# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Was nach dem Scheitern bleibt
       
       > Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann. Wie jüdisch war der Pariser Mai
       > 1968? Und wie trauert man über eine gescheiterte Revolution?
       
 (IMG) Bild: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre auf der Beerdigung von Pierre Goldmann 1979.
       
       Der vorläufig letzte Revolutionsversuch im Westen Europas scheiterte 1968 –
       in Paris. Mit diesem Scheitern verpufften die utopischen Energien im
       Westen; die friedlichen „Revolutionen“ Ost- und Mitteleuropas, die das
       sklerotische Sowjetsystem zu Fall brachten, waren anderer Art. Manche
       wollen derzeit im Kiewer „Euromaidan“ 2013/2014 eine versuchte Revolution,
       dem Pariser Mai vergleichbar, erkennen. Doch das ist derzeit noch
       umstritten und wird erst die Geschichte weisen.
       
       Dafür besteht jetzt die Chance, sich dessen, was der Pariser Mai war, zu
       versichern. Er war – so jedenfalls der Historiker Sebastian Voigt –
       „jüdisch“. Voigts Studie „Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel
       Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich“ weist nach, dass
       die Protagonisten jener Revolte in einem nicht nur banalen Sinn Juden
       waren. Die in den 1930er und 1940er Jahren Geborenen stammten von
       kommunistischen Eltern ab, die den Nazismus in Untergrund oder Emigration
       überlebten.
       
       Sie unternahmen den Versuch, eine eigene, von den Gräueln des Stalinismus
       nicht befleckte linksradikale Perspektive wiederzubeleben. In ihnen und
       ihrer Eltern Leben kam zum Ausdruck, was Hannah Arendt in ihrem Buch
       „Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft“ als das Kennzeichen des 20.
       Jahrhunderts herausgestellt hat: die Gestalt der jeden Schutzes baren
       Staatenlosen.
       
       Tatsächlich solidarisierten sich die demonstrierenden Pariser Studenten mit
       dem an der Wiedereinreise nach Frankreich gehinderten Cohn-Bendit, indem
       sie riefen: „Wir sind alle deutsche Juden.“ Während sich Daniel Cohn-Bendit
       später zum klugen, das Maß politischen Handelns präzise einschätzenden
       Reformisten und André Glucksmann zum antitotalitären Philosophen wandelte,
       wurde Pierre Goldman, heute weitgehend vergessen, 1979 auf offener Straße
       erschossen.
       
       ## Im Untergrund geboren
       
       1944 im französischen Untergrund geboren, publizierte er 1977 – nach
       lateinamerikanischen Guerrillaerfahrungen und einer Haftstrafe wegen eines
       ihm zu Unrecht zur Last gelegten Mordes – seine Aufsehen erregenden
       Memoiren „Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen
       Juden“.
       
       Goldman, der, obwohl ein radikaler Linker, niemals zum
       antiimperialistischen Feind des Staates Israel wurde, erläuterte sein
       jüdisches Selbstverständnis in den späten 1970er Jahren so: „Meine einzige
       Art, mein Jüdischsein zu bekräftigen, war es, ein Paria zu werden. Ich bin
       im Geruch der Krematorien geboren. Meine ganze Jugend habe ich mir
       gewünscht, dieses Klima wiederzubeleben, die Atmosphäre des Warschauer
       Gettoaufstands wiederherzustellen und zugleich das Leiden und die Ehre
       kennenzulernen.“
       
       Freilich deckt Voigts biografisch verdichtete Darstellung nicht die ganze
       Breite jener Revolte und ihres Scheiterns ab; die ebenfalls oft jüdischen
       Familien entstammenden Trotzkisten erwähnt er nur beiläufig, obwohl aus
       ihren Reihen die philosophisch anspruchsvollste Trauerarbeit über das
       gescheiterte Revolutionsprojekt vorgelegt wurde: Daniel Bensaids Essay
       „Walter Benjamin. Links des Möglichen“, der gleichfalls dieser Tage
       erschienen ist.
       
       1946 als Sohn eines algerischen Juden in Toulouse geboren, seit früher
       Jugend Kommunist, Aktivist des Pariser Mai und der Vierten trotzkistischen
       Internationale, versuchte der 2010 verstorbene Professor der Philosophie
       dem weltgeschichtlichen Scheitern der kommunistischen Idee einen letzten
       Sinn abzugewinnen. In einer Rückkehr zu Walter Benjamins Messianismus sowie
       Ernst Blochs später Philosophie fand er schließlich das, was nach dem
       Scheitern bleibt: Hoffnung.
       
       ## Die Zukunft als beweglicher Horizont
       
       „Für die messianische Vernunft“, so Bensaids unter Schmerzen errungene
       resignative Einsicht, „ist die Zukunft nicht der unbewegliche Ort eines
       gelobten Landes, sondern der bewegliche Horizont, an dem sich die
       Möglichkeiten aktualisieren. Ihr Prinzip ist nicht die erschlaffte Hoffnung
       eines Trostes, sondern die auf der Lauer liegende Zuversicht des
       Vielleicht. Die Utopie findet sich wieder, nicht abgeschafft, sondern
       fragmentiert, endgültig losgerissen von den einigenden Ambitionen der
       großen, fertigen Systeme.“
       
       Genauer als diese 2010 getroffene Diagnose lässt sich die Lage einer noch
       immer radikalen Linken im Zeitalter von Globalisierung, Neoliberalismus und
       Postdemokratie kaum beschreiben.
       
       16 Apr 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Micha Brumlik
       
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