# taz.de -- Filmessay „In the Intense Now“: Der Moment der Geschichte
       
       > Wir können nicht in die Zukunft blicken – João Moreira Salles blickt in
       > „No Intenso Agora“ auf das Jahr der Revolte von 1968 auf der ganzen Welt.
       
 (IMG) Bild: 1968 ging die Revolte um die Welt, Bild aus „In the Intense Now“.
       
       Im Jahr 1966 unternimmt die Mutter des Regisseurs João Moreira Salles eine
       Reise nach China. Es ist das Jahr, in dem Mao die große Kulturrevolution
       ausruft. Die Touristin, „offen für die Schönheit der Welt“, filmt junge
       ChinesInnen, die Maos kleine rote Fibel schwenken und rhythmische Gymnastik
       betreiben und mit großen Augen lächelnd in die Kameras der westlichen
       Touristengruppe schauen.
       
       China ist in Bewegung und die Mutter des Regisseurs wird ihrem Sohn eine
       Menge privates Filmmaterial hinterlassen, die diesen besonderen
       historischen Moment dokumentieren. Die westlichen Touristen stehen vor
       verschlossenen Tempeln, bewundern die Zeugnisse des alten Chinas, während
       mit Maos Kulturrevolution gerade eine neue Phase der großen Umerziehung
       beginnt.
       
       Spielarten des Maoismus werden in der Folge auch in westlichen Ländern an
       Einfluss gewinnen, merkwürdige Parteien entstehen. Doch 1967/68 sind
       zunächst vor allem die Jahre der großen antiautoritären Revolte. In
       Südamerika gärt es, aber auch in den vom sowjetischen Imperialismus
       beherrschten Staaten Osteuropas. In Polen oder der Tschechoslowakei
       demonstrieren Hunderttausende für demokratische Freiheitsrechte.
       
       Regisseur João Moreira Salles verschränkt Archiv- und Amateuraufnahmen
       verschiedener historischer Aufstandsorte (Paris, Rio oder Prag) geschickt
       mit den Bilddokumenten der privaten Chinareise seiner Mutter sowie weiterem
       Bildmaterial aus seiner eigenen Kindheit in den 1960er Jahren.
       
       Er versucht dabei den heroischen Moment der Geschichte unheroisch zu
       lokalisieren, jenen, wo neue Bedeutungen gewonnen werden und die Verläufe
       offen und als beeinflussbar erscheinen. Die tschechische Popsängerin Marta
       Kubišová küsst in einer symbolischen Geste den Reformkommunisten und
       Anführer des Prager Frühlings, Alexander Dubček.
       
       ## Hippieske Bildsprache
       
       Die hippieske Bildsprache ihrer Songs sollte die von den sowjetischen
       Panzern niedergewalzte tschechoslowakische Freiheitsbewegung überdauern.
       Ganz zu Beginn zeigte Regisseur João Moreira Salles Amateuraufnahmen einer
       Prager Hochzeitsfeier aus den 1960ern. Der Mensch und das Pathos des
       Augenblicks, in seiner Umgebung, Bestimmung und Hoffnung.
       
       Zurückhaltend eingesprochen aus dem Off analysiert der Regisseur die
       besonders spektakulär wirkenden dokumentarischen Aufnahmen aus dem Pariser
       Mai 1968. Hier lachende Gesichter, Barrikaden, junge Arbeiterinnen,
       Studenten und deren poetisch-surrealistischen Slogans. Dort das
       verknöcherte katholische Frankreich in Gestalt von Präsidenten und
       Widerstandslegende General Charles de Gaulle.
       
       Die Regie bildet de Gaulles historische Neujahrsansprache auf das Jahr 1968
       komplett filmisch ab. Das wirkt retrospektiv selbstkommentierend und
       geradezu karnevalesk. Der alte Staatsmann ahnt noch nicht, wie weit sich
       seine Erscheinung von der Mehrheit der jungen Generation entfernt hat.
       Millionen ArbeiterInnen werden sich im „wilden“ Generalstreik den
       Studentinnen im Mai 1968 in Frankreich anschließen.
       
       Das gesamte konservative hierarchische Gesellschaftsgefüge steht zur
       Disposition. Doch weitere ausgewählte historische Aufnahmen zeigen später
       auch, wie die revolutionäre Situation „kippt“ und die Arbeiter, von
       Funktionären der Kommunisten und Gewerkschaften dazu überredet, wieder an
       ihre Arbeitsplätze zurückkehren. Das „anständige Frankreich“ wurde erst
       überrumpelt, machte aber doch noch ebenfalls mobil. Auch wenn nach 1968
       nichts mehr wie vorher war.
       
       ## Schlagfertig und ohne Hass
       
       Überrumpelt wurde es von neuen Akteuren, wie dem charismatischen und stets
       verschmitzt lächelnden Anführer der Revolte, dem damals 23-jährigen Daniel
       Cohn-Bendit. Er verband überzeugend die Kritik am Elitensystem mit den
       Forderungen nach mehr Freizügigkeit und einem freieren Lebensstil.
       
       Cohn-Bendit wurde zur weltberühmten Symbolfigur der neuen spontaneistischen
       Linken. Er sprach verständlich, witzig und ohne Hass. Er war ungemein
       schlagfertig, medial ohne Scheu und verkörperte das Gegenbild zum
       patriarchalen Macker. Der Film analysiert, wie seine Stimme zunächst das
       Radio und kurz darauf seine körperliche Präsenz das Fernsehen und ein
       Millionenpublikum kapern. Sensationell. Dieser neuen Rhetorik und
       symbolischen Politik hatte das alte Frankreich zunächst nichts
       entgegenzusetzen.
       
       Doch nicht das ganze Leben ist eine fortgesetzte Chinareise oder eine
       flammend romantische Erhebung. Der besondere Moment mag uns besonders
       beeinflussen, doch wie der abgeklärte Philosoph Jean-Paul Sartre schon
       Cohn-Bendit warnte, auf einen Frühling (der Anarchie) folgt in der Regel
       ein langer Sommer mit ausgedehnten Ferien. Oder wie es „No Intenso Agora“
       so sympathisch allegorisch verbindet, die Kinder und Familien wollen dann
       auch wieder im Park spielen oder an den Strand.
       
       15 Feb 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Schwerpunkt 1968
 (DIR) Kulturrevolution
 (DIR) 68er
 (DIR) Dokumentarfilm
 (DIR) Schwerpunkt Erster Weltkrieg
 (DIR) Isabelle Huppert
 (DIR) Finnland
 (DIR) Schauspieler
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Cohn-Bendit-Film über Jüdischsein: Reise nach Israel
       
       Die ARD zeigt die Doku „Wir sind alle deutsche Juden“. Der Laizist Daniel
       Cohn-Bendit berichtet darin über den jüdischen Anteil seiner Biografie.
       
 (DIR) Essayfilm „Der nackte König“ online: Die Substanz der Revolte
       
       Was haben Ayatollah Khomeini und Lech Wałęsa gemein? Der schweizer
       Essayfilm „Der nackte König“ sucht „Fragmente der Revolution“.
       
 (DIR) Geschichtsreportage „Zink“: Grenzen gehen über dich hinweg
       
       Man sprach Esperanto: David Van Reybroucks fesselnde Geschichtsreportage
       erzählt von Emil Rixen und dem Mikrostaat Neutral-Meuresnet.
       
 (DIR) Georgischer Film über Familien: Endlich allein sein
       
       Nana Ekvtimishvili und Simon Groß sind nicht das erste Mal auf der
       Berlinale. In „My Happy Family“ befreit sich eine Frau aus der Enge der
       Ehe.
       
 (DIR) Spielfilm „Elle“ von Paul Verhoeven: Lob der komplizierten Frau
       
       Zwischen Thriller, Horrorfilm und Farce: In „Elle“ spielt Isabelle Huppert
       eine unberechenbare Frau. Sie ist dabei eine Offenbarung.
       
 (DIR) Aki Kaurismäkis Wettbewerbsbeitrag: Finnisches Gelächter
       
       Style, Tango, Rockabilly – Kaurismäkis Flüchtlingssatire „Toivon tuolla
       puolen“ ist der richtige Film zur Zeit und ein Anwärter auf den Goldenen
       Bären.
       
 (DIR) Den Altlinken in Griechenland zugehört: Gelebter Populismus
       
       Vereinfachung des Klassenkampfes in Griechenland: Die Dokumentation „Combat
       au bout de la nuit“ von Sylvain L’Espérance auf der Berlinale.
       
 (DIR) Berlinale-Staralbum: Robert Pattinson: Der Übermüdete
       
       War offenbar eine lange Nacht für den Hollywood-Star: Robert Pattinson ist
       bei der Pressekonferenz auf der Berlinale nicht ganz bei der Sache.