# taz.de -- Filmfestspiele in Cannes: Die Knurrigkeit des Kronzeugen
       
       > Endspurt beim französischen Filmfestival: Beim Regisseur Abdellatif
       > Kechiche wackeln zu viele Pos, Marco Bellocchio macht dagegen politisches
       > Kino.
       
 (IMG) Bild: Bei seinem Film verließen viele Journalisten die Vorführung: Regisseur Abdellatif Kechiche
       
       Wie viele Stunden Hochgeschwindigkeitspowackeln braucht ein Film, um seine
       Botschaft zu vermitteln? Für den französischen Regisseur Abdellatif
       Kechiche sind drei Stunden gerade mal ausreichend. Man ergänze zur
       Introduktion eine Szene am Strand, in der die Kamera vorübergehend
       vergessen zu haben scheint, dass Frauen weiter oben an ihrem Körper auch
       noch Köpfe haben, und zwischendurch eine nicht enden wollende sehr
       explizite Cunnilingus-Sequenz. Willkommen zum Wettbewerbsfilm „Mektoub, My
       Love: Intermezzo“, dem zweiten Teil von Kechiches Literaturadaption nach
       François Bégaudeaus Roman „La blessure, la vraie“.
       
       Die Coming-of-Age-Geschichte um Amin (Shaïn Boumedine), seine aus Tunesien
       stammende Familie und diverse Freundinnen geht in diesem Zwischenspiel
       direkt weiter. Auch wenn die Handlung auf ein Minimum an Dialogen reduziert
       ist. Im ersten Teil „Mektoub, My Love: Canto Uno“, der vor zwei Jahren in
       Venedig im Wettbewerb lief, hatte es Kechiche noch für sinnvoll gehalten,
       das Geschehen überwiegend jenseits der Tanzfläche anzusiedeln. Lange tanzen
       ließ er seine Protagonisten auch damals. Die Freude am Zeigen weiblicher
       Pos war gleichfalls schon ausgeprägt.
       
       ## Nach den Bataclan-Anschlägen
       
       Konnte man im ersten Teil noch ein Plädoyer für den selbstbestimmten Umgang
       mit Körpern sehen, das im Frankreich nach den Bataclan-Anschlägen als
       Eintreten für demokratische Freiheiten gegen Islamisten aller Couleur zu
       verstehen war, wiederholt Kechiche diesen Punkt diesmal so obsessiv, dass
       man beim Zuschauen verstärkt mit der Frage konfrontiert ist: Rausgehen oder
       nicht? In diesem Fall verließen deutlich mehr Journalisten die
       Pressevorführung als sonst im Wettbewerb. Am Ende steht eine kurze
       Schlafzimmerszene am Morgen nach der Feier, die unvermittelt abreißt, als
       die Figur Charlotte (Alexia Chardard) nackt ans Fenster tritt und, von
       außen gefilmt, hinter der reflektierenden Scheibe fast verschwindet. Einer
       der besten Momente dieses eher redundanten Films.
       
       Klassisches politisches Kino zelebriert dafür der Italiener Marco
       Bellocchio in „Il Traditore“. Er erzählt von einem entscheidenden Kapitel
       im Kampf gegen die Cosa Nostra, die „Maxi-Prozesse“ der achtziger Jahre
       gegen hunderte „Ehrenmänner“ des sizilianischen organisierten Verbrechens.
       Im Zentrum dieser juristischen Eruption: der Kronzeuge Tommaso „Don Masino“
       Buscetta (Pierfrancesco Favino).
       
       ## Nur vermeintlich friedlich
       
       Bellocchio macht aus dieser Geschichte weder ein Biopic noch eine
       Heldengeschichte. Er beschränkt sich auf die Ereignisse von der Verhaftung
       Buscettas bis zu dessen – gewaltlosem – Tod. Wenige Rückblenden ergänzen
       ein paar Schlüsselerlebnisse im Leben dieses „Verräters“.
       
       Nicht ohne Sympathie, doch im klaren Bewusstsein um den kriminellen und im
       Umgang mit der Wahrheit durchaus zwielichtigen Charakter Buscettas zeichnet
       Bellocchio seinen Protagonisten. Pierfrancesco Favino verleiht ihm eine
       elegante Knurrigkeit, in der sich Charme und Bedrohlichkeit die Waage
       halten. Wie auch im restlichen Film. Mit dem Gegenschneiden etwa von
       vermeintlich friedlichen Familienszenen Buscettas im brasilianischen Exil
       und den brutalen Racheaktionen anderer Cosa Nostra-Familien in Sizilien
       schafft Bellocchio eine Stimmung von unablässiger Gefahr, die bis zum Ende
       bleibt.
       
       25 May 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tim Caspar Boehme
       
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