# taz.de -- Entscheidung über Organspende: Auf Herz und Niere
       
       > Bald muss meine Freundin an die Dialyse. Es sei denn, jemand spendet ihr
       > eine Niere. Soll ich das machen? Die Geschichte einer Entscheidung.
       
       Hilde, meine Freundin, führt mich durch Wiens enge Gassen. Es ist kalt, und
       wir ziehen uns die Mützen straff über den Kopf. „Es gibt auch die
       Lebendorganspende“, höre ich sie sagen. Der Satz klingt in meinen Ohren.
       Nicht erst nach dem Tod, sondern zu Lebzeiten ein Organ spenden – wie das
       wohl wäre?
       
       Hilde und ich sehen uns einmal im Jahr, dieses Mal bin ich dran, sie in
       Wien zu besuchen. Nachdem sie viele Jahre in einer schwäbischen Kleinstadt
       lebte, zog sie zurück in die österreichische Hauptstadt, in der sie als
       junge Frau studiert hat.
       
       Begeistert beschreibt sie Wiens Vorzüge, angefangen mit den günstigen
       Nahverkehrsmitteln und dem großen Kulturangebot. Aber in Österreich zu
       leben ist für sie auch deshalb von Vorteil, weil man dort schneller ein
       Fremdorgan bekommt als in Deutschland. Und das wird sie brauchen.
       
       Denn Hilde leidet an Zystennieren, einer genetisch bedingten Erkrankung,
       bei der sich überall in den Nieren flüssigkeitsgefüllte Hohlräume bilden.
       Hilde ist 62 Jahre, wir sind fast gleich alt. Sie hat die Krankheit bisher
       gut in Zaum gehalten. Doch Zystennieren sind weder operabel, noch lassen
       sie sich mit Medikamenten bekämpfen.
       
       Zu den Hauptaufgaben der Nieren gehört es, das Blut zu reinigen. Zusammen
       mit überschüssigem Wasser filtern sie nicht mehr benötigte Stoffe, um
       lebensgefährliche Vergiftungserscheinungen zu verhindern.
       
       Die Zunahme an Zysten schreitet fort, bis Hildes Nieren versagen und ein
       Dialysegerät die Blutwäsche übernehmen muss. Die Aussicht auf eine Dialyse
       ist für Hilde bedrückend, denn zu den möglichen Nebenwirkungen gehören
       Muskelkrämpfe, Schwindel, Kopfschmerzen und vieles mehr. Das Leben von
       Dialysepatienten und -patientinnen ist getaktet; in der Regel müssen sie
       drei bis viermal in der Woche das Dialysezentrum aufsuchen. Die Blutwäsche
       dauert [1][ungefähr vier Stunden.]
       
       Hilde hat vieles versucht: Sie hat ihre Ernährung umgestellt, hat eine
       Ayurveda-Klinik aufgesucht, ist jedem ärztlichen Rat gefolgt. Vielleicht
       haben sich deshalb ihre Nierenwerte erstaunlich lange stabil gehalten, doch
       aufhalten lässt sich der Verfall nicht. Die einzige Möglichkeit, die
       Dialyse zu umgehen, ist für sie eine Nierentransplantation. Hildes Bruder
       lebt seit dreieinhalb Jahren mit der Niere eines postmortalen
       Organspenders. Sein Körper hat das neue Organ gut angenommen. Ob ihr
       dasselbe Glück widerfahren wird?
       
       Im Gegensatz zu Deutschland herrscht in Österreich die
       [2][Widerspruchslösung], die besagt, dass grundsätzlich eine Organentnahme
       eines am Hirntod verstorbenen Menschen zulässig ist, sofern dieser nicht zu
       Lebzeiten aktiv einer Organspende widersprochen hat. Trotzdem befanden sich
       in Österreich, Stand Dezember 2021, über 800 Menschen auf der Warteliste.
       
       In Deutschland existiert hingegen die [3][Entscheidungslösung,] das heißt,
       dass eine Organspende grundsätzlich nur dann möglich ist, wenn der
       Organspender zu Lebzeiten eingewilligt oder sein nächster Angehöriger
       zugestimmt hat. Doch immer weniger Menschen spenden ihre Organe. Jährlich
       warten etwa 8.000 Menschen auf eine neue Niere. Deshalb drängt
       Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach darauf, die Organspendegesetze
       grundlegend zu reformieren.
       
       Im Bundestag wurde im Januar 2020 über die Widerspruchslösung debattiert,
       aber die Reform scheiterte. Nun sollen die Bürger über zusätzliche
       Informations- und Aufklärungsangebote dazu ermutigt werden, sich aktiv für
       oder gegen eine Spende zu entscheiden und dies in einem Organspendeausweis
       oder einer Patientenverfügung festzuhalten.
       
       Die meisten Organe werden postmortal gespendet. Damit ein Patient [4][für
       hirntot erklärt wird], müssen zwei qualifizierte Mediziner unabhängig
       voneinander zur selben Diagnose gekommen sein.
       
       Zu den 39 Prozent der deutschen Bevölkerung, die einen Organspendeausweis
       mit sich tragen, gehöre ich nicht. Ich finde die Vorstellung schlimm, mein
       Sterbensprozess könnte aufgehalten und der Körper künstlich am Leben
       erhalten werden, damit ihm Organe entnommen werden. Sollten wir über eine
       Seele verfügen, wo hält diese sich in dem Prozess des Sterbens auf? Was
       passiert mit ihr, wenn der Körper weiterarbeitet, das Bewusstsein aber
       ausgeschaltet ist?
       
       ## Sind wir Menschen mehr als Körper und erlöschender Verstand?
       
       Ich bin weder religiös, noch bezeichne ich mich als spirituell. Aber ich
       schließe nicht aus, dass wir Menschen mehr sind als unser physischer Körper
       und ein mit dem Tod erlöschender Verstand. „Für meine Kinder habe ich mir
       natürliche Geburten gewünscht“, erkläre ich Hilde. „Mit dem Sterben ist es
       genauso: Ich möchte aus dem Leben gehen, ohne dass in den Prozess
       eingegriffen wird. Weil ich nicht weiß, welche Auswirkung ein künstliches
       Eingreifen haben kann.“
       
       Vor dem Schaufenster eines kleinen Ladens bleiben wir stehen und setzen
       unser Gespräch fort. Sein glitzernder Weihnachtsschmuck tut unseren Augen
       fast weh.
       
       Während die Dialyse bisher weit weg schien, rückt sie für Hilde bei
       zunehmendem Alter und dem sich verschlechternden GFR-Wert näher.
       
       GFR ist die Abkürzung für glomeruläre Filtrationsrate. An diesem Wert wird
       erkannt, wie die Nieren das Blut von frei filtrierbaren Stoffen reinigen,
       die dann über den Urin wieder ausgeschieden werden. Anhand dieser
       Bestimmung lässt sich das Stadium einer Nierenerkrankung ermitteln.
       
       Bei jungen, nierengesunden Menschen beträgt der Wert [5][90–130 Milliliter
       pro Minute], doch liegt er unter 60 ml/min, bedeutet das, dass die
       Nierenfunktion nur noch zu 60 Prozent erfüllt wird. Ab einem Wert von 10–15
       ml/min werden in der Regel Vorbereitungen für die Dialyse getroffen. Davon
       ist Hilde noch ein kleines Stück entfernt.
       
       Ich erinnere mich daran, dass die Organspende des Bundespräsidenten
       Frank-Walter Steinmeier an seine Frau vor zehn Jahren das Thema in die
       Öffentlichkeit gebracht hatte. Damals dachte ich: „Ist doch klar. Würde
       doch jeder für seinen Partner tun.“ Aber ich habe diese Nachricht nicht in
       Verbindung mit meiner Freundin gebracht. Warum eigentlich nicht?
       
       „Wer kommt für eine Lebendorganspende infrage?“ hake ich nach. „Das kann
       theoretisch jeder sein – Hauptsache, die Werte passen zusammen“, erklärt
       Hilde. „Erlaubt ist es aber nur unter Menschen, die entweder verwandt sind
       oder in einem nahen Verhältnis zueinander stehen. Damit soll ausgeschlossen
       werden, dass jemand sein Organ verkauft.“
       
       Günstig ist es, wenn die Blutgruppen zusammenpassen. Wenn nicht,
       ermöglichen medizinische Verfahren dennoch, dass es geht. Bestimmte
       Gewebemerkmale von Spender:innen und Empfänger:innen sollten auch
       übereinstimmen. Und natürlich müssen Spendende über eine gute
       gesundheitliche Konstitution verfügen. „Kein Ding der Unmöglichkeit“, denke
       ich. Gerade will ich weiterfragen, da zieht mich meine Freundin in den
       Laden hinein: „Hier gibt es den schlimmsten Weihnachtsschmuck, den man in
       der Stadt finden kann“, sagt sie.
       
       ## Wir haben sogar am selben Tag Geburtstag
       
       Ein paar Wochen später wird Hilde mir sagen, dass sie genau spürte, wie
       sich in mir, ihrer Freundin, vor dem mit Weihnachtsdeko überladenen
       Schaufenster eine Tür öffnete. Sie öffnete sich so weit, dass es ihr beim
       Hinsehen schwindlig wurde.
       
       Hilde und ich kennen uns seit über dreißig Jahren. Wir müssen uns nicht oft
       sehen, um uns einander verbunden zu fühlen. Dass wir am selben Tag
       Geburtstag haben, verstärkt das Gefühl, sich nahe zu sein. Ich habe schon
       immer bewundert, wie reflektiert und rational Hilde mit ihrer
       gesundheitlichen Situation umgeht. Sie jammert nicht, sondern sucht aktiv
       nach Möglichkeiten, der Krankheit zu begegnen.
       
       Interessanterweise finde ich die Vorstellung, zu Lebzeiten ein Organ zu
       spenden, viel weniger bedrohlich als die Situation, dies in einem hirntoten
       Zustand zu tun. Vielleicht weil man den Vorgang – abgesehen von der OP
       natürlich – bewusst mitverfolgen und unter Umständen auch die Konsequenzen
       miterleben kann?
       
       Wieder zu Hause in Baden-Württemberg recherchiere ich zum Thema
       Organspende. Ich erfahre, dass die Chancen für den Empfänger, dass er die
       fremde Niere annehmen wird und diese auch langfristig in seinem Körper
       funktioniert, höher ist als bei einem Organ, das nach dem Tod gespendet
       wird.
       
       ## Spenden kann, wer zwei gesunde Nieren hat
       
       Ein Grund dafür ist, dass beide Operationen zeitlich nur kurz versetzt
       verlaufen. So besteht kaum Gefahr, dass das Organ einen Schaden erleidet.
       Außerdem fehlt bei verstorbenen Spender:innen der Gesundheitscheck, der
       bei Lebendspender:innen vor der Transplantation vorgenommen wird.
       
       Jeder gesunde Mensch kommt mit nur einer Niere aus, die allein zwar nur
       noch 70 Prozent an Leistung erbringt, diese ist aber ausreichend, um
       weiterhin ein gesundes Leben ohne irgendwelche Einschränkungen zu führen.
       Spenden kann, wer zwei gesunde Nieren hat, ein gut funktionierendes Herz,
       normale Gefäße, keinen Bluthochdruck und keinen Blutzucker. Und die
       Empfänger:innen müssen bereits auf der Warteliste stehen, weil ein
       Nierenversagen absehbar ist. Nur dann, wenn es kein Organ eines
       Verstorbenen gibt, kommt die Lebendspende in Frage; diese Hürde gibt es
       vermutlich, um den Lebendspender zu schonen.
       
       Auf der Warteliste für ein Organ ist Hilde noch nicht vermerkt, aber laut
       Einschätzung ihrer Nephrologin wird es nicht mehr allzu lange dauern. Und
       die Schmerzen in ihren Nieren nehmen zu.
       
       In einem Gespräch mit einer Kommission aus Experten wird sichergestellt,
       dass Spendende weder unter psychischem Druck stehen noch die Spende aus
       finanziellem Anreiz leisten möchten.
       
       ## Bin ich zu alt dafür?
       
       Ich suche meinen Hausarzt auf und stottere herum. Es ist das erste Mal,
       dass ich mein Vorhaben laut ausspreche. Schließlich erkläre ich ihm, dass
       ich meiner Freundin eine Niere spenden möchte. Womöglich bin ich aber zu
       alt dafür?, zweifele ich. Nein, überhaupt nicht, beruhigt er mich: „Solange
       Sie gesund sind, ist das Alter völlig egal.“
       
       Sind alle medizinischen und psychologischen Voraussetzungen erfüllt, wird
       dem Spender in der Regel mit einem minimal-invasiv durchgeführten Eingriff
       eine Niere entfernt und auf den Empfänger übertragen. Dank der
       „Schlüssellochtechnik“ bleibt also nicht einmal mehr, wie es früher der
       Fall war, eine längliche Narbe am Bauch zurück.
       
       Die Nachbetreuung im Krankenhaus dauert ein bis zwei Wochen, und insgesamt
       müsste ich drei bis vier Wochen für die Regeneration einplanen. Leichte
       Schmerzen können bis zu drei Monaten nach der Operation noch auftreten. Als
       Folge der OP gibt es vor allem bei Älteren, im Vergleich zur
       Gesamtbevölkerung, das erhöhte Risiko von Bluthochdruck. Doch beim
       kleinsten Verdacht, der potenzielle Spender könnte später einmal zu dieser
       Risikogruppe gehören, wird die Transplantation nicht weiter erwogen.
       
       Bleiben noch die üblichen Operationsrisiken mit der Gefahr von
       multiresistenten Keimen oder Entzündungen im Wundbereich. Doch was die
       medizinische Versorgung in unserem Gesundheitswesen betrifft, habe ich
       bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht. Warum sollte es dieses Mal
       anders sein?
       
       Ich nehme Kontakt zu der Transplantationsklinik in Wien auf sowie zu der in
       Tübingen. Schließlich leben Hilde und ich in zwei verschiedenen EU-Ländern,
       wer weiß, wie kompliziert das Verfahren und die Abrechnungen mit den
       Krankenkassen sein werden. Ich erfahre, dass die Krankenkasse der
       Empfängerin für die OP-Kosten sowie für die Vor- und Nachuntersuchungen
       zuständig ist.
       
       Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht ohne Hildes Wissen abklären kann,
       ob meine Niere für sie infrage kommt – in der Klinik, in der auch die
       Transplantation vorgenommen werden würde, finden die entscheidenden
       Untersuchungen statt, die die Kompatibilität unserer Werte überprüfen.
       
       Hilde muss also mit einer Transplantation einverstanden sein und ihre
       Krankenkasse darüber informieren. Schade, denke ich. Am liebsten würde ich
       ihr meine Niere verpackt und mit roter Schleife vor die Tür legen. Absender
       unbekannt. Ich frage mich, was die Spende für unsere Freundschaft bedeuten
       würde. Kann ein Geschenk so schwer sein, dass es mehr Last als Gabe ist?
       
       Es ist Zeit, meinem Mann die Idee zu unterbreiten. Er denkt erst einmal in
       Ruhe darüber nach. Schließlich sagt er: „Wenn du meinst, das ist das
       Richtige, dann tu es.“ Wir sprechen darüber, dass es für Hildes Mädchen
       eine Erleichterung wäre, zu wissen, dass ihre Mutter eine Zukunft ohne
       Dialyse in Aussicht hat, und sie voraussichtlich eine relativ gesunde
       Mutter hätten, die lange Zeit Anteil an ihrem Leben nehmen kann. Von Hilde
       weiß ich, dass die zwei älteren Töchter nicht die Krankheit ihrer Mutter
       geerbt haben. Bei der Jüngsten stehen die Untersuchungen noch aus.
       
       Ich weihe ein befreundetes Paar in meine Überlegungen ein. „Für eines
       unserer Kinder würde ich nicht zögern, eine Niere zu spenden“, sagt Gustav.
       „Aber da wäre auch schon meine Grenze. Denn jede Operation ist ein
       Eingriff, der mit Risiken verbunden ist, die ich nicht ohne Weiteres in
       Kauf nehmen wollte.“
       
       Mir wird klar, dass ich keinen Unterschied mache: Gute Freunde und
       Freundinnen sind in meinen Augen gleichbedeutend mit Familie. „Es ist keine
       rationale Entscheidung“, stellt Gustav klar, „sondern allein eine
       emotionale. Wenn du das Bedürfnis hast, deiner Freundin zu helfen, dann ist
       es richtig.“ Anne flüstert mir beim Abschied zu: „Für dich würde ich es
       auch tun“, und drückt meine Hand.
       
       Eine irrationale Entscheidung? So sehe ich es nicht. So oft ich über die
       Situation nachdenke, desto mehr halte ich die Überlegung für eine logische
       Konsequenz. Eine gute Freundin braucht eine Niere, ich habe möglicherweise
       eine gesunde und schenke sie ihr, da es unwahrscheinlich ist, dass ich
       dadurch massive Nachteile haben werde, sie aber deutliche Vorteile daraus
       gewinnt. Sprechen also, rational betrachtet, nicht viel mehr Gründe für als
       gegen eine Spende?
       
       Weihnachten treffen David und Benja, unsere beiden Kinder, bei uns ein.
       Auch Antonia, Davids Freundin, ist dabei, sowie mein Schwiegervater.
       
       ## Eine OP ist immer ein Risiko
       
       Am zweiten Weihnachtsfeiertag rufe ich eine Familienkonferenz ein.
       Alarmiert sieht David mich an. Er rechnet mit dem Schlimmsten. „Keine
       Sorge“, beruhige ich ihn. „Ich will nur eure Meinung zu einem Thema hören,
       das mir wichtig ist.“
       
       Wir sitzen um den mit Kerzen geschmückten Tisch. Ich erkläre meine Idee,
       die sich immer mehr zu einem Vorhaben entwickelt, und sehe in die Gesichter
       meiner Kinder. Ihre Mimik lässt sich schlecht deuten. Nachdem alle
       verstanden haben, worum es geht, prasseln Fragen auf mich ein. Ich
       beantworte sie so gut ich kann, schließlich habe ich bereits viele
       Informationen zur Hand.
       
       „Welche Blutgruppe habe ich eigentlich?“, fragt David plötzlich. Ich habe
       keine Ahnung. „Warum willst du es wissen?“, frage ich zurück. „Damit ich
       dir notfalls eine meiner Nieren spenden kann, sollte deine verbleibende
       krank werden“, erklärt er.
       
       Ich bin gerührt, auch wenn ich denke, dass ich sein Angebot wohl kaum
       annehmen würde. Aber das sage ich nicht. Denn wie auch Hilde, die von
       keiner ihrer Töchter eine Organspende annehmen wollte, würde ich nicht die
       Gesundheit eines jungen Menschen gefährden wollen. Eine OP ist immer ein
       Risiko.
       
       „Wie kommt das Ganze eigentlich bei dir an?“, frage ich Benja, die sich
       bisher kaum geäußert hat. Nachdenklich sieht sie mich an. „Ich vertraue dir
       und deiner Entscheidung“, antwortet sie. „Auch wenn ich die Vorstellung
       etwas unheimlich finde.“ Antonia, die gerade ihren Master in Soziologie
       macht, will wissen, was die Statistiken sagen: „Wie hoch ist die Gefahr,
       dass Spender:innen postoperative Nachwirkungen erleiden?“, fragt sie.
       „Oder die Niere von der Empfängerin nicht angenommen wird?“
       
       Das weiß ich nicht. Antonia nimmt sich vor, die entsprechenden Statistiken
       zu recherchieren. Mein Schwiegervater streichelt meinen Arm: „Dein Vorhaben
       ehrt dich“, sagt er. Ich erstarre. Genau das will ich nicht hören. Es
       klingt, als begäbe ich mich in eine Rolle, die anderen Bewunderung
       abverlangt. Das fühlt sich nicht gut an.
       
       Bleibt nur noch, mit Hilde zu sprechen. Das schiebe ich vor mir her. Denn
       eines ist klar: Sobald ich ihr eine Nierenspende anbiete, will ich dazu
       stehen und keinen Rückzieher mehr machen.
       
       Und dann habe ich sie in der Leitung. „Ich möchte, dass du mir jetzt
       einfach nur zuhörst und gar nichts sagst“, bitte ich sie. Und lege los.
       Nach wenigen Sekunden vernehme ich ihr Schluchzen. Darauf bin ich gefasst,
       aber nicht auf ihre Worte: „Ich wusste, dass du das sagen wirst“, erklärt
       sie, und augenblicklich schießen auch mir die Tränen in die Augen.
       
       ## Wir wären Blutsschwestern
       
       Ich erinnere mich an den Moment, als wir vor dem kitschigen Laden mit
       Weihnachtsschmuck standen und mir plötzlich klar wurde, dass Menschen mit
       gesunden Nieren nicht tatenlos dabei zusehen müssen, wie andere geliebte
       Menschen unter ihren kranken Nieren leiden. Noch bevor ich es selbst
       wusste, hatte sie meine Bereitschaft gespürt, mich als Spenderin
       anzubieten. „Sollten wir es wirklich machen, wären wir Blutsschwestern“,
       sagt sie.
       
       Es ist uns klar, dass die Spende unsere Freundschaft verändern wird. Ich
       schreibe meiner Freundin: „Was die Dankbarkeit betrifft, so lässt sie sich
       wohl nicht vermeiden. Aber sie sollte unserer Freundschaft nicht im Weg
       stehen.“
       
       „Was ist deine Motivation, mir eine Niere geben zu wollen?“, will Hilde von
       mir wissen. Ich schlucke. Weiß ich es denn selbst wirklich so genau? „Ich
       zweifle nicht daran, dass ich die Operation gut überstehen werde und auch
       mit einer Niere gut leben kann“, überlege ich. „Aber vor allem macht mich
       der Gedanke glücklich, dass dein Leben mit meiner Niere besser und
       sorgenfreier werden könnte.“ Doch eine kleine Stimme in mir wispert
       dennoch: „Gib’s zu, du willst Heldin spielen und bewundert werden. Alle
       sollen denken, du bist ein viel besserer Mensch als alle anderen.“
       
       Ist es eigentlich normal, so mir nichts, dir nichts, eine Niere aus sich
       herausschneiden zu lassen und weggeben zu wollen? Was treibt mich zu dieser
       Entscheidung an – Selbstlosigkeit, Naivität oder vielleicht doch der Wunsch
       nach Anerkennung? Dass ich mir da selbst nicht so richtig traue, beunruhigt
       mich. Doch da es keine klare Antwort zu geben scheint, beschließe ich,
       nicht weiter darüber nachzudenken. Und weiterhin meiner Intuition zu
       folgen.
       
       ## Sie muss sich fragen, ob sie das Geschenk verkraften kann
       
       Wir nehmen uns vor, nicht voreilig vorzugehen. Hilde wird ihre Nephrologin
       aufsuchen und sich mit ihr beraten, und ich werde den Gesundheitscheck
       machen, aber ansonsten vereinbaren wir eine „Nieren-Fastenzeit“ von ein
       paar Monaten. Meine Freundin betont, dass es mir jederzeit freistehe, meine
       Entscheidung rückgängig zu machen. Aber auch sie muss sich fragen, ob sie
       das Geschenk verkraften kann. Oder ob es nicht einfacher wäre, sich eines
       Tages das Organ eines fremden Menschen einsetzen zu lassen, zu dem sie
       keine persönliche Beziehung hat.
       
       Hilde meldet sich bei Benja, David und meinem Mann, versichert auch ihnen,
       dass sie jederzeit Einspruch erheben dürfen. Es ist ihr ebenso wichtig wie
       mir, dass meine Familie hinter der Entscheidung steht. „Du bist einer der
       wenigen Menschen, von denen ich die Spende vielleicht annehmen könnte“,
       schreibt sie mir.
       
       Wie würde ich es sehen, wenn ich in ihrer Lage wäre? Könnte ich das
       Geschenk annehmen? Vielleicht würde ich es als allzu große Verantwortung
       empfinden. Denn was, wenn die Spenderin erkrankt und später selbst eine
       Niere bräuchte, die OP schiefgeht oder sich andere unvorhersehbare Dinge
       ereignen? Wäre das Gefühl, verantwortlich für das Leid eines anderen
       Menschen zu sein, dem es schlecht geht, weil er mir helfen wollte, dann
       nicht unerträglich? „Ich weiß, dass es allein meine Verantwortung ist, was
       mich betrifft“, schreibe ich zurück. „Sollte irgendetwas schiefgehen, ist
       es nicht dir anzulasten.“
       
       Drei Monate „Fasten“ vom Nieren-Thema sind vorbei. Wir sitzen auf meinem
       Balkon und atmen den Sommer. Es ist ein halbes Jahr vergangen, seit unsere
       Freundschaft eine neue Dimension bekam. Ob wir schon im nächsten Jahr auf
       unsere Blutsschwesternschaft anstoßen werden?
       
       ## Drei Tage für Zweifel und Fragen
       
       Für mich hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Ich würde die Sache gern
       vorantreiben. „Ein bis drei Jahre noch, dann wird die Transplantation
       fällig“, informiert mich Hilde. So die Einschätzung ihrer Ärztin. Genauer
       lässt sich der Transplantationszeitpunkt nicht eingrenzen, denn es kommt
       nicht nur auf den GFR-Wert an, sondern auf Hildes Gesamtzustand. Und je
       später die gesunde Niere eingepflanzt wird, desto länger ist ihre
       Lebenserwartung, sagt die Ärztin.
       
       Nach einer Transplantation muss verhindert werden, dass das körpereigene
       Immunsystem das übertragene Organ als fremd erkennt, angreift und zerstört.
       Gegen solch eine Abstoßungsreaktion werden sogenannte Immunsuppressiva
       eingesetzt, die das Immunsystem gezielt schwächen.
       
       Die gewünschte Abschwächung des Immunsystems bewirkt aber auch, dass
       Infektionen und Krebszellen weniger gut abgewehrt werden können als bei
       gesunden Personen und somit das Infektions- und Krebsrisiko zunimmt.
       Dennoch stünden Hilde, wenn alles gut geht, etwa zwanzig weitere Jahre
       bevor – eine gute Lebensdauer also.
       
       Wir treffen uns bei mir zu Hause, um drei Tage lang über aufkommende
       Zweifel, Fragen und Wünsche zu sprechen. Um zu überlegen, ob wir unserer
       Freundschaft die Organspende zumuten können. Und um zu entscheiden, ob wir
       den nächsten Schritt zusammen gehen wollen.
       
       ## Man gibt einen Teil des Körpers
       
       Wir rufen bei einem Paar an, das eine Nierentransplantation schon hinter
       sich hat. Sandra und Ralf sind Freunde von Bekannten. Sandra hat ihrem Mann
       vor sieben Jahren eine ihrer Nieren gespendet. „Ich hatte furchtbar Angst
       vor der OP“, gesteht sie, als Hilde und ich vor dem PC sitzen und mit den
       beiden zoomen.
       
       Sandra ist Krankenschwester und weiß, wie es in Krankenhäusern zugeht.
       Allzu gute Erfahrungen scheint sie an ihrem Arbeitsplatz nicht gemacht zu
       haben. „Aber dann war es ganz anders als erwartet – das Personal hatte
       Zeit, war freundlich und engagiert. Alles lief super professionell ab.“
       
       Die OP verlief zwar gut, aber Sandra brauchte länger als Ralf, um wieder
       auf die Beine zu kommen. „Da bekam ich ein schlechtes Gewissen“, gesteht
       Ralf. „Wegen mir ging es ihr schlecht, während ich mich blendend fühlte –
       kein gutes Gefühl.“ Aber glücklicherweise hielt der Zustand nicht lange an,
       und Sandras Kräfte nahmen wieder zu.
       
       „Was bedeutet die Transplantation für eure Beziehung?“, frage ich die
       beiden, gespannt auf die Antwort. Schließlich gibt eine Person einen Teil
       ihres Körpers, um die Gesundheit – vielleicht sogar das Leben – einer
       anderen Person zu retten. Da könnte leicht ein Ungleichgewicht eintreten,
       das die Beziehung in eine Schieflage bringt.
       
       ## Unsere Freundschaft wird die Transplantation aushalten
       
       „Es ist ja nicht auszuschließen, dass die Ehe irgendwann auseinandergeht,
       warum auch immer“, erklärt Sandra. „In dem Fall würde ich damit leben
       müssen, dass ich jemandem ein Organ geschenkt habe, mit dem ich nichts mehr
       zu tun habe. Doch sollte es je so kommen – das wäre in Ordnung.“ Sandra ist
       sich bewusst, dass ihre Nierenspende nicht mit einer konkreten Erwartung
       gegenüber ihrem Mann einhergehen kann. Und er muss in der Lage sein, das
       Geschenk anzunehmen, ohne dass er eine Gegenleistung erbringen kann. Wie
       sollte die auch aussehen?
       
       Zu meinem Erstaunen schüttelt Ralf den Kopf, als ich von ihm wissen will,
       ob sich sein Verhältnis zu Sandra verändert hat. „Nö“, antwortet er
       lakonisch. „Höchstens dass wir jetzt mehr unternehmen können, da ich nicht
       mehr an der Dialyse bin.“ Sandra lacht. „Ob ihr es glaubt oder nicht – seit
       Ralf meine Niere hat, interessiert er sich für Kunst und Reisen. Was vorher
       gar nicht sein Ding war!“
       
       Wird mit dem Organ eines anderen Menschen auch gleich ein Teil seiner
       Persönlichkeit mit transplantiert? So ein Blödsinn, denke ich, und finde
       den Gedanken dennoch etwas unheimlich. Hilde anscheinend nicht. „Kann doch
       nicht schaden, etwas von dir abzubekommen“, meint sie. Wenn ich an meine
       heimlichen Katastrophenängste und andere Macken denke, bin ich mir da
       leider nicht so sicher.
       
       Am Ende der drei Tage Klausur sind Hilde und ich uns einig: Unsere
       Freundschaft wird die Transplantation und was damit zusammenhängt
       aushalten.
       
       17 Jul 2023
       
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 (DIR) [4] https://www.organspende-info.de/organspende/hirntod/hirntoddiagnostik/
 (DIR) [5] https://www.apotheken-umschau.de/diagnose/laborwerte/nierenwerte-mass-fuer-die-nierenfunktion-741527.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christine Leutkart
       
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