# taz.de -- Heinz Bude über das Mindset der 68er: „Die Geschichte beginnt erst mit uns“
       
       > Die Sehnsucht nach der Welt und der Wahnsinn der RAF. Ein Gespräch mit
       > dem Soziologen Heinz Bude über sein Buch „Adorno für Ruinenkinder“.
       
 (IMG) Bild: Fritz Teufel, Mitbegründer der Kommune 1, auf einem Protestmarsch im Jahr 1967
       
       taz: Herr Bude, Sie haben sich die Interviews, die Sie für Ihr 1995
       veröffentlichtes Buch „Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge
       1938–1948“ geführt haben, nochmals durchgesehen – und daraus ein neues Buch
       gemacht, eine Art Remix, Titel: „Adorno für Ruinenkinder“. Handelt es sich
       hierbei um eine Abrechnung mit der Achtundsechziger-Generation? 
       
       Heinz Bude: Nein, im Gegenteil. Als ich es fertig hatte, war ich über
       meinen fast zärtlichen Blick auf meine damaligen Auskunftgeber selbst
       erstaunt.
       
       Es sind Menschen, die seit den späten sechziger Jahren den 68er-Aufbruch in
       die Apparate trugen, etwa in die öffentlich-rechtlichen Medien, oder selbst
       Zeitungen und Verlage begründeten. Eine Erfolgsgeschichte? Oder sind es
       Gescheiterte? 
       
       Sie mögen persönlich nicht alles erreicht haben, was sie sich in ihren
       Lebensromanen ausgemalt haben – aber in ihren jeweiligen Zusammenhängen
       haben sie mit aller Energie dafür gesorgt, dass nie wieder eine Atmosphäre
       wie vor 1968 war. Da waren sie in jeder Hinsicht erfolgreich.
       
       Sie selbst sind erst 1954 geboren, als jüngstes Kind einer Familie in
       Friedenszeiten zur Welt gekommen. 
       
       Ich war in gewisser Weise der Delegierte meiner Familie, der das Neue, das
       Friedliche, das Andere und Bessere tragen sollte – mit Bildung im Gepäck
       nach oben. Aber für 1968 war ich zu jung. Als ich 1972 zu studieren begann,
       in Tübingen, war die Universitätslandschaft nach 68er-Belangen sortiert,
       zumindest in meinen Fächern, den sozial- und geisteswissenschaftlichen.
       
       Überall an den Universitäten gab es ja Parteiaufbauorganisationen. 
       
       Stimmt. Sofern man nicht ein ingenieurwissenschaftliches oder
       mathematisches Studium machte, hatte man keine Chance, sich irgendwie
       freischwebend einzuordnen. Maoistisch, spartakistisch, sozialistisch oder
       sonst wie, da musste man sich schnell entscheiden.
       
       Sie waren bei den Trotzkisten, nicht wahr? 
       
       Ja, bei der GIM, der Gruppe Internationaler Marxisten. Als Trotzkist konnte
       man sich schlauer geben. Dass mit 68 aber etwas grundsätzlich nicht stimmt,
       habe ich eigentlich im Deutschen Herbst erst so richtig verstanden. Da war
       die Demonstration zur Beerdigung von Ulrike Meinhof. Mit einer Freundin
       stritt ich mich über die Frage, dass man dort zwar hingehen sollte, man
       aber auch wissen müsste, wen man da beerdigt.
       
       Sie waren kein Fellow der Ulrike Meinhof? 
       
       Emotional schon, aber den Terror der RAF hielt ich für einen Wahn.
       
       Zumal man damals auch schon über die antisemitischen Abgründe Meinhofs
       Bescheid wissen konnte. 
       
       Für mich war das Problem, dass die asymmetrische Kriegsführung der RAF
       kompletter Irrsinn war – und trotzdem im Wesentlichen etwas mit 68 zu tun
       hatte.
       
       Was stört Sie am Glauben vieler Angehöriger der 68er-Generation, dass die
       RAF nur eine Abweichung gewesen sei? 
       
       Es gab ja diese Idee bei jenen, die für diese Generation stehen: Wir haben
       die Berechtigung, die Geschichte zu unterbrechen – nach den Erfahrungen des
       Nationalsozialismus. Dass alles weitergeht, ist die Katastrophe. Dafür war
       Walter Benjamin der Kronzeuge. Für mich jedoch war es etwas unglaublich
       Positives, dass alles weitergeht, dass es Zukunft gibt. Walter Benjamin
       bezog sich in seiner Diagnose historisch auf eine ganz andere Situation.
       Die 68er aber konnten dies nicht mehr …
       
       … auch nicht durch die Verfolgung der RAF durch den Staat. 
       
       Nein, dadurch schon gar nicht, die RAF war jenes Phänomen, das zu dieser
       Generation gehörte und zugleich auch nicht. Die 68er-Generation definierte
       sich durch die Berechtigung, sagen zu dürfen: Alles ist falsch hier. Es war
       ein unglaublicher Einsatz, diese Aussage zu machen – und ich habe mich
       gefragt, woher kommt dieser Mut eigentlich? Diese Bereitschaft, alles auf
       eine Karte zu setzen.
       
       Bei Ihnen schwingt ein bisschen Bewunderung durch, oder? 
       
       Ich bin bis heute davon beeindruckt von dieser Haltung, einfach zu sagen:
       Wir unterbrechen jetzt den Gang der Geschichte.
       
       Christian Semler, unser ehemaliger taz-Kollege, war Chef der maoistischen
       KPD/AO. Er sagte einmal über die Zeit: Das, was er und viele seiner
       Genossinnen und Genossen unter 68 verstanden, war auch ein Reenactment der
       alten Kämpfe in der Weimarer Republik. Auch um die NS-Zeit wie ungeschehen
       zu machen. 
       
       In der Tat, so lässt es sich im Hinblick auf die 68er-Folgen sagen. Wer das
       übrigens sehr scharf analysiert hat, war Peter Sloterdijk, ein ehemaliger
       Bhagwan-Anhänger, in seinem ersten Buch „Kritik der zynischen Vernunft“.
       
       Aber was war, von diesen Seitenaspekten der 68er-Geschichte abgesehen, der
       Kern des Aufbruchs vor 50 Jahren? 
       
       Dass sich die Dinge nicht von selbst verstehen. Man kann anders sein, sein
       Leben experimentieren, man kann sogar, wenn man will, konservativ sein. Man
       muss sich dafür aber entscheiden. 68 war ein Happening, das vieles denkbar
       und lebbar machte. Die einen hatten auf der Suche nach dem richtigen Leben
       immer den Adorno dabei, die „Minima Moralia“, die anderen hörten auf
       Jefferson Airplane, die Doors oder Velvet Underground. Was sie einte, war
       eine ungeheure Sehnsucht nach Welt.
       
       Wie war es, damals zu leben? 
       
       Ich stand mit meinen Klassenkameraden zwischen 1968 und 1972 an den runden
       Stehtischen bei Tchibo und wir redeten über den „Idioten“ von Dostojewski,
       über Viscontis „Tod in Venedig“ und die Ostpolitik von Willy Brandt. Der
       Parka markierte uns und die Haare auch. Ich war noch auf einem reinen
       Jungengymnasium. Die Mädchen von der Frauenoberschule kamen langsam dazu.
       Die machten dann schon mal die Haare auf, was unter den Verhältnissen
       stärkster Zugeknöpftheit eine kleine Revolution war.
       
       1968, heißt es, habe die sexuelle Revolution gebracht. Oswalt Kolle, der
       Mann, der den Deutschen im Mainstream-Kino lange vor 68 Sexuelles
       nahebrachte, meinte, der Sex der 68er sei der von verklemmten Bürgerkindern
       gewesen. Was stimmt? 
       
       Beide Sichtweisen sind eine grobe Verkennung dessen, was war. Es stimmt,
       dass der Flakhelfer Peter Boenisch die Bravo als Journal der Lockerheit
       gegründet hat und dass der 1925 geborene Willy Fleckhaus mit twen der
       ersten Pop-Zeitschrift seinen Stempel aufgedrückt hat. Es gab den urbanen
       Sexappeal von Hildegard Knef und die lakonische Erotik von Paul Kuhn. Das
       war alles vor 1968. Die Revolte hat dann das Reden über den Sex gebracht
       und – mit Michel Foucault gesprochen – mit der Idee einer Politik der
       ersten Person die Verbindung von Sex und Wahrheit. Meine
       Orgasmusschwierigkeiten hatten fortan was mit dem Kapitalismus zu tun.
       
       Es war eben diese Zeit, aus der heraus vieles an Liberalisierung gelang –
       eine Zeit, die heute rechte Politiker wie Alexander Dobrindt, Jörg Meuthen
       und Marco Buschmann zum antizivilisatorischen Popanz aufbauen. 
       
       All diese Leute glauben, dass 68 eine Idee vorausging – und der alle
       folgten. Sie glauben, man müsse dem Spuk durch eine andere Idee, in ihrem
       Sinne, ein Ende setzen. Dass 68 ein Knäuel aus schlechten Erfahrungen vor
       dieser Zeit und selbst gewählten Praxen mit dieser Zeit war: das können sie
       nicht glauben. Es gab unter den führenden Intellektuellen der 68er
       Hans-Jürgen Krahl. Eine mythische Figur, weil er so früh starb. Der schrieb
       in seiner Schrift „Konstitution und Klassenkampf“, die Emanzipation komme
       aus der Praxis. Es gebe keine vorlaufende Idee der Emanzipation, die Praxis
       des Ausprobierens selbst gebiert sie. Das war eine sehr konsequente Idee:
       Wir rennen los, aber wissen nicht, wohin. Aber beim Losrennen merken wir,
       dass was Gutes dabei rauskommt.
       
       Katharina Rutschky hat in einem Streitgespräch in der taz zu Götz Aly
       gesagt: Ach, es mussten keine wirklichen Tabus gebrochen werden. Die Türen,
       die wir einrennen mussten, waren alle geöffnet. Wir mussten bloß lernen,
       durch sie hindurchgehen zu wollen. 
       
       Vollkommen richtig, auch das wird unterschätzt. Die gesamte Presse,
       abgesehen von der Bild-Zeitung und teilweise auch der Welt, war ja für 68.
       In den Medien saß ja schon die geburtenstarke Generation. Das Land wartete
       auf 68. Was würden die jetzt machen?
       
       Und was machten sie? 
       
       Jene, die 68 zum Durchbruch verholfen haben, lebten das Momentum. Die
       Weltkriegsteilnehmer hatten nichts mehr zu bieten, jetzt kommt unsere Zeit.
       
       Eines – im Vergleich mit dem Spiegel – der für 68 unterschätztesten Medien
       war der Stern. Der hatte in Uschi Obermaier eine Ikone der Zeit kreiert. 
       
       Obermaier hatte ja auch wirklich was. Sie verkörperte eine der besten
       Seiten von 68, diese Unbekümmertheit, diese freundliche Art, sich von
       keiner „Das tut man nicht“-Haltung beirren zu lassen.
       
       Was unterschied sie von Schauspielerinnen wie Ruth Leuwerik oder Nadja
       Tiller? 
       
       Das waren die Anschmiegsamen, die aber schon ein „Zimmer für sich allein“
       beanspruchten. Uschi Obermaier kümmerte sich nicht mehr um die Werte der
       Kleinfamilie, sondern lebte drauflos.
       
       Sie und Ihre Frau haben eine Tochter, 19 Jahre jung. Was weiß sie von 1968? 
       
       Nichts von dem, was an Konkretem geschildert wird. Was aber bei ihr
       ankommt, ist diese Bereitschaft, etwas an dem, was die gesellschaftlichen
       Realitäten sind, zu unterbrechen. Also die Idee, dass man sich was
       herausnehmen kann und sagen kann: Alles ist Vorgeschichte. Die Geschichte
       beginnt erst mit uns.
       
       Im Sinne von: Mit uns wird Licht? 
       
       Genau. Für junge Menschen ist das auch heute ein ziemlich interessanter und
       verführerischer Gedanke.
       
       Ein bisschen davon hat Kevin Kühnert, der Juso-Chef und Groko-Gegner. 
       
       Ein bisschen was. Aber eine Idee für das Andere, auch wenn sie wirr und
       unausgegoren ist, muss man schon haben. Insofern ist das Erbe von 68 nicht
       weg. Befreiung muss immer wieder neu durchdekliniert werden. Nicht nur, was
       das für einen selbst, sondern was das für alle heißt. Das war übrigens auch
       immer der Punkt von Christian Semler: 68 war die globale Resonanz einer
       politischen Leidenschaft.
       
       Nur eine politische Leidenschaft? Welche Bedeutung hatte der gemeinsame
       Sound? Die Filme, die Musik … 
       
       Sie waren entscheidend für die Kraft dieser Leidenschaft, es mit allem, mit
       der ganzen Welt aufzunehmen. Wenn Sie an Janis Joplin denken: Das ist purer
       Existenzialismus. In der Stimme schon. Sie klingt auch nicht unbeschwert.
       Diese Schwermutsdimension von 68 hat ermöglicht, mit sich selbst das Ganze
       zur Disposition zu stellen.
       
       Die fehlende Heiterkeit um 68 herum war auch eine Voraussetzung für ihren
       Erfolg? 
       
       Den Ernst, ja die Schwermut brauchte es, um sagen zu können: Wenn sowieso
       nix da ist, wofür es sich so zu leben lohnt, dann kann man auch alles in
       Frage stellen.
       
       Das schloss auch das Kommerzielle ein. Ist aber die Kommerzialismuskritik
       nicht schon immer trivial gewesen? 
       
       Natürlich. Es ging ja auch nicht um sie, um Kritik am Kommerz. Die
       Kernfrage war: Gibt es irgendeine Autorität, die ein Gesetz des Lebens, ein
       Gesetz zum Leben vorlegen kann? Die Antwort lautete: Nein. So gesehen gibt
       es keine allgemeine Erkenntnis, die man aus dieser Zeit ins Heutige ziehen
       kann.
       
       Ihre Antworten lassen Spielraum. Also: Was war 68? 
       
       Ein Gefühl, das Millionen, nicht nur angehende Akademiker erfasst: Man kann
       durchstarten, ohne zu wissen, wer man ist und was man will.
       
       Und bei Ihnen? 
       
       Ist dieses Gefühl auch noch da, zeitversetzt in mein Leben gesickert. Mein
       Mann war allerdings ein Kritiker und ein Befürworter von 1968: Jean Améry.
       Der war beim „Internationalen Frühschoppen“, der schrieb interessante
       Bücher, er sprach wie einer, der von niemandem abhängig ist oder abhängig
       gehalten wird. Einer, der bis ans Ende zu denken vermochte. Er trug für
       sich selbst Verantwortung. Ein solcher wollte auch ich sein.
       
       Darf man sagen: Tja, das war schon eine irre Zeit, oder? 
       
       Ja schon, es war die Zeit von Unordnung und frühem Leid.
       
       Und waren nicht die Siebziger besser als das, was dieser Dekade angedichtet
       wird? 
       
       Das glaube ich nicht. Die Helmut-Schmidt-Periode war eine finstere Zeit.
       Für mich waren die Achtziger die eigentliche Coming-out-Zeit. Für meine
       Biografie sind die Hausbesetzer und der Poststrukturalismus und das
       Feuilleton von Frank Schirrmacher entscheidend gewesen. Wo man was wagen
       konnte, was erreichen konnte – die Generation Berlin.
       
       Gucken Sie auf Ihre Protagonisten aus „Adorno für Ruinenkinder“ heute
       freundlicher? 
       
       Milder, verständiger. Sie wollten ihr Leben, sie wollten die Welt
       verändern, nicht nur für sich.
       
       1 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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