# taz.de -- Georgiens Hauptstadt Tiflis: Die Jugend schaut nach Westen
       
       > Techno, Wein und Zeitgeschichte – ein Streifzug durch die
       > Intellektuellenszene Georgiens, des Gastlandes der Frankfurter Buchmesse
       > im Oktober.
       
 (IMG) Bild: Demonstrieren und gleichzeitig feiern? In Tiflis kein Problem
       
       Für viele ist Stalin heute noch in erster Linie der Typ, der den Krieg
       gewonnen hat“, sagt Natascha Lomouri. „Wir stehen noch am Anfang der
       Auseinandersetzung mit dem Stalinismus.“ Lomouri ist Direktorin des
       Writer’s House in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Die staatliche Institution
       residiert in einer repräsentativen Jugendstilvilla in der Tifliser
       Altstadt. Seit 2008 wurde das historische Gebäude renoviert. Es dient heute
       (wieder) als Veranstaltungsort, Museum und Unterkunft.
       
       Lomouri erzählt bei einer Begehung, wie der Unternehmer und Philanthrop
       Dawit Saradschischwili die Villa von 1903 bis 1905 erbauen ließ. Und wie
       die Saradschischwili-Villa mit den großzügigen Sälen und dem einladenden
       Garten zum Stützpunkt der georgischen Avantgardekultur nach der
       Jahrhundertwende wurde. Doch an Aufbruch, Ersten Weltkrieg, Revolution und
       nationaler Unabhängigkeit schloss sich ab 1921 die Sowjetisierung der
       südlichen Kaukasusrepublik unter russischer Knute an. Es begannen siebzig
       trübe und teilweise schockierende Jahre. Erst 1991 erlangte das Land seine
       Unabhängigkeit zurück, die Russland durch Territorialkonflikte (Abchasien,
       Ossetien) bis heute infrage stellt.
       
       Direktorin Lomouri führt in den ersten Stock, vorbei an Aufnahmen
       georgischer Avantgardeschriftsteller der Phase vor der Sowjetisierung.
       Zunächst, so sagt sie, konnten die georgischen Symbolisten um die
       Dichtervereinigung „Blaue Hörner“ die Sowjets 1921 überzeugen, das
       enteignete Gebäude den georgischen Kulturverbänden zu überlassen. Doch auch
       die Blauen Hörner gerieten immer stärker in Widerspruch zum Moskauer
       Regime. Einige hatten die Sowjets zunächst durchaus freundlich begrüßt,
       andere flohen oder schlossen sich dem Widerstand an. Und viele beugten sich
       Ende der 1920er Jahre der neuen Doktrin des „sozialistischen Realismus“.
       
       Aber Stalins große Terrorkampagne der Jahre 1936 bis 1938, die „Säuberung“
       der Sowjetgesellschaft von Hunderttausenden angeblichen Oppositionellen
       („unzuverlässigen Elementen“), erreichte bald auch den Südkaukasus und die
       Dichter in Tiflis. Im ersten Stock des aufwendig renovierten Writer’s House
       erschoss sich 1937 der Dichter Paolo Iaschwili, einer der Begründer der
       Blauen Hörner, mit einem Jagdgewehr. Durch seinen Freitod kam er dem
       Ausschluss aus dem sowjetischen Schriftstellerverband zuvor.
       
       Andere, wie sein Mitstreiter Tizian Tabidse, ließ der transkaukasische
       KP-Chef Lawrenti Beria im gleichen Jahr zu Tode foltern. Derselbe Beria
       wurde ein Jahr später von Stalin zum Chef der sowjetischen Geheimdienste
       ernannt. Er war einer der berüchtigten Massenmörder an Stalins Seite. Nach
       Stalins Tod 1953 ließen ihn dessen Gegner im Politbüro erschießen.
       
       ## Ein kleiner und junger Staat
       
       Ein riesenhaft dargestellter Bolschewik, barfuß, dicke große Nase,
       schnauzbärtig, das Gewehr drohend schwingend, dahinter ein Trupp mit
       aufgepflanzten Bajonetten und roter Fahne, das Propagandagemälde dunkel und
       in Brauntönen gehalten, soll den Einmarsch der Roten Armee in Georgien 1921
       charakterisieren. Es hängt im Georgischen Nationalmuseum und eröffnet dort
       im Obergeschoss die Dauerausstellung zur sowjetischen Besatzung. Im
       düsteren Eingangsbereich dokumentiert ein großer Fotoabzug ein Massaker der
       Roten Armee an der georgischen Oberschicht. Gruselstimmung zu einer
       gruseligen Geschichte. Museumsführerin Irina Tschitschinaze nennt es „die
       unglückliche Phase“ Georgiens.
       
       Wer wollte es ihr verdenken, dass sie eigentlich lieber die Schätze zeigt,
       die das Museum im Untergeschoss beherbergt? Die goldenen Diademe, antiken
       Gold- und Silberschmuck, Ketten aus Edelsteinen, kunstvolle Skulpturen
       kleiner goldener Löwen, Mensch-Tierwesen, Objekte mit astrologischen
       Symbolen, die die lange und reiche Kulturtradition dieser Region zwischen
       Schwarzem und Kaspischem Meer bezeugen.
       
       Als kleiner und junger Staat – in den Jahrhunderten immer wieder überrannt
       von den Heeren der Perser, Mongolen, Araber, Osmanen oder Russen – betonen
       die Georgier heute gern die Kontinuität zu einer lange zurückreichenden
       alten Hoch- und Volkskultur. Irina Tschitschinaze deutet auf eine Vitrine,
       die die weltweit ältesten archäologischen Funde von Weingefäßen enthält.
       Sie stammen aus dem 6. Jahrtausend vor Christus, ausgegraben auf dem
       Territorium des heutigen Georgiens. Wer hat’s erfunden? Jedenfalls nicht
       die Römer, meint Frau Tschitschinaze: „Wein ist ursprünglich ein
       georgisches Wort.“
       
       ## Erinnerung an die Sowjetzeit
       
       So sehr sich das junge Georgien nach Westen sehnt und ausrichtet, so gern
       vergessen machen möchte es, dass Stalin und einige seiner Helfershelfer
       auch aus Georgien stammten, man hört weiterhin viel Russisch auf Tiflis’
       Straßen. Östlicher Pragmatismus. Die politischen Führungen mögen sich
       streiten, doch für Russen wie Touristen aus dem Westen stellt das
       weltoffene und lebensfrohe Georgien heute weiterhin, oder wieder, ein
       attraktives Reiseziel dar. Mediterrane Schwarzmeerküste vor kaukasischer
       Hochgebirgskulisse. Der Wein schmeckt gut, die Preise sind günstig,
       pittoreske Burgen und Kirchen wie auch alte städtische Holzarchitektur
       haben dem sozialistischen Beton getrotzt.
       
       Einer, der noch das Georgien der Sowjetzeit erlebte, ist Lewan
       Berdsenischwili. „Wir hatten als Georgier große Probleme mit der
       Sowjetunion“, sagt der 64-Jährige. 1981 hat er mit Mitstreitern die
       Republikanische Partei Georgiens im Untergrund gegründet. Damals schien der
       Zusammenbruch der Sowjetunion für viele unvorstellbar. Berdsenischwili
       gehört zur letzten Generation georgischer Dissidenten, die im sowjetischen
       Gulag-System landeten.
       
       Über die Lagerzeit von 1983 bis 1987 in Mordwinien berichtet er in
       „Heiliges Dunkel: Die letzten Tage des Gulag“ (Mitteldeutscher Verlag,
       2018). „Es war ganz wundervoll,“ sagt Berdsenischwili lächelnd. „Wir
       mussten am Tag 92 Fäustlinge zusammennähen.“ Es war nicht wundervoll. Aber
       Berdsenischwili weiß, dass sich mit Humor und seiner unerschütterlichen
       Gelassenheit vieles leichter erzählen lässt. Beides schützt zudem vor
       Bitterkeit.
       
       Der Altphilologe war Direktor der Georgischen Nationalbibliothek und wurde
       nach 1991 dreimal als Abgeordneter ins Parlament gewählt. „Wir kämpfen
       gegen Kommunismus und Nationalismus“, sagt er, „und für individuelle
       Freiheiten.“ Sein Gulag-Buch war in Georgien ein Bestseller. „Auch
       diejenigen, die meine Partei nicht mögen, respektieren mich als Autor“,
       betont Berdsenischwili. Dies festzustellen, ist ihm wichtig. Gibt es doch
       Dinge, die über dem alltäglichen Gezänk um den richtigen demokratischen
       Kurs stehen sollten. Seine Republikanische Partei, Mitglied der Liberalen
       Internationale, befindet sich derzeit in Opposition zum regierenden
       Parteienbündnis „Georgischer Traum“, einer Koalition, der sie zur Ablösung
       Michail Saakaschwilis 2013 selbst noch angehörte.
       
       ## Leisere Erzählungen im Vordergrund
       
       „Im Unterschied zur Ukraine haben wir in Georgien heute ein relativ
       demokratisches System“, sagt Berdsenischwili. Wie die meisten georgischen
       Intellektuellen befürwortet auch er eine klare Westbindung und hofft auf
       die zügige Aufnahme Georgiens in die Nato. Bei den Älteren sieht er noch
       eine gewisse „russische Mentalität“ verankert, auch bei der orthodoxen
       Kirche Georgiens. Doch die Jüngeren seien offener und im positiven Sinne
       individualistischer ausgerichtet.
       
       Die Konflikte der unmittelbaren Postsowjetzeit drehten sich um die
       Etablierung eines funktionierenden demokratischen Staatswesens, um den
       kriegerischen Separatismus, die wirtschaftliche Not und die
       Korruptionsbekämpfung. Beispielhaft für die Probleme der damaligen
       Umbruchphase steht in der neueren georgischen Literatur ein Roman wie Aka
       Morchiladzes „Reise nach Karabach“ (1992, neu aufgelegt im Weidle Verlag,
       2018). Morchiladze ließ in dieser Erzählung eine klassische männliche
       Boheme- und Taugenichtsfigur aus Tiflis auf der Suche nach billigen Drogen
       damals in die Provinz reisen. Sie gerät dort plötzlich mitten in die
       gewaltsamen Nationalitätenkonflikte hinein. Morchiladze erzählt von ihnen
       wie von einem schlechten parapsychologischen Traum.
       
       Auf der Buchmesse in Frankfurt 2018, dessen Ehrengast Georgien im Oktober
       sein wird, dürften nun leisere Erzählungen im Vordergrund stehen. In denen
       geht es verstärkt um „weichere“, innergesellschaftliche Konflikte. So etwa
       in Davit Gabunas Ende August erscheinenden psychologischen Roman „Farben
       der Nacht“ (Rowohlt). Er handelt aus heutiger Perspektive von der
       Passivität des Mannes, verkorkstem Eheleben, heimlichen Beziehungen,
       verborgener Homosexualität. Aus unscheinbarer, privater Perspektive erzählt
       er mit kriminalistischem Gespür von tabuisierten Zusammenhängen in der
       georgischen Gegenwart.
       
       Ebenfalls das Große im Kleinen sucht Nana Ekvtimischwili in ihren Roman
       „Das Birnenfeld“ (Suhrkamp, Mitte August). Die Handlung spielt vor dem
       Hintergrund einer geschlossen Erziehungsanstalt für angeblich geistig
       behinderte Kinder, einer Hinterlassenschaft des Sowjetsystems. Nana
       Ekvtimischwili ist in Deutschland [1][bislang als Filmerin hervorgetreten].
       
       ## Gesellschaft im Aufbruch
       
       Auf den Filmfestspielen in Berlin zeigte sie zuletzt 2017, den zusammen mit
       Simon Gross gedrehten Film „Meine glückliche Familie“. Beim Abendessen in
       Tiflis scherzt sie, über das georgische Allerweltsverständnis von Fakten
       und Fiktion. „Wenn ich bei einer Lesung sage: Nein, das ist eine erfundene
       Geschichte, dann sagen die Leute: Ach so, das ist nur erfunden.“
       
       Wie viele georgische Intellektuelle betont auch die 1978 geborene
       Ekvtimischwili ihre Unabhängigkeit zur Politik. „Viele Leute wie ich sind
       nicht unmittelbar in der Politik engagiert. Sie denken, das ist nicht meine
       Sache.“ Eine antipolitische Haltung, die sich jedoch als
       gesellschaftskritisch begreift, dies kennt man auch von den Avantgarden des
       Westens.
       
       Die georgische Gesellschaft 2018 befindet sich unübersehbar im Aufbruch.
       Und sie hofft dabei sehr auf Austausch mit dem demokratischen Teil Europas.
       Davon künden nicht nur die circa 150 Übersetzungen aus dem Georgischen, die
       dieses Jahr bis zur Frankfurter Buchmesse bei deutschen Verlagen erscheinen
       sollen.
       
       Tausende demonstrierten im Mai auch gegen den polizeilichen Angriff [2][auf
       den Club Bassiani], der in den riesigen Katakomben des Fußballstadions von
       Dinamo Tiflis logiert. Nach Razzien, Festnahmen und vorübergehender
       Schließung ging der liberale Teil der Jugend der 1,2-Millionen-Stadt Tiflis
       auf die Straße. Für eine Liberalisierung der Drogengesetzgebung und den
       Schutz sexueller Minderheiten vor Diskriminierung. Eine kriegerische Lösung
       der Ossetien- oder Abchasienkonflikte strebt hier niemand an. Eine feste
       Einbindung in die Systeme des Westen jedoch schon.
       
       12 Jun 2018
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Andreas Fanizadeh
       
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