# taz.de -- Kolumne Nullen und Einsen: Zukunft gestern, heute, morgen
       
       > Früher träumte man davon, mit Schießbaumwolle zum Mond fliegen, heute
       > entfernt Apple die Röhrenmikrofone aus seinen Handys. Und was ist 2063
       > los?
       
 (IMG) Bild: So sah die Zukunft vor 115 Jahren aus: Reklame-Sammelbilder der Schokoladen-Fabrik Gebr. Stollwerck, veröffentlicht 1897/98.
       
       „Wie sieht unsere Zukunft in 50 Jahren aus?“, fragt mich eine PR-Mail. Als
       wäre es nicht schon schwer genug, sich zu überlegen, wie die Welt in 50
       Jahren aussieht, nein, jetzt muss es schon die Zukunft der Zukunft sein.
       Die einfache reicht uns wohl nicht mehr.
       
       So blöd ist die Frage dann aber doch nicht, sah doch etwa die Zukunft vor
       50 oder 100 Jahren noch ganz anders aus als heute, selbst wenn es um
       Zeitpunkte geht, die immer noch in der Zukunft liegen, also etwa um 2081.
       Denn Zukunftsvorstellungen verlängern meist einfach nur die Gegenwart, was
       dazu führt, dass die Leute bei Jules Verne mit Hilfe einer 270 Meter langen
       Gusseisenkanone und Schießbaumwolle zum Mond fliegen.
       
       Mit dem Retrofuturismus beschäftigt sich inzwischen ein ganzes
       Science-Fiction-Subgenre damit, wie die Zukunft in der Vergangenheit
       aussah: Im Steampunk sind Computer und Luftschiffe dampfbetrieben und im
       Stile der viktorianischen Zeit gestaltet, im Dieselpunk sehen sie aus wie
       die Stahlungetüme in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Und wenn wir uns
       heute die Flugtaxis – warum eigentlich immer diese Flugtaxis? – im Jahr
       2100 vorstellen, haben sie selbstverständlich Touch-Displays und
       Sprachsteuerung.
       
       Auch bei der Implementierung der Zukunft im Jetzt wird gern auf
       Retroelemente zurückgegriffen. Der beliebteste Handyklingelton? Ein
       Rrrrrring wie von Opas Wählscheibenapparat. Das Geräusch beim
       Smartphonefoto? Ein sattes Schnappklack wie bei einer alten Nikon.
       Skeuomorphismus nennt sich dieses Designprinzip, das Wort gibt es seit über
       100 Jahren, schon die ersten elektrischen Wasserkocher sahen aus wie die
       Teekessel, die sie verdrängten.
       
       Skeuomorphismen sind gut, denn sie nehmen den Leuten die Angst vorm Neuen
       und sorgen für intuitive Usability. Skeuomorphismen sind zugleich schlecht,
       denn sie wählen nicht das effektivste Design und die beste Bedienmethode,
       sondern einfach nur Vorhandenes, was sich dann oft auch nie mehr ändert.
       
       Vor ein paar Wochen hat übrigens Apple die neue Version seines
       iPhone-Betriebssystems ausgeliefert, in der das Design grundlegend
       verändert wurde. Viele Grundfunktionen sehen jetzt nicht mehr aus wie aus
       Holz und Leder, die Notiz-App ist nicht mehr karteikartengelb, und bei der
       Aufnahme von Sprachmemos blickt man nicht mehr auf ein Röhrenmikrofon. Die
       Welt ist ein wenig unskeuomorpher geworden und so wird auch die Zukunft
       bald wieder eine andere sein.
       
       „Wie die Vergangenheit in 50 Jahren aussieht, darüber kann man schon jetzt
       recht verlässliche Aussagen treffen“, kommentierte jemand auf Facebook den
       PR-Mail-Satz. Na ja. So verlässlich dann auch wieder nicht, denn auch die
       Vergangenheit konstituiert sich ja andauernd neu, es ist kein Zufall, dass
       wir von „Geschichte“ sprechen, die in der Regel nicht „beschrieben“,
       sondern „geschrieben“ wird.
       
       Über das Bild der Menschen im Jahr 2063 von unserer Zeit können wir uns
       daher nur grobe Vorstellungen machen. Wird der NSA-Skandal als Beginn einer
       Zeitenwende gelten? Wird er nur eine Anekdote sein, so skurril wie Mata
       Hari? Oder wurde der gesamte Vorgang bis dahin schon komplett aus der
       Geschichte wegzensiert sein?
       
       11 Oct 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Michael Brake
       
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