# taz.de -- Ein Jahr nach dem tödlichen Unfall: Endlich Vernunft auf der Kantstraße
       
       > … oder doch nicht? Berliner RadaktivistInnen loben die Pop-up-Radspur.
       > Bei deren „Verstetigung“ hakt es aber zwischen Senat und Bezirk.
       
 (IMG) Bild: Der Unfall am 7. Februar 2020 löste Proteste und eine neue Debatte aus
       
       BERLIN taz | Am Sonntag ist es genau ein Jahr her: Damals [1][raste ein
       BMW-Fahrer] über die Charlottenburger Kantstraße in Richtung Westen, wich
       einem anderen Fahrzeug aus, kam ins Schlingern und überfuhr einen
       64-jährigen Radfahrer auf der Busspur. Der Mann starb kurz darauf im
       Krankenhaus. Er war der vierte von insgesamt 15 Radfahrenden, die im
       vergangenen Jahr von einem Lkw, Pkw oder Bus tödlich verletzt wurden.
       
       Rad-AktivistInnen hatten die Kantstraße schon lange als höchst
       problematisch identifiziert, aber der Unfall und die darauffolgenden
       Proteste beschleunigten das Behördenhandeln entscheidend: Seit Ende Juni
       verläuft auf voller Länge von Kantstraße und Neuer Kantstraße [2][eine
       geschützte „Pop-up“-Fahrradspur]. Ein gutes halbes Jahr später fällt die
       Bilanz der Radlobby hervorragend aus – wie schnell es mit der geplanten
       „Verstetigung“ klappt, ist aber weiterhin unklar. Derweil sind die
       temporären Markierungen zum Teil schon stark verblasst.
       
       „Man fühlt sich wohl, sicher und geschützt“, sagt Aktivist Heinrich
       Strößenreuther, der im Frühjahr zu wöchentlichen Demos mobilisiert hatte.
       Die Kantstraße sei „in der Summe wesentlich ruhiger“, ja viel mehr zur
       Ausgehstraße geworden, was an der Beruhigung des Verkehrs liege: „Die
       Abgase sind zurückgegangen, und es kann keine illegalen Autorennen mehr
       geben, da ja nur noch eine Spur vorhanden ist.“
       
       Tatsächlich bringt die Pop-up-Bikelane Ordnung in eine Straße, auf der es
       bislang ziemlich anarchisch zuging: Von zwei Kfz-Spuren wurde auf der
       rechten immer wieder illegal geparkt, was RadlerInnen zu gefährlichen
       Spurwechseln zwang.
       
       Schlugen im Sommer die Wellen noch hoch – die FDP sah das Ende des
       Einzelhandels besiegelt und SPD-Fraktionschef Raed Saleh behauptete,
       „Anwohner, Rad-, Bus- und Autofahrer“ lehnten die Lösung ab –, hat sich das
       neue Normal mittlerweile etabliert und dabei für deutlich mehr Radverkehr
       gesorgt. Das Aufkommen habe sich vervierfacht, schätzt Strößenreuther,
       außerdem seien viel mehr Frauen auf dem Rad unterwegs: „Von vorher
       vielleicht 5 bis 10 Prozent ist das gefühlt auf über 60 Prozent
       angewachsen.“
       
       Verstetigt, also dauerhaft angelegt werden sollte die Radspur ohne größere
       Veränderungen, findet Strößenreuther. Nur im westlichen Abschnitt – ab der
       Wilmersdorfer Straße – seien Radelnde noch nicht vom Fließverkehr
       geschützt: „Das bedürfte einer langwierigeren Lösung.“ Dort wird nicht
       parallel, sondern senkrecht zur Fahrbahn auf dem Gehwegbereich geparkt, was
       zur Folge hat, dass Autos beim Parken oder Ausparken die Radspur kreuzen.
       Auf dem östlichen Abschnitt verläuft die Radspur dagegen jetzt geschützt
       zwischen Gehweg und Pkw-Parkspur.
       
       ## Man ist „im Gespräch“
       
       Bis Ende April hat die Senatsverkehrsverwaltung die vorläufige Anordnung
       der Radspur verlängert. Kommt dann sofort die dauerhafte Anordnung? Oder
       sinnvollerweise sogar schon früher? Im Hause der Verkehrssenatorin sieht
       man alles auf gutem Wege: „Wir sind im Gespräch mit dem Bezirk“, so der
       Sprecher von Regine Günther (Grüne). Die Umsetzung der verstetigten Spur
       liege in der Zuständigkeit des Bezirks, man erwarte aber von diesem
       „ausschließlich die Planungsleistungen, die nach Zuständigkeitsverteilung
       zu erwarten sind“.
       
       Spricht man mit dem zuständigen – ebenfalls grünen – Bezirksstadtrat Oliver
       Schruoffeneger, klingt das schon länger nicht ganz so reibungslos. Auch
       jetzt hake es massiv, weil die Feuerwehr Probleme bei den
       Zufahrtsmöglichkeiten moniere, so Schruoffeneger zur taz. „Wir haben die
       Senatsverwaltung gebeten, zu klären, wie damit umzugehen ist. Man hat uns
       zurückgemailt, wir sollten doch ermitteln, wie breit die Feuerwehrwagen
       sind. Das ist nun wirklich nicht unsere Zuständigkeit.“
       
       Der Stadtrat bestätigt, dass Gesprächsrunden mit der Senatsverwaltung
       stattfinden, allerdings nicht auf regelmäßiger Basis. Auf die Frage, wie es
       jetzt weitergehen solle, antwortet er kurz und bündig: „Die müssen das
       Problem mit der Feuerwehr lösen – und dann anordnen.“
       
       Was die verblassten Markierungen angeht, verweist das Bezirksamt auf die
       begrenzte Haltbarkeit von Materalien, die nicht für den dauerhaften Einsatz
       gedacht sind. Ausbesserungen stünden auch an, das feuchte und kalte Wetter
       sei dafür aber eigentlich ungeeignet. Möglicherweise werde man die Firmen
       aber bitten, die suboptimale Variante zu wählen, bei der der Asphalt mit
       einer Gasflamme für die Neumarkierung getrocknet werde.
       
       ## „Jetzt nicht aufhören“
       
       Radaktivist Strößenreuther mahnt derweil, nicht mit der Ausweisung neuer
       Radspuren aufzuhören, sondern „jetzt richtig Fahrt aufzunehmen“: „Es gibt
       unzählige Straßen, wo durch den Tausch Parkstreifen mit Radstreifen sofort
       für massiv mehr objektive wie subjektive Sicherheit gesorgt werden kann.“
       Wichtig sei, dass Kreuzungen eigenes Augenmerk verdienten: „Auch ein guter
       Radweg macht eine schlechte Kreuzung nicht sicher.“
       
       Trotz aller lobenden Worte kann sich der Rad-Mann einen beißenden Kommentar
       zur Kantstraße nicht verkneifen: „Leider scheint immer noch erst jemand
       sterben zu müssen, bevor Wallung in den Verwaltungen aufkommt.“
       
       5 Feb 2021
       
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