# taz.de -- Iranischer Film über einen Justizirrtum: Wo man aufhört, sich zu wehren
       
       > Ein Mann wurde zu Unrecht hingerichtet. Im Mittelpunkt des iranischen
       > Spielfilms „Ballade von der weißen Kuh“ steht seine Witwe.
       
 (IMG) Bild: Allein gegen ein Willkürregime: Mina (Maryam Moghaddam)
       
       Beigegrau vor Blaugrau. Die Mauern des Gefängnisses heben sich nur schwach
       vom Nebel ab, der zwischen den Bergen der Umgebung hängt. Ein Wärter führt
       Mina zu ihrem Mann Babak. Es ist der letzte Besuch vor Babaks Hinrichtung.
       Ein Schnitt zu Minas Arbeitsplatz. Gerade aufgereiht, ziehen die
       Milchpackungen an ihr vorüber. Mit routiniertem Blick folgen ihre Augen den
       Packungen auf dem Fließband.
       
       Müde sitzt sie später neben ihrer Tochter Bita in der U-Bahn auf dem Weg
       nach Hause. Behtash Sanaeehas und Maryam Moghaddams „Ballade von der weißen
       Kuh“ zeigt den Zusammenbruch und das Leben Minas nach der Hinrichtung ihres
       Mannes.
       
       „Wann wurde er hingerichtet?“ Routiniert stellt die Angestellte des
       Sozialamts Fragen, überträgt die Antworten in ein Formular. Die Todesstrafe
       und ihre Folgen sind Teil ihres bürokratischen Alltags. Mina kontrolliert
       Milchpackungen, da wird sie ins Büro gerufen. Kurz darauf sitzt sie mit dem
       Bruder ihres Mannes in einem Zimmer des Gerichts. Ein Richter erklärt ihnen
       in sachlichem Tonfall, dass sich eine Zeugenaussage geändert hat, neu
       ermittelt wurde und die Hinrichtung ein Fehlurteil war. „Aber es war wohl
       Gottes Wille.“ Das Gespräch ist aus Sicht des Richters beendet, seine Augen
       wandern vom Bruder des Hingerichteten zu Mina.
       
       „Manche nehmen Drogen, andere trinken, ich schaue türkische Serien.“ Die
       Frau ihres Vermieters kümmert sich um Mina, kocht für sie, redet ihr zu,
       ihren Frieden mit dem Geschehenen zu machen.
       
       ## Chancenlosigkeit der Witwen
       
       Doch Mina geht Tag für Tag zum Gericht, um den Richter zur Rede zu stellen,
       der das Todesurteil verhängt hat. Kurz darauf steht ein Unbekannter vor der
       Tür, der sich als Reza, ein Freund ihres Mannes, ausgibt. Er behauptet,
       ihrem Mann Geld geschuldet zu haben, will es zurückzahlen. Am Abend erfährt
       Mina von der Frau des Vermieters, dass deren Mann beschlossen hat, dass
       Mina aus ihrer Wohnung fliegt, weil ein fremder Mann sie besucht hat.
       
       „Witwen, Besitzer von Hunden und Katzen und Junkies werden abgelehnt“,
       erklärt der Makler Mina unumwunden. An einem Zeitungsstand treffen sich
       Mina und Reza wieder. Mit zurückhaltender Genugtuung zeigt Mina die
       offizielle Entschuldigung für das Fehlurteil in der Zeitung, die sie
       erwirkt hat. Reza ist bereit, ihr eine leerstehende Wohnung zu vermieten,
       die er besitzt. Reza, das erfährt man als Zuschauer_in kurz nach dieser
       Szene, ist der Richter, der Minas Mann zum Tode verurteilt hat.
       
       Die Figur der Protagonistin, die von Maryam Moghaddam gespielt wird, geht
       auf Recherchen von Behtash Sanaeeha und Moghaddam zurück, die mit
       Angehörigen und Anwälten von Opfern von Fehlurteilen geredet haben. Nicht
       zuletzt beruht die Figur aber auf Moghaddams Mutter. Der Film ist die
       dritte Zusammenarbeit des Ehepaars Sanaeeha/Moghaddam nach „Risk of Acid
       Rain“ (2015) und „The Invincible Diplomacy of Mr Naderi“ (2017). Das
       Drehbuch schrieben die beiden zusammen mit Mehrdad Kouroshniya. „Ballade
       von der weißen Kuh“ lief 2021 im Wettbewerb der Berlinale.
       
       Systematisch entfaltet der Film Minas Chancenlosigkeit gegenüber einem
       [1][Justizsystem, für das Hinrichtungen Alltagsgeschäft sind], und einer
       Gesellschaft, die es längst aufgegeben hat, sich gegen Unrecht zu wehren.
       Zwar lässt sich Mina davon nicht unterkriegen, doch die Ergebnisse, die sie
       mit ihrem unermüdlichen Kampfgeist erzielt, sind mager: eine formale
       Entschuldigung und das übliche Blutgeld für den Tod ihres Mannes. Als sie
       sich einem Streik anschließt, wird sie entlassen. In der Hoffnung auf Geld
       wird sie von ihrem Schwiegervater und dem Bruder ihres Mannes verklagt.
       
       ## Erinnerung an den Popstar Googoosh
       
       Eher illustrativ greift der Film eine Reihe von Elementen der iranischen
       Medienkultur auf. Minas ehemalige Vermieterin teilt die weit verbreitete
       Begeisterung für türkische Fernsehserien, ihre Tochter Bita hingegen
       bevorzugt Filme und liebt das Kino. Benannt ist sie nach der Protagonistin
       aus Hajir Darioushs „Bita“ von 1972, in dem der Popstar Googoosh eine junge
       Frau spielt, die an der Gesellschaft zerbricht, als ihr Vater stirbt und
       ihr Liebhaber die Beziehung beendet.
       
       Der Film war nicht zuletzt dank der Hauptdarstellerin Darioushs einziger
       kommerziell erfolgreicher Film. Die Anspielung auf den Film ist auch ein
       sanfter Verweis auf das wiederbelebte Interesse an Googoosh seit ihrem Gang
       ins Exil im Jahr 2000.
       
       Bei der symbolischen Bedeutung der Kuh hingegen verzichtet der Film auf
       Subtilität. Zu Beginn zitiert er die Koran-Sure al-Baqara, „Die Kuh“, die
       eine Reihe von zentralen Versen u.a. für die Gerechtigkeitsvorstellungen
       und das Justizsystem enthält. „Und denket daran, als Moses zu seinem Volk
       sprach: ‚Allah befiehlt euch, eine Kuh zu schlachten.‘ Da sagten sie:
       ‚Treibst du Spott mit uns?‘“ Minas Mann Babak als symbolisches Opfer zu
       sehen wird einem in dem Film recht nahegelegt.
       
       ## Iranische Filmgeschichte
       
       Minas Arbeit in einer Kuhmilchfabrik hingegen ist symbolisch weniger klar.
       Dafür bietet die Kuh eine Steilvorlage zu einem Verweis auf die iranische
       Filmgeschichte vor der Islamisierung des Landes. In Dariush Mehrjuis
       Klassiker „Die Kuh“ von 1969 verliert ein Bauer über den Verlust seiner Kuh
       den Verstand und glaubt, selbst mehr und mehr zur Kuh zu werden.
       
       Die Auseinandersetzung mit dem Justizsystem ist ein Dauerbrenner im
       iranischen Kino. Anders als Filme wie [2][Mohammad Rasoulofs „Doch das Böse
       gibt es nicht“, der auf der Berlinale 2020 den Goldenen Bären gewann], oder
       die Filme Reza Dormishians knapp zehn Jahr zuvor setzt die „Ballade von der
       weißen Kuh“ auf eine ausgesprochen konventionelle Form. Der biederen
       Inszenierung durch die beiden Regisseur_innen steht eine für iranische
       Verhältnisse extrem unbeeindruckende Kameraarbeit von Amin Jafari zur
       Seite. Gerettet wird der Film von seiner Hauptdarstellerin.
       
       6 Feb 2022
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Fabian Tietke
       
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