# taz.de -- Gedenklesung für Enzensberger: Die verwundete Gitarre
       
       > Der Suhrkamp-Verlag lud zur Lesung im Gedenken an Hans Magnus
       > Enzensberger. Sein Bruder Ulrich Enzensberger erzeugte einen bewegenden
       > Augenblick.
       
 (IMG) Bild: Ulrich Enzensberger bei einer Lesung von Texten seines anderen Bruders Christian Enzensberger 2017
       
       BERLIN taz | Was ist ein Gedicht? Als die Gedenklesung für [1][Hans Magnus
       Enzensberger] am Dienstagabend eigentlich schon beendet war und der
       Suhrkamp-Verleger Jonathan Landgrebe das Büfett eröffnen wollte, meldete
       sich [2][Ulrich Enzensberger] aus dem Publikum zu Wort.
       
       Ulrich Enzensberger ist der jüngere Bruder des im vergangenen November
       gestorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger. Er war einst
       Mitbegründer der legendären Kommune 1 und ist selbst Autor, und er hielt
       ein Buch hoch. Das Buch habe er auf der Straße gefunden, sagte er,
       „Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Und darin habe sich ein
       Gedicht seines Bruders befunden, ob er das noch verlesen dürfe?
       
       Natürlich durfte er, und so trat Ulrich Enzensberger, der seinem Bruder
       inzwischen auf eine rührende Weise ähnlich sieht – die gleiche hagere
       Figur, die gleiche markante Nase –, nach vorne ans Mikrofon.
       
       Suhrkamp hatte in die Verlagsvilla an der Rehwiese in Berlin-Nikolassee
       geladen. „Ein Fest für Magnus, keine Trauerfeier“, solle es werden, hatte
       Ulla Unseld-Berkéwicz in ihrer Begrüßung gesagt. Autor*innen, Verlagsleute,
       Journalisten, Professoren waren gekommen. Auch jenseits des unmittelbaren
       Anlasses kamen leicht sentimentale Gefühle auf. Es war mal wieder eine
       Veranstaltung des Literaturbetriebs wie zur Zeit, bevor Corona alles im
       Griff hatte (eine Nebenerkenntnis dabei: Einen Coronaroman will wirklich
       niemand lesen, man kann nur abraten, so etwas schreiben zu wollen; die
       Pandemie wollten beim Smalltalk eigentlich alle hinter sich lassen).
       
       Ein rein männliches Line-up – die Autoren Christoph Ransmayr, Ralf
       Rothmann, Lutz Seiler, Durs Grünbein – hatte als Hauptprogrammpunkt des
       Abends Enzensberger-Gedichte gelesen, Gesänge aus dem „Untergang der
       Titanic“, Übertragungen aus dem „Museum der modernen Poesie“, Klassiker wie
       „Die Dreiunddreißigjährige“ oder das „Lied von denen, auf die alles
       zutrifft und die alles schon wissen“.
       
       ## Verwandelt in den Bruder
       
       Das war alles schon recht schön, und die intellektuelle Figur
       Enzensbergers, seine „beeindruckende Intelligenz“, seine
       schriftstellerische „ökonomische Effektivität“ standen im Raum. Und dann
       kam eben Ulrich Enzensberger, inzwischen 78 Jahre alt, nach vorne und
       schien sich – die Lyrik kann das offenbar – geradezu in seinen Bruder zu
       verwandeln.
       
       Er hatte schon bei den Lesungen der anderen Autoren mit seinem Oberkörper
       rhythmisch mitgeschwungen. Nun las er selbst das in dem von ihm gefundene
       Buch gefundene Gedicht „Schläferung“: „lass mich heut nacht in der gitarre
       schlafen / in der verwundeten gitarre der nacht / lass mich ruhn …“
       
       In diesem Moment war ganz klar, was ein Gedicht ist oder zumindest sein
       kann, ein Gefühlsspeicher, eine Unmittelbarkeit, eine Form der
       Näheherstellung. Das war ein bewegender Augenblick.
       
       22 Jun 2023
       
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