# taz.de -- Forscher über Migration aus Albanien: „Es ist wie eine Krankheit“
       
       > Tausende Albaner*innen migrieren nach Großbritannien.
       > Migrationsforscher Dhimiter Doka kennt die Gründe. Und fragt sich, warum
       > er noch bleibt.
       
 (IMG) Bild: 12.000 Albanier*innen haben 2022 den Ärmelkanal überquert, Foto von August 2022 vor England
       
       taz: Herr Doka, Albaner*innen machen derzeit ein Drittel derjenigen
       aus, die über den Ärmelkanal nach Großbritannien gelangen. Warum riskieren
       sie diese gefährliche Reise? 
       
       Dhimiter Doka: In Albanien herrscht große Hoffnungslosigkeit. Gerade junge,
       gut ausgebildete Menschen sehen keine Perspektive im Land. In meiner
       Vorlesung habe ich neulich die Studierenden gefragt, wer von ihnen hier
       bleiben will. Von sechzig Studierenden haben nur drei die Hand gehoben. In
       den letzten dreißig Jahren seit dem Ende der kommunistischen Diktatur unter
       Enver Hoxha haben 1,6 Millionen Menschen das Land verlassen (aktuell hat
       Albanien 2,8 Millionen Einwohner*innen, Anm. d. Red.). Es ist wie eine
       Krankheit. Wenn man ständig mitbekommt, wer alles geht, fragt man sich:
       Warum bleib ich noch hier?
       
       Die britische Regierung gibt an, dass 2020 nur fünfzig Menschen aus
       Albanien den Ärmelkanal überquert haben, in diesem Jahr waren es 12.000.
       Woher kommt dieser Anstieg? 
       
       2020 und 2021 war die Pandemie noch allgegenwärtig. Nach Frankreich oder
       Belgien zu gelangen, von wo aus sich die Menschen in Booten oder Lkw nach
       Großbritannien aufmachen, war schwierig. Aber in dieser Zeit scheinen sich
       die Schlepperbanden gut organisiert zu haben.
       
       Warum ist Großbritannien das Hauptziel? 
       
       In der ersten Migrationsbewegung während der neunziger Jahre bis Mitte der
       2000er migrierten Albaner vor allem in Nachbarländer wie Italien oder
       Griechenland. Mit der Finanzkrise 2008 wurden andere Länder attraktiver.
       2015 gingen circa 80.000 Albaner mehr oder weniger spontan zusammen mit
       Flüchtlingen aus Syrien nach Deutschland. Es hatte sich herumgesprochen,
       dass dort Arbeitskräfte benötigt werden. Mit dem Kosovokrieg Ende der
       neunziger Jahre machten sich viele Menschen aus Nordalbanien auf den Weg
       nach Großbritannien und gaben sich dort als Kosovaren aus. Es gibt dort
       also bereits eine große Diaspora. Hinzu kommen Gerüchte: Großbritannien
       soll seit dem Brexit viele Arbeitskräfte brauchen. Es ist sozusagen das
       neue Deutschland. Die Leute sagen sich: Ich versuche es einfach, Albanien
       läuft ja nicht weg.
       
       Dabei ist ihre Chance auf Asyl gering. 
       
       Ja, deshalb tauchen viele nach ihrer Ankunft bei Verwandten unter und
       arbeiten illegal im Land. Sie hoffen, später irgendwie an Papiere zu
       kommen.
       
       Wie gelangen sie nach Großbritannien? 
       
       Meist über bestehende Kontakte vor Ort. Von meinen Studierenden haben fast
       alle Verbindungen nach Großbritannien, weil dort der Bruder oder Onkel
       wohnt. Viele Familien verschulden sich, weil die Schleuser 6.000 bis 10.000
       Euro verlangen. Es gehen heute also auch Wohlhabende, nicht mehr nur arme
       Leute, denen es ums Überleben geht, so wie in den Neunzigern. So verliert
       Albanien auch viel Kapital …
       
       … profitiert aber auch von den Rücküberweisungen aus dem Ausland, oder?
       
       Viel weniger als noch vor ein paar Jahren. In den Neunzigern machten die
       Zahlungen aus dem Ausland bis zu dreißig Prozent des Bruttoinlandsprodukts
       aus. Doch wenn die Eltern nicht mehr leben und die Generationen wechseln,
       verlieren die Albaner im Ausland diese Verbindung ins Heimatland. Heute
       machen die Zahlungen noch zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Auch
       internationale Krisen wie die Finanzkrise, die Pandemie oder die aktuelle
       Inflation bedeuten, dass weniger Geld zurückfließt.
       
       Hat sich die Stimmung in Albanien seit Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen
       im Juli verbessert? 
       
       Bis es dazu gekommen ist, hat es schon so lange gedauert, dass die Albaner
       jetzt keine Geduld mehr haben. Sie wissen, es wird Jahre oder Jahrzehnte
       dauern, bis Albanien Teil der EU ist. So lange können sie nicht warten.
       
       Was unternimmt die Regierung von Ministerpräsident Edi Rama gegen den
       Wegzug? 
       
       Sie unternimmt nichts und übernimmt auch keine Verantwortung dafür. Manche
       munkeln, dass die politische Elite gar kein Interesse an gut ausgebildeten
       jungen Leuten im Land hat, um für immer an der Macht zu bleiben. Im
       Fernsehen riet Rama während des letzten Wahlkampfes einem Unternehmer, der
       keine Arbeitskräfte mehr findet, welche aus Bangladesch zu nehmen. Die
       seien fleißiger und würden nicht so viel schwätzen wie die Albaner. Das
       kommt nicht gut an bei den Leuten.
       
       Zumindest hat Rama die britische Regierung scharf kritisiert wegen der
       Äußerung von Innenministerin Suella Braverman, kriminelle Albaner seien
       eine „Invasion“. 
       
       Natürlich finde ich es nicht richtig, dass sie alle Albaner über einen Kamm
       schert. Doch Rama hat die Situation genutzt, um sich als Patriot in Szene
       zu setzen. Er sollte lieber die Situation im eigenen Land verbessern,
       anstatt einen Streit mit der britischen Regierung anzuzetteln. Das hilft
       den Menschen hier nicht wirklich.
       
       25 Nov 2022
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jana Lapper
       
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