# taz.de -- „Ein Volksfeind“ in Berlin: Vergiftete Quellen
       
       > Die nächste Machenschaft kommt bestimmt: Thomas Ostermeier hat sich
       > Ibsens "Ein Volksfeind" und dessen Zweifel an der Demokratie in Zeiten
       > der Krise vorgenommen.
       
 (IMG) Bild: Stefan Stern als Dr. Stockmann: Szenenfoto aus „Ein Volksfeind“.
       
       „Hast du dir mal die Mühe gemacht, durchzurechnen, wie teuer das wird?“
       Wenn Ingo Hülsmann als Stadtrat Peter Stockmann diese Frage an seinen
       Bruder, den Badearzt, stellt, dann ist seine Stimme von Gravität
       bleischwer. Oho, verkündet die Betonung jeder einzelnen Silbe, ich trage
       hier die Verantwortung und spreche für viele.
       
       Die helle Aufregung seines Bruders, der herausgefunden hat, dass
       verseuchtes Wasser aus den Fabriken oberhalb des Kurbades dessen Quellen
       vergiftet und deshalb neue Wasserleitungen fordert, soll an dieser Gravität
       zerschellen wie an einem Felsen. Das tut sie aber nicht.
       
       Dr. Stockmann, von Stefan Stern zunächst als Idealist angelegt, der leicht
       verschusselt schon mal gegen den Türrahmen rennt, kann nicht fassen, dass
       ökonomisches Kalkül der Veröffentlichung der Wahrheit entgegenstehen soll.
       
       ## Preis der Veränderung
       
       Die Parallelen zu diesem Diskurs um Ökonomie und Wahrheit, den Henrik Ibsen
       vor 130 Jahren bearbeitete, liegen gerade wieder greifbar nah. Man denke
       nur an die Darstellung der Kosten der Energiewende, wie mit der Angst vor
       den Kosten die Angst vor der Veränderung geschürt wird.
       
       Die Frage, welche Chance die Einsicht in die Notwendigkeit des Umbaus gegen
       das Primat der Ökonomie hat, dekliniert „Ein Volksfeind“ am Mikroschauplatz
       eine Kurortes Ende des 19. Jahrhunderts durch. Gleich zwei Theater in
       Berlin haben den „Volksfeind“ auf ihren Spielplan im September gesetzt, der
       Inszenierung von Thomas Ostermeier an der Schaubühne folgt eine am
       Gorki-Theater in der Regie von Jorinde Dröse.
       
       Im Mittelpunkt des Konflikts stehen die beiden Brüder, schon immer uneins
       in ihrer Haltung. Der Gegensatz zwischen dem politischen Karrieristen und
       seinem nur schwer Fuß fassenden Bruder ist das Pfund, mit dem die über
       lange Zeit spannende Inszenierung wuchert, daraus schlägt sie ihre
       unterhaltsamen und emotionalen Funken, die dem trockenen Stoff nicht leicht
       abzugewinnen sind.
       
       Etwas blasser bleiben die übrigen Konflikte, etwa zwischen Dr. Stockmann
       und dem befreundeten Journalisten Hovstad, der in dem Wasserskandal zuerst
       die Chance wittert, mit den undurchlässigen Machenschaften der
       Stadtverwaltung überhaupt abzurechnen, sich dann aber von Stadtrat und
       Hausbesitzerverein auf Linie bringen lässt.
       
       ## Gelungener Auftakt mit David Bowie
       
       Eine Karikatur der Figuren als schnell durchschaute Charaktermasken liegt
       nahe, mancher „Volksfeind“ auf der Bühne erschöpft sich darin, aber
       Ostermeier will mehr: den realen Handlungsraum erkunden, wie ihn sich etwa
       jeder der Zuschauer an Stelle der Figuren vorstellen könnte.
       
       Also müssen wir die Personen nahe an uns heranlassen, dafür sorgt der
       spielerische Auftakt, wenn Stockmann, seine Frau und die beiden
       Journalisten Hovstad und Billing in einer Band zusammen proben, David
       Bowie, „Time may change me.“ Das ist atmospärisch ein gelungener Auftakt,
       melancholisch und warmherzig – aber warum dann diese Freundschaft so
       schnell dem Opportunismus weicht, wird nicht mit der gleichen Intensität
       erzählt.
       
       ## Radikalität gesucht
       
       Die größte Geste der Regie aber ist eine Übermalung des Dramas. Tatsächlich
       wird der Bühnenraum umgestrichen, der verbitterte Stockmann, dessen Text
       Hovstad nicht mehr drucken will, tritt zu einer Rede an die Kurstadt an. An
       dieser Stelle überschreibt die Schaubühne Ibsens Text mit einem Abschnitt
       aus „Der kommende Aufstand“, mit dem Ende 2010 ein „unsichtbares Komitee“
       aus Frankreich Furore machte.
       
       So einleuchtend der Text szenisch mit dem Drama verflochten ist, so sehr
       sich auch die Emotionen des ins Unrecht gesetzten Badearztes und der
       Manifestautoren verbinden, inhaltlich ist dieser Link auch Augenwischerei.
       Denn der flammende Text ist in seiner Kritik am Individualismus und
       gezüchteten Egoismus zugleich auch vage, die Sprecherposition brüchig, nur
       ihr Pathos ungebrochen.
       
       Auch Stockmann wird bei Ibsen an dieser Stelle pathetisch, sieht sich als
       Märtyrer, der alle anderen als dumm verdammt – das ist der Moment, wo der,
       der bisher Held des Dramas war, heftige Risse bekommt, sich diktatorisch
       gebiert. Obwohl die Schauspieler jetzt versuchen, das Publikum zu agitieren
       und darüber in eine Diskussion zu verwickeln, verliert sich die
       Zielgenauigkeit, Radikalität scheint auf, aber als ungefähres Irgendwie.
       
       Und als die Inszenierung dann doch zum Drama zurückkehrt und seinen letzten
       Volten, ist man der vielen Worte müde und nicht mehr so interessiert an den
       nächsten dreckigen Machenschaften.
       
       10 Sep 2012
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katrin Bettina Müller
       
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