# taz.de -- Ketamin gegen Depression: Eine Dosis neue Hoffnung
       
       > Viele kennen Ketamin nur als Partydroge oder Betäubungsmittel für Pferde.
       > Nun wird der Wirkstoff auch gegen Depressionen eingesetzt. Klappt das?
       
 (IMG) Bild: Der Wirkstoff Ketamin könnte gegen Depressionen helfen
       
       Während der ersten Ketamin-Infusion hat Tanja Valet eine Art Vision: Sie
       liegt in einem Bett der Berliner Charité und sieht sich von hinten, wie sie
       erhaben auf der Weltkugel steht und sich das Universum vor ihr auftut. „Ich
       öffnete meine mächtigen, muskulösen Flügel, war endlich wieder stark“, sagt
       sie. Sie habe sich gefühlt wie in einem wachen Traum, schwebend, auf
       angenehme Art von der Schwere ihres Körpers befreit. Zugleich habe sie
       wieder Lust empfunden, das Leben in die Hand zu nehmen.
       
       In letzter Zeit hatte Valet sich schwach gefühlt, abgeschnitten von allem,
       leer. Das erzählt die 33-Jährige in einem Café in Berlin. Seit diesem
       Treffen im Frühjahr 2019 begleitet die taz sie. Tanja Valet ist nicht ihr
       richtiger Name – sie will anonym bleiben, da sie sehr persönliche Dinge
       schildert.
       
       Früher arbeitete Valet als Sekretärin, in den letzten Jahren wäre das
       unmöglich gewesen: Selbst Alltägliches wie Einkaufen überforderte sie. „Ich
       war ohne jede Motivation, geistig und sogar motorisch extrem verlangsamt.“
       Eine schwere Depression. Beinahe wäre ihre Ehe daran zerbrochen. Als Mutter
       machte sie sich Vorwürfe, nicht richtig für ihren Sohn da zu sein. „Ich
       hatte schon vier Therapeuten und viele Psychopharmaka ausprobiert, darunter
       fünf Antidepressiva.“ Der Strudel aus Gefühllosigkeit und Selbsthass blieb.
       
       An Menschen wie Tanja Valet richtet sich [1][ein seit über sieben Jahren im
       Rahmen internationaler Forschungskooperationen laufendes Pilotprojekt am
       Berliner Campus Benjamin Franklin, dem Universitätsklinikum]. Weit über 100
       Patient:innen haben hier bereits Ketamin gegen ihre starken, durch
       andere Behandlungen nicht abklingenden Depressionen bekommen. Es wird per
       Infusion und als Off-Label-Use verabreicht, innerhalb eines Einsatzgebietes
       also, für das es so nicht zugelassen ist. Aber hat Ketamin wirklich das
       Zeug dazu, schwer depressiven Menschen aus der Krise zu helfen?
       
       Wenige Monate nach Behandlungsbeginn wirkt Tanja Valet zuversichtlich. Sie
       spricht schnell, klar, auf Englisch mit südafrikanischem Akzent. „Etwa 15
       Minuten nachdem der Tropf durchgelaufen war, kam ich zurück auf die Station
       und konnte in meinem Bett entspannen.“ Sie fühlt sich etwas beschwipst,
       wackelig, aber so gut wie lange nicht. Die Ärzt:innen und das
       Pflegepersonal erklären ihr immer wieder, dass es nicht um den „Trip“
       selbst gehe. Vielmehr sei entscheidend, wie sie sich in den nächsten Tagen
       fühle.
       
       Das 1962 erstmalig hergestellte Ketamin ist vor allem als Betäubungsmittel
       für Pferde und als Partydroge bekannt. Als Letztere wird es meist in
       Pulverform durch die Nase gezogen und führt zu einer veränderten
       Wahrnehmung. Die Substanz wurde aber schon im Vietnamkrieg als gut
       verträgliches Schmerzmittel und Notfallanästhetikum eingesetzt und in den
       USA 1970 für die Anwendung beim Menschen zugelassen.
       
       Heute wird Ketamin global verwendet, [2][seit 1985 listet es die
       Weltgesundheitsorganisation als eines der aktuell rund 500 unentbehrlichen
       Arzneimittel]. Für die Narkose wird es auch in Deutschland eingesetzt – und
       hat als wertvolle Eigenschaft, die Atmung kaum zu beeinträchtigen. Ketamin
       fällt nicht unter das Betäubungsmittelgesetz. Aber der illegale Handel gilt
       als Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz und kann mit einer Freiheitsstrafe
       von bis zu drei Jahren geahndet werden.
       
       Zwar hatte man Ketamin schon im Rahmen [3][einer 1975 veröffentlichten
       Studie] per Forced-Swim-Test mit Mäusen auf eine antidepressive Wirkung hin
       geprüft – indem man schaute, wie lange diese in einem mit Wasser gefüllten
       Glasgefäß gegen das Ertrinken anschwammen. Die Methode ist [4][unter
       Tierschützer:innen] und [5][Wissenschaftler:innen] umstritten und
       ergab, dass trizyklische Antidepressiva erfolgversprechender seien. Diese
       nach ihrer chemischen Struktur benannten Stimmungsaufheller werden
       inzwischen seltener verschrieben – wegen starker Nebenwirkungen wie
       Übelkeit, Abstumpfung und sexueller Dysfunktion.
       
       In den 1990er Jahren dann machte John Krystal, Psychiater und Professor für
       Neurowissenschaften an der Yale University, eine unerwartete Entdeckung. Im
       Zuge biochemischer Forschungen zur Funktionsweise des Gehirns zeigte sich
       bei einigen Studienteilnehmer:innen, dass Ketamin deutlich gegen depressive
       Symptome wirkte. Den Effekt konnten immer mehr Forschende bestätigen;
       seither ist das Interesse groß.
       
       Wenige Tage nach ihrer ersten Infusion soll Tanja Valet einer Gruppe
       Medizinstudierender von ihrer Depression erzählen. „Ich war ganz
       überrascht, dass ich plötzlich in der Vergangenheitsform sprach“, erinnert
       sie sich.
       
       Solche Erfolge freuen auch Isabella Heuser-Collier. Als langjährige
       Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité im
       Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf war sie für Valets Behandlung
       zuständig. Die vor der Pensionierung stehende Medizinerin kennt die
       begleitenden Studien genau. In einem Gespräch in der Klinik, noch vor
       Corona, berichtet sie von den Ergebnissen: „34 Prozent der
       therapieresistenten Patienten profitierten deutlich, manche waren sogar
       symptomfrei. Das ist schon eine ziemliche Hausnummer.“ Wenn das Ketamin
       wirke, sei es fast wie ein kleines Wunder. [6][Andere Studien] zeigen bei
       manchen Patient:innengruppen gar eine Wirkquote von über 70 Prozent,
       zumindest temporär – aber durchaus über den während der Infusion spürbaren
       Effekt hinaus.
       
       Seit Jahrzehnten gab es bei Antidepressiva keine echten Innovationen;
       Isabella Heuser-Collier bemängelt, dass die Forschung in Deutschland nicht
       mehr richtig gefördert werde. „Zwar haben wir sehr wirksame und gut
       verträgliche Psychopharmaka, aber mindestens ein Drittel der Patienten
       spricht nur ungenügend oder gar nicht auf sie an“, sagt sie. Überhaupt weiß
       man erstaunlich wenig darüber, was genau die Substanzen mit
       Patient:innen machen; bei Ketamin ist das nicht anders.
       
       Es ist zwar bekannt, dass es im Gehirn an speziellen Bindungsstellen für
       den Botenstoff Glutamat wirkt und die Opioidrezeptoren zu aktivieren
       scheint. „Aber wie das mit der rasch eintretenden antidepressiven Wirkung
       zusammenhängt, wissen wir nicht genau“, erklärt Heuser-Collier. Ein
       weiteres Indiz sind Hirnscans, nach denen Ketamin die Verbindung zwischen
       verschiedenen Gehirnarealen erhöht. „Das scheint ähnlich zu sein wie bei
       Psychedelika“, sagt Heuser-Collier. Damit bezieht sich die Klinikchefin auf
       Substanzen wie [7][LSD, Psilocybin und MDMA], die ebenfalls [8][als Drogen
       bekannt sind und wissenschaftlich] auf ihre teils [9][vielversprechende
       Wirksamkeit gegen psychische Krankheiten] untersucht werden.
       
       ## Ketamin wirkt schnell
       
       Der sich von den bekannten Antidepressiva unterscheidende Wirkmechanismus
       und vor allem der schnelle Wirkeintritt lassen Ketamin hervorstechen:
       Manche psychische Leiden lindert es [10][messbar schon nach 40 Minuten,]
       andere Mittel brauchen oft Wochen. Dieser Unterschied könnte gerade bei
       Suizidgefährdeten entscheidend sein.
       
       „Wenn das Ketamin nicht geholfen hätte, wäre ich beunruhigt darüber, wo ich
       jetzt stünde“, sagt Tanja Valet bei einem zweiten Treffen einige Monate
       später. „Suizid war für mich keine Option, aber der Stoff kann zweifellos
       Leben retten.“ Seit sie mit 19 eine Psychose erlitt, hatte Valet immer
       wieder ernste psychische Probleme. Damals flog auf, dass ihre Mutter
       jahrzehntelang die Familie belogen hatte und ein Doppelleben führte. Valets
       Vertrauen in die Welt war erschüttert; sie konnte nicht mehr erkennen, was
       real war, und hatte akustische Halluzinationen: „Es war extrem
       beängstigend.“ Sie bekam Medikamente, wurde depressiv.
       
       Später musste Valet, in Südafrika aufgewachsen, oft umziehen. Zweimal
       bangte sie um das Leben ihres Mannes, er besiegte seine Krebserkrankung.
       Als ihre Schwester 2017 unerwartet an einem Hirntumor starb und man bei
       ihrem Vater zwei Wochen später schweren Lungenkrebs diagnostizierte, wurde
       ihr alles zu viel. Sie rutschte in einen Abgrund jenseits normaler Trauer.
       Die Schwere wich auch nach vielen Monaten nicht, wurde immer stärker. Im
       Herbst 2018 war es so schlimm, dass selbst Gespräche kaum möglich waren:
       „Ich sah das Leben nur noch als Herausforderung und mich als wertlos und
       unfähig zu lieben.“ Dabei sei Valet, das sagt sie – und man merkt es ihr an
       –, ein sehr empathischer Mensch.
       
       In der Zeit, als sie Kontrolle und Antrieb völlig an die Depression
       verloren hatte, merkte sie nicht, wie schwer die Situation auch für ihren
       Partner war. Bei verzweifelten Recherchen nach Hilfe stießen sie auf die
       Website der Charité und machten einen Termin mit Heuser-Collier aus.
       
       Die Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie schlug nach
       ausführlicher Anamnese die unkonventionelle Behandlung mit Ketamin vor.
       Valet hatte noch nie davon gehört. Ihr Mann kannte es nur als Partydroge,
       schöpfte jedoch Hoffnung. „Ich war ambivalenter, auch weil es schwer ist,
       nach so vielen Enttäuschungen noch mal an eine Linderung zu glauben“, sagt
       Valet. Die schnelle Wirkung von Ketamin überzeugte sie aber, den Versuch zu
       wagen.
       
       Valet wird im Dezember 2018 für etwa drei Wochen stationär aufgenommen. Sie
       ist nervös. Aber die klaren Strukturen und die medizinische Überwachung
       beruhigen sie. Sieben Infusionen bekommt sie in dieser Zeit. Der
       unmittelbare Rauscheffekt schwächt sich von Mal zu Mal ab, ein wattiges
       Entspannungsgefühl aber bleibt und wirkt lösend. Sie fühlt sich viel
       besser. Als sie wieder zu Hause ist, sei es erst komisch gewesen, erneut
       mit schwierigen Erinnerungen und Gefühlen konfrontiert zu werden. Aber es
       fällt ihr viel leichter, Entscheidungen zu treffen, Pläne zu machen oder
       ihren Sohn in die Kita zu bringen. Sie fühlt sich nicht mehr so müde und
       schuldig, sondern normal. Noch viel deutlicher nimmt ihr Partner den
       Unterschied wahr. „Er fand, ich sei wieder viel mehr ich selbst, fast wie
       ein anderer Mensch“, erzählt Valet.
       
       Arno Flock hatte eine ähnliche Transformation im Sinn, als er die Charité
       kontaktierte. Der schlanke Enddreißiger mit Dreitagebart ist im sozialen
       Bereich tätig; mit Blick auf künftige Arbeitgeber möchte auch er seinen
       echten Namen nicht offenlegen. Schon vor Jahren hatten bei ihm mehrere
       Ärzt:innen eine chronische mittelschwere Depression diagnostiziert. Er
       beschäftigt sich leidenschaftlich mit alternativen Therapieansätzen,
       Traumaforschung und spirituellen Themen. In einem ersten Gespräch im Sommer
       2019 spricht er außer von Studienergebnissen auch von Göttern und Energien.
       
       Flock wurde als Ketamin-Patient von der Charité abgelehnt. Das ist etwa
       fünf Jahre her, aber er ist noch immer sauer: „Die haben sich nur für ihre
       Studie interessiert und waren total arrogant.“ Zweimal hatte Flock bereits
       „mit mäßigen Resultaten“, wie er sagt, Antidepressiva genommen. Man habe
       ihm aber nahegelegt, erst mal seine Psychotherapie zu beenden. Zwar findet
       Flock, er habe Glück gehabt mit seinem Therapeuten, weil der sein
       Ketamin-Vorhaben nicht ablehnte: „Die meisten sind dagegen, denn wenn man
       mit einer Pille oder einem Pulver das Gleiche erreichen könnte, wäre ihr
       Job überflüssig.“ Die Therapie habe auch geholfen, „aber nicht genug, ich
       war in Not“.
       
       Also beschloss er, sich auf eigene Faust Ketamin zu organisieren. Als
       trockener Alkoholiker mit Hang zur Sucht konnte er es nicht mit sich
       vereinbaren, die Substanz auf der Straße zu besorgen. Das war auch gar
       nicht nötig: Im Internet findet man Ärzt:innen, die Infusionen gegen Geld
       anbieten. „Ich habe mir einen Arzt in Köln gesucht, alles mit ihm
       abgesprochen und bin hingeflogen. Das war total unkompliziert – zack, das
       Ding in die Vene.“
       
       ## Der Ketamin-Hype in den USA
       
       Illegal ist das nicht. Es handelt sich meist um Anästhesist:innen, die sich
       nicht mit Depressionen, aber gut mit Ketamin auskennen und es verschreiben
       dürfen. Wenngleich die Zahl der Anbieter in Deutschland wächst, ist sie
       überschaubar. In den USA nicht, dort gibt es einen regelrechten Hype:
       Allein das Onlineverzeichnis [11][ketaminedirectory.com] hält etwa 200
       Adressen bereit. Viele Links führen auf teils schrille Webseiten mit
       glücklich lächelnden Menschen, betont seriösen Mediziner:innen oder
       Werbeslogans, die sich nicht nur an Depressive richten. Die Preise pro
       Infusion schwanken und können auch mal 1.500 Dollar betragen.
       
       „Ich finde das schwierig“, sagt die Chefin der Charité-Psychiatrie und
       betont die Wichtigkeit einer Fachexpertise. Dass stark Leidende solche
       Angebote wahrnehmen, kann Heuser-Collier zwar verstehen: „Sie sind
       verzweifelt, greifen nach jedem Angebot.“ Handele es sich jedoch um
       psychiatrisch nicht notwendige Behandlungen, sei es richtig, dass diese
       selbst bezahlt werden. Mit solchen Anbietern stehe die Charité nicht in
       Kontakt. Manche Expert:innen wittern verantwortungslose Geldmacherei,
       die ärmere Menschen ausschließt.
       
       Der Arzt, bei dem Arno Flock sein Ketamin in Köln bekam, heißt Frank
       Mathers. Der 62-jährige US-Amerikaner war wohl der Erste, der Ketamin in
       Deutschland off-label verabreichte – noch ein paar Jahre vor der Charité.
       Das erzählt er in lockerem Tonfall, mit ausladender Gestik und breitem
       Akzent per Zoom. Gleichzeitig betont Mathers nicht ohne Stolz, dass er mit
       führenden Forscher:innen in Kontakt sei und etwa in Oxford Vorträge über
       seine Arbeit mit Ketamin halte.
       
       Er bestreitet nicht, dass es unseriöse kommerzielle Anbieter gibt. Auf ihn
       jedoch treffe dies nicht zu: „Das ist nur ein Zubrot, ich mache mein Geld
       vor allem als Narkosearzt und Schmerzmediziner.“ Entsprechend der in
       Deutschland geltenden Gebührenordnung koste eine Infusion bei ihm 220 Euro.
       Zudem betone er stets, kein Psychiater zu sein: „Ich lege den Leuten eine
       Nadel, lasse das Medikament reinlaufen und passe dabei anästhesistisch auf
       sie auf.“ Eine Bedingung dafür sei, dass sie anderswo in entsprechender
       Behandlung sind, am liebsten auch in Psychotherapie.
       
       ## Vorsicht bei Psychosen
       
       Überhaupt wähle er genau aus, sagt Mathers. Zunächst müsse es eine
       psychiatrisch bestätigte Indikation geben. Ein bisschen großzügiger als die
       Charité sei er wohl schon, aber „wenn einer kommt, weil ihn die Freundin
       verlassen hat, schicke ich ihn wieder weg“. In den letzten zehn Jahren habe
       er 1.300 Anfragen bekommen und 360 davon abgelehnt. Darunter seien
       psychotische Patient:innen gewesen: „Wenn die das Gefühl haben, ihre
       Hoden werden vom Mond bestrahlt oder sie können fliegen – Ketamin: bad
       idea, really bad idea.“ Außerdem müsse man bei Bluthochdruck,
       Herzrhythmusstörungen und Ähnlichem vorsichtig sein. Nach der Infusion
       solle man kein Auto fahren, sich ausruhen. Das entspricht auch in etwa der
       Einschätzung anderer Expert:innen.
       
       Auf Besuch in der Charité führt eine Klinikmitarbeiterin in den Bereich, in
       dem die Ketamin-Infusionen durchgeführt werden. Mit seinen dröhnenden,
       rauschenden und summenden Überwachungsgeräten wirkt er wie eine besonders
       aktive Zelle des riesigen Klinikorganismus. Etwas abseits davon liegt der
       Aufwachraum, wo auch Tanja Valet damals Ketamin bekam. An den Wänden des
       Raums hängen Bilder von unwirklich schönen Landschaften; im Kontrast zur
       technischen Atmosphäre wirken sie etwas skurril.
       
       Was Tanja Valet hier erlebt hat, nennen Fachleute Pseudohalluzinationen –
       Sinnestäuschungen, die einem als solche bewusst sind – und dissoziative
       Zustände. Letztere sind typisch für die Wirkung von Ketamin: Man fühlt sich
       vom eigenen Körper losgelöst, empfindet Raum und Zeit verzerrt und gewinnt
       eine Art Abstand zu sich selbst. Wohl deswegen ist in der Feierszene der
       Ausdruck „Urlaub auf Keta“ bekannt. Bei hoher Dosierung kann sich die
       Dissoziation zu einem sogenannten K-Hole steigern: einem Zustand, in dem
       man sich völlig losgelöst fühlt von der Realität und die Kontrolle über
       seinen Körper verliert. Je nach Situation besteht Verletzungsgefahr, bei
       entsprechender Veranlagung können eventuell Psychosen ausgelöst werden.
       
       Den von Ketamin verursachten Rausch hält Heuser-Collier für eine lästige
       Nebenerscheinung. Es solle „eigentlich nicht zu irgendwelchen
       Halluzinationen oder merkwürdigen Gefühlen kommen, auch wenn manche das als
       angenehm empfinden“. Für eine therapeutische Dosis gegen Depressionen gibt
       es noch keinen Standard, [12][die American Psychological Association
       empfiehlt 0,5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht] innerhalb von 40
       Minuten.
       
       ## Die umstrittene Rolle der Dissoziation
       
       „Für mich als Anästhesisten ist das ein Scherz“, sagt Frank Mathers und
       spielt darauf an, dass die Dosis für eine Narkose deutlich höher ist. Oft
       gibt er seinen Depressionspatient:innen etwas mehr, spricht das
       aber individuell ab. Anders als Heuser-Collier sind nach Mathers’ Erfahrung
       deutliche Dissoziationen entscheidend für den Erfolg. „Leute, die einfach
       nur einschlafen, entwickeln sich nicht gut“, sagt er. Deswegen nehme er das
       ältere, günstigere Ketamin, das stärker dissoziativ wirke.
       
       Inzwischen gibt es auch ein Nasenspray mit dem chemisch sehr ähnlichen
       Esketamin als antidepressivem Wirkstoff. Der US-Pharmariese Johnson &
       Johnson hält das Patent; die Kosten der empfohlenen Behandlung liegen in
       den USA pro Monat bei mehreren Tausend Dollar. Auch [13][in der EU ist
       Spravato seit Ende 2019 zugelassen], aber in Deutschland noch nicht
       verfügbar. Die Charité plant eine eigene Ambulanz, wo Patient:innen es
       unter Aufsicht und strengen Auflagen offiziell gegen Depressionen bekommen
       sollen.
       
       Anderswo wird sogar [14][daran geforscht], ein [15][chemisches Nebenprodukt
       von Ketamin] nutzbar zu machen, das völlig ohne Rausch wirken soll. Der von
       Mathers und anderen beobachtete Zusammenhang zwischen Dissoziation und
       antidepressivem Effekt ist noch nicht geklärt: Ein kürzlich im Fachmagazin
       Nature Communications [16][erschienener Artikel resümiert, dass die
       Datenlage unklar] sei.
       
       Arno Flock gehört auch eher zu denen, die an die Relevanz des Rauschs
       glauben. Mit dessen Hilfe sei er an Dinge in seiner Psyche herangekommen,
       die mit der Therapie allein verborgen geblieben wären: „Man kann sich
       selber wie von außen betrachten und dadurch neue Perspektiven einnehmen.“
       Im dissoziativen Zustand habe er einmal den Eindruck gehabt, auf einem
       Festival zu sein, körperlich besser gebaut, mit einer jungen Frau an seiner
       Seite. Und gedacht: „So kann es sich also anfühlen ohne den ganzen
       Ballast.“
       
       ## Psychotherapie in Verbindung mit Ketaminverabreichung
       
       Um solche Erfahrungen besser nutzbar zu machen, verfolgt eine in Berlin neu
       eröffnete [17][Praxis für „augmentierte Psychotherapie“] einen
       interdisziplinären Ansatz, nach dem Substanz und Therapie mehr sein sollen
       als die Summe aus beidem. Unter Ketamin gewonnene Einsichten sollen
       psychisch integriert, also therapeutisch besprochen, als Basis eines
       Lernprozesses begriffen und ins alltägliche Erleben eingeordnet werden.
       
       Zwar empfahl man Tanja Valet an der Charité eine begleitende
       Psychotherapie, aber sie war zu der Zeit nicht in Deutschland
       krankenversichert. Hätte sie noch mehr von den Infusionen profitiert, wenn
       ihre inneren Regungen – nach einer Infusion brach eine große Traurigkeit
       aus ihr hervor – als Teil der Genesung betrachtet worden wären?
       
       Einige Wochen nach der Infusionsserie kommen Valets Symptome langsam
       zurück, zuerst Müdigkeit, dann Langsamkeit, bis dann auch das Gefühl, im
       eigenen Kopf gefangen zu sein, wieder unverkennbar ist. Erst will sie das
       nicht wahrhaben, dann kontaktiert sie die Charité. „Depressionen neigen
       dazu wiederzukehren“, erklärt Heuser-Collier. „Der Effekt des Ketamins hält
       in der Regel nicht besonders lange an.“ Deswegen biete man den
       Patient:innen etwa alle sechs bis acht Wochen einzelne
       Auffrischungsbehandlungen an, mittlerweile auch ambulant. Also bekommt
       Valet weitere Infusionen.
       
       Ketamin ist kein Allheilmittel. Es gibt keine Garantie, dass es überhaupt
       wirkt. Die Nebenwirkungen und Gefahren gelten im medizinischen Setting als
       überschaubar. Meist soll es auch keine Dauerlösung sein, sondern Depressive
       zunächst einmal aus dem tiefsten Loch holen. So kommen sie überhaupt in die
       Lage, weitere Schritte gehen zu können. Die können eine Psychotherapie sein
       oder auch andere Medikamente, die parallel eingenommen werden.
       
       Wenn Ketamin aber in kürzester Zeit zu neuem Lebensmut verhilft, liegt dann
       nicht die Verlockung der Regelmäßigkeit nahe? „Das ist eine absolute
       Suchtsubstanz“, sagt Frank Mathers, der Anästhesist, „aber mir ist nicht
       bekannt, dass irgendwer in professioneller Behandlung je eine Abhängigkeit
       entwickelt hätte“. Ein deutlich höheres Suchtpotenzial haben tatsächlich
       andere Substanzen – wie die Opiate, die er gegen Schmerzen verschreibt.
       Wenn auch extrem selten, sei es trotzdem vorgekommen, dass er bei der
       Anamnese von Ketamin-Patient:innen belogen wurde oder Anfragen wegen
       Anzeichen einer Sucht ablehnte. Was außerhalb seiner Praxisräume passiere,
       könne er nicht kontrollieren.
       
       ## Mögliche Langzeitfolgen nimmt Arno Flock in Kauf
       
       „Ich bekomme jetzt Esketamin auf Privatrezept“, berichtet Arno Flock Ende
       Februar per Zoom und hält die Ampullen in die Kamera. Er trockne zu Hause
       deren Inhalt und nehme dann das Pulver. Sein Konsum sei recht häufig
       geworden, deswegen kaufe er sich inzwischen auch zusätzliches Ketamin. „Ist
       es riskant? Wahrscheinlich. Und ist es mir wurscht? Ja“, sagt er. Was die
       kaum erforschten Langzeitfolgen angeht, macht Flock sich keine Sorgen –
       obwohl es [18][bei regelmäßigen und hohen Dosen] über längere Zeit zu
       [19][ernsten Blasenproblemen] kommen kann.
       
       Mit Blick auf die Gefahr, dass das Drogenstigma die Entwicklung neuer
       Antidepressiva weiter erschwert, sagt Flock: „Ich will keinesfalls, dass
       mein unrepräsentativer Fall anderen zum Nachteil gereicht.“ Zudem betont
       er, dass er sich redlich um andere Wege bemüht habe, an Ketamin zu kommen,
       und es ihm nun viel besser gehe: „Wenn ich dadurch endlich wieder meine
       Steuererklärung machen kann oder eine schöne Erinnerung an meinen
       Geburtstag habe, warum darf ich das Risiko nicht in Kauf nehmen?“ Die
       aktuelle Drogenpolitik kritisiert Flock: „Man ist der böse Junkie, wenn man
       abends Ketamin nimmt, aber gilt als rechtschaffener Deutscher, wenn man
       ordentlich Bier trinkt und Psychopharmaka schluckt.“
       
       Wenngleich von ganz anderer Warte, sagt auch Heuser-Collier: „Es gibt
       natürlich Leute, die von Ketamin abhängig sind, aber das gibt es auch bei
       [20][Alkohol, Nikotin] oder [21][Benzodiazepinen].“ Es [22][spreche also
       nicht prinzipiell gegen seine Verwendung].
       
       Ihre ehemalige Patientin Tanja Valet hatte nie Angst vor einer Sucht.
       Entsprechend der herrschenden Fachmeinung hält sie Ketamin im
       professionellen Setting und seinen Freizeitgebrauch für zwei verschiedene
       Welten. Ihre letzte Infusion liegt etwa anderthalb Jahre zurück, erzählt
       sie ebenfalls per Zoom. Sie sei nach wie vor sehr dankbar für die
       Behandlung, und es gehe ihr gut – obwohl ihr Vater im Dezember einer
       Corona-Infektion erlegen sei. Sie hatte Angst vor einem depressiven Schub,
       konnte diesmal aber vorbeugend agieren. Sie kontaktierte eine frühere
       Therapeutin, hat nun regelmäßige Onlinesitzungen und treibt viel Sport.
       Beruflich orientiert sie sich neu, will Illustratorin werden. Und seit fast
       zwei Jahren nimmt sie ein Antidepressivum, ihr sechstes. Das wirke besser:
       „Ich werde es auf keinen Fall absetzen!“
       
       Der Lockdown sei für den Familienzusammenhalt und für sie persönlich ganz
       gut: „Das hat den ganzen Druck genommen, zu bestimmten Zeiten an bestimmten
       Orten sein zu müssen.“ So konnte sie sich erholen und eine Routine
       entwickeln. Auf ihrem Schreibtisch steht ein Bild, das sie im Internet
       gefunden hat: Man sieht darauf eine Frau von hinten, einen lockeren Schal
       um Schultern und Rücken, darauf Flügel aus bunten Federn. Ein Bild ähnlich
       wie das bei ihrer ersten Ketamin-Infusion. „Es erinnert mich daran, dass
       ich stark, widerstandsfähig und zugleich verletzlich bin“, sagt sie.
       
       10 Apr 2021
       
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 (DIR) [6] https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25010396/
 (DIR) [7] /Drogen-in-der-Psychotherapie/!5568197
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 (DIR) [18] https://www.nature.com/articles/s41598-019-43746-x
 (DIR) [19] https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1442-2042.2009.02361.x
 (DIR) [20] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/a/alkohol.html
 (DIR) [21] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Berichte/Abschlussbericht_ZIS_Benzodiazepine.pdf
 (DIR) [22] https://www.who.int/medicines/news/20160309_FactFile_Ketamine.pdf
       
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