Maßnahmen“ gegen die
       Corona-Ausbreitung unterstützen, taucht in deinem PDF nicht auf.
       
       Wie groß die Bedrohung tatsächlich ist? Noch kann das niemand genau sagen.
       Das Virus ist neu. Viele Informationen sind widersprüchlich, viele Fragen
       noch offen. Daraus zu schließen, dass keine der vorherrschenden Annahmen
       stimmen kann, fände ich aber falsch. Diese Annahmen zu hinterfragen, ist
       trotzdem richtig. Dass diese Ungewissheit schwer zu ertragen ist, kann ich
       gut verstehen. Es geht mir genauso.
       
       Liebe Grüße. Bleib gesund!
       
       21 May 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.tank-deutschland.de/120-expertenstimmen-zu-corona/
 (DIR) [2] /Abschluss-der-WHO-Generalversammlung/!5687163&s=Bill+Gates/
 (DIR) [3] https://coronavirus.jhu.edu/data/mortality
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tobias Schulze
       
       ## TAGS
       
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