# taz.de -- Linksradikale Gruppe K.O.M.I.T.E.E.: Einmal Terrorist, immer Terrorist?
       
       > Ein Abschiebeknast war 1995 Anschlagsziel Linskradikaler. Die
       > Verdächtigen tauchten in Venezuela ab. Ein Besuch.
       
 (IMG) Bild: Die Fahnungsfotos von Bernhard Heidbreder, Thomas Walter, Peter Kraut
       
       MÉRIDA/SINZHEIM/DANNENBERG/BERLIN taz | Der Mann, der seit mehr als zwei
       Jahrzehnten vor der deutschen Polizei flieht, steht in Venezuela auf einer
       Weide und hat gerade eine Kuh gemolken. In der Ferne ragen die Anden in den
       Himmel, manche Berge sind grün, manche ziemlich karg. 57 Jahre alt ist
       Peter Krauth, ein Mann mit schütteren grauen Haar und Schnauzer, so wie ihn
       hier viele tragen. Vor ihm weiden die Tiere, Peter Krauth ist heute Bauer.
       
       In einem anderen, früheren Leben arbeitete er als Tischler. Ende der 70er
       zog er aus der badischen Provinz nach Berlin, dort betrieb er mit seinen
       Freunden eine Holzwerkstatt, ging auf Antifa-Demos.
       
       Krauth sagt, er würde gerne die Sache zu Ende bringen, juristisch reinen
       Tisch machen. Die „Sache“, wie er es nennt, hat ihn nach Venezuela
       gebracht. Sie hat dafür gesorgt, dass er in Deutschland bis heute zur
       Fahndung ausgeschrieben ist. Auf der BKA-Webseite steht, Krauth spreche
       Italienisch, Französisch und Holländisch. Dass er inzwischen Spanisch am
       besten beherrscht, steht nicht in dem Fahndungsaufruf. Während hier in den
       Bergen Venezuelas sein Leben weiterging, ist es in Deutschland in den 90er
       Jahren stehen geblieben. Für die deutschen Behörden ist er immer noch ein
       Terrorist.
       
       Vor 22 Jahren, das jedenfalls werfen ihnen die Strafverfolger vor, sollen
       Peter Krauth und seine beiden Freunde Bernhard Heidbreder und Thomas Walter
       einen Anschlag auf ein Abschiebegefängnis in Berlin-Grünau vorbereitet
       haben. Ein halbes Jahr zuvor sollen sie einen Brandanschlag auf das
       Kreiswehrersatzamt in Bad Freienwalde verübt haben. Am Tatort wurde ein
       Schreiben gefunden: „Deutschland ist Kriegspartei im Völkermord in
       Kurdistan“, stand darin, in Großbuchstaben. Unterzeichnet: „DAS
       K.O.M.I.T.E.E.“. Es entstand ein Sachschaden von 200.000 D-Mark.
       
       Die Geschichte der drei Männer, die inzwischen Falten bekommen haben und
       graue Haare, klingt wie ein Relikt aus den 70ern, wie aus einem längst
       geschlossenem Kapitel aus dem Geschichtsbuch der alten Bundesrepublik.
       Eigentlich sollte der Staat im Jahr 2017 andere Feinde haben als drei übrig
       gebliebene Linksradikale.
       
       Doch die Geschichte von Peter Krauth und seinen Freunden, die auch nach
       Venezuela geflohen sind, ist noch nicht vorbei. Bis heute hält der deutsche
       Staat an ihrer Verfolgung fest. Dabei waren die Anschläge des
       „K.O.M.I.T.E.E.“ nicht gegen Menschen gerichtet, nie kam jemand zu Schaden.
       Krauth und seine Freunde waren nicht die RAF. Und eigentlich sollten ihre
       Taten auch längst verjährt sein. Krauth fühlt sich zu Unrecht verfolgt.
       
       Mehr als 13 Flugstunden von Venezuela entfernt spaziert Birgit Roth um
       einen See. Ihr Name wurde in diesem Text geändert, um ihre Privatsphäre zu
       schützen. Ihren Bruder Peter hat sie vor über zwei Jahrzehnten das letzte
       Mal gesehen. Der Weg ist matschig, sie zieht die Kapuze ihrer Regenjacke
       über ihre kurzen Haare. Birgit Roth ist 60 Jahre alt und wohnt in einem
       120-Einwohner-Dorf im Wendland. Sie arbeitet in einem Beratungszentrum, hat
       eine Ausbildung zur Traumatherapeutin gemacht.
       
       Ob sie ein Foto ihres Bruders anschauen wolle? Birgit Roth beugt sich in
       ihrem Büro über den Laptop. Seit 22 Jahren hat sie ihn nur auf
       Phantombildern und verwackelten Fahndungsfotos gesehen. Sie erschrickt. Die
       Jahre im Exil haben ihren Bruder gezeichnet, er ist alt geworden.
       
       Auch Birgit Roths Leben wurde damals auf den Kopf gestellt. Dank ihres
       Bruders saß sie wochenlang in Untersuchungshaft. Zwei Jahrzehnte lang galt
       sie als Terrorverdächtige, ihr Telefon wurde abgehört. „Das hing all die
       Jahre wie ein Damoklesschwert über mir“, sagt sie. Dass sie von ihrem
       Bruder enttäuscht ist, versteckt sie nicht. Und trotzdem versteht sie
       nicht, warum immer noch nach ihm gefahndet wird.
       
       Der Tag, der die beiden Geschwister und zwei weitere Familien
       auseinanderreißt, ist der 11. April 1995. Was damals passiert, ist in den
       Akten der Ermittlungsbehörden detailliert festgehalten: In der Nacht
       entdecken Streifenpolizisten auf dem abgelegenen Waldparkplatz „Hanff’s
       Ruh“ außerhalb des Berliner Stadtteils Köpenick zwei Autos. Beide Fahrzeuge
       sind gerade verlassen worden, die Tür des roten Ford Transit steht offen,
       die Motorblöcke sind noch warm.
       
       In dem Kleintransporter finden die Beamten vier Propangasflaschen, die mit
       rund 120 Kilogramm eines explosiven Gemischs gefüllt sind. Je zwei Flaschen
       sind mit Drähten und einer Zeitschaltuhr verbunden. Auf dem Beifahrersitz
       liegen zwei mit Benzin gefüllte Flaschen und neun Flugblätter, auf denen
       geschrieben steht: „Achtung Lebensgefahr, Sprengung des Knastgebäudes, Das
       K.O.M.I.T.E.E.“ Dreieinhalb Kilometer entfernt liegt die Haftanstalt
       Grünau, die gerade zu einem Abschiebegefängnis mit 400 Plätzen umgebaut
       wird.
       
       Auch in dem blauen VW Passat, der neben dem Kastenwagen geparkt ist, werden
       die Beamten fündig. Im Handschuhfach liegen Personalausweise, Führerscheine
       und andere Dokumente, die auf vier Personen verweisen: Thomas Walter,
       Bernhard Heidbreder, Peter Krauth sowie dessen Schwester, die Halterin des
       Wagens. Der Bundesgerichtshof erlässt Haftbefehl gegen die vier.
       
       Der Vorwurf: Als terroristische Vereinigung sollen sie geplant haben, das
       unbelegte Gefängnis in die Luft zu sprengen. Sie hätten das Ziel verfolgt,
       die gesellschaftlichen Verhältnisse umzuwälzen, schreiben die
       Strafverfolger später. Die Gruppe wollte gewaltsam verhindern, dass aus der
       Haftanstalt Flüchtlinge abgeschoben werden, unter anderem in die Türkei.
       
       Am Tag nach dem gescheiterten Anschlag sieht Birgit Roth ihr Foto in der
       Berliner Morgenpost. Auch 22 Jahre später wühlt es sie auf, wenn sie sich
       daran erinnert. „Bomben-Birgit“ nennt sie ein anderes Blatt. Sie geht zur
       Polizei und sagt aus, dass sie mit dem Anschlag nichts zu tun habe. Ein
       paar Tage später wird sie in Untersuchungshaft genommen. Sie ist schwanger,
       ihre Haftbedingungen sind hart: 24 Stunden Einschluss und Einzelhofgang.
       Bei der Polizei hatte sie noch von ihrem Recht Gebrauch gemacht, Angehörige
       und sich selber nicht belasten zu müssen.
       
       In der Haft sagt sie aus, dass sie das Auto ihrem Bruder geliehen hat.
       „Wenn ich gewusst hätte, wofür er es tatsächlich benutzen wollte, hätte ich
       es ihm nie zur Verfügung gestellt“, sagte sie laut Vernehmungsprotokoll.
       
       Nach drei Wochen darf Birgit Roth nach Hause, ihr kann keine Beteiligung an
       der Tat nachgewiesen werden. Ihr Sohn kommt viel zu früh auf die Welt, nach
       26 Wochen, monatelang liegt er im Krankenhaus. Auch dort wird sie
       observiert, so steht es in den Akten. Sie wird noch fast zwei Jahrzehnte
       als Beschuldigte geführt werden, erst Ende 2012 wird das Verfahren gegen
       sie eingestellt. Wie sie reagieren würde, wenn sich ihr Bruder plötzlich
       bei ihr meldet? „Das weiß ich nicht.“
       
       Nach dem gescheiterten Anschlag 1995 sind Peter Krauth und die anderen
       beiden Männer abgetaucht. Ihr Leben gleicht plötzlich dem aus einem Krimi
       mit einer Verfolgungsjagd weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Die
       Sonderkommission „Osterei“ fahndet nach ihnen, überwacht ihren
       Freundeskreis, lässt die Eltern observieren und immer wieder Wohnungen
       durchsuchen. Vergeblich. Bis Zielfahnder des Bundeskriminalamtes 2014 einen
       der drei, Bernhard Heidbreder, in der Stadt Mérida im Südosten Venezuelas
       aufspüren.
       
       Weil er per internationalem Haftbefehl gesucht wird, nehmen venezolanische
       Polizisten den damals 53-Jährigen in dem Hotel fest, in dem er arbeitet. 19
       Jahre nach seinem Untertauchen. Er war unter dem Namen John Jairo Londoño
       Smith nach Venezuela eingewandert, von Kolumbien aus. Dort, in Medellín,
       hat er das Drucken gelernt, das Abitur gemacht und Kafkas „Prozess“ ins
       Spanische übersetzt.
       
       Die nächsten zwei Jahre verbringt Bernhard Heidbreder insgesamt im
       Gefängnis. Zunächst sitzt er in Mérida in Polizeigewahrsam. Zwei
       Quadratmeter pro Gefangenem, keine Fenster, kein Hofgang, Pinkeln in die
       Flasche, so erzählt er es rückblickend. Es folgen Wochen des Wartens,
       angekettet im Flur einer Polizeistation in Caracas. Später landet er in
       „Helicoide“, dem berüchtigten Gefängnis des Geheimdienstes, das sich wie
       ein unförmiges Gewinde auf einem Hügel der Hauptstadt erhebt.
       
       Er sieht selten das Tageslicht. 16 Monate nach seiner Verhaftung lehnt das
       Oberste Gericht ab, ihn nach Deutschland auszuliefern, weil die Vorwürfe
       nach venezolanischem Recht verjährt sind. Dennoch sitzt er weitere acht
       Monate hinter Gittern, verfangen in den Wirren der Bürokratie. Als er
       freikommt, beantragt er, als Flüchtling anerkannt zu werden.
       
       Im Frühjahr 2017 beantragen auch die anderen beiden Männer in Venezuela den
       Flüchtlingsstatus, nach einem halben Leben mit falschen Pässen und
       erfundenen Biografien. Die drei haben das erste Mal seit langer Zeit einen
       legalen Status als Flüchtling. Sie leben nicht in ihrer alten Heimat, aber
       sie können ihren echten Namen benutzen, mit Freunden telefonieren, Besuch
       bekommen. Zum ersten Mal haben sie nun einen Journalisten empfangen, einen
       Reporter der taz. Sie erhoffen sich Aufmerksamkeit für ihren Fall. Sie
       sehen sich als Opfer, als Verfolgte einer hysterischen deutschen Justiz.
       Und: Sie möchten endlich nach Hause kommen können. Aber in Deutschland
       droht ihnen bis heute Gefängnis.
       
       ## Venezuela wurde seine Heimat
       
       In Deutschland könnte Thomas Walter dann nicht nur seine Mutter
       wiedersehen, sondern auch seinen schwerkranken Vater, der 85 Jahre alt ist
       und nicht mehr reisen kann. Bernhard Heidbreder könnte seine Mutter und
       Peter Krauth seine Schwester treffen. „Das mit Birgit ist etwas, was nie
       verschwindet“, sagt er. Ihn beschäftigt, dass sie unschuldig wochenlang im
       Gefängnis gesessen hat.
       
       Wer Peter Krauth in Venezuela besucht, merkt schnell, dass es ihm auch
       schwerfallen würde, seinen Hof in der Nähe von Mérida zu verlassen. Auch
       Venezuela ist seine Heimat geworden. Das Gewächshaus, der Gemüsegarten, die
       Werkstatt, die Kuh, die Schafe und die beiden Hunde.
       
       Heute bekommt er Besuch, seine beiden Weggefährten haben sich angekündigt.
       Die Sonne verschwindet gerade hinter den Bergen. Zusammen stapfen Thomas
       Walter und Bernhard Heidbreder den Waldweg hinauf zum Hof, wo ihr alter
       Freund sie schon am Tor erwartet. Sie umarmen sich. Obwohl alle drei nicht
       weit voneinander entfernt leben, treffen sie sich nicht so häufig. Sie sind
       nicht mehr die engsten Freunde, aber ihre gemeinsame Geschichte hält sie
       zusammen – vielleicht für den Rest ihres Lebens.
       
       Es gibt Abendessen, Rühreier mit Speck und Salat, selbst angebaut. Am Tisch
       erinnern an die alte Heimat nur die T-Shirts, die ihnen eine Freundin aus
       Berlin mitgebracht hat. „Allez“ ist darauf in roten Buchstaben auf
       schwarzem Grund zu lesen, Merchandise der deutsch-französischen Band Irie
       Révoltés. Auch das T-Shirt, das Bernhard Heidbreder trägt, erinnert an
       Deutschland. „Refugees welcome“ steht drauf. Es erinnert auch daran, dass
       sie seit dem versuchten Anschlag auf das Abschiebegefängnis selbst auf der
       Flucht sind.
       
       Was würde passieren, wenn sich die drei Männer den Behörden stellen?
       Zweimal haben ihre Anwältinnen und Anwälte darüber ernsthaft mit der
       Bundesanwaltschaft verhandelt, 2001 und 2010. In ähnlichen Fällen hatte das
       bereits geklappt. Der Deal: Gegen ein Geständnis vor Gericht gibt es eine
       milde Strafe. Ein Mitglied einer anderen linken Gruppe, der „Roten Zora“,
       erhielt für zwei gescheiterte Anschläge eine Bewährungsstrafe, nach 19
       Jahren im Untergrund.
       
       Das Angebot an das K.O.M.I.T.E.E. war nicht ganz so großzügig: Im Raum
       standen zunächst Haftstrafen von viereinhalb bis sechs Jahren möglichst im
       offenen Vollzug. „Viel zu viel, da hätte schon etwas mehr kommen müssen“,
       sagt Thomas Walter heute. Zudem hatten sie lange geglaubt, dass die ihnen
       vorgeworfenen Straftaten nach 20 Jahren verjähren. 2015 also.
       
       Doch die Bundesanwaltschaft zerstört diese Hoffnung. Im Jahr 2010 wird
       Volker Homann, der Bundesanwalt, der den Fall betreut, pensioniert. Seitdem
       hat die Bundesanwaltschaft kein Interesse mehr an Verhandlungen und hält an
       den Ermittlungen fest.
       
       Dafür benutzt sie eine Besonderheit des Strafrechts. Sie wirft den Männern
       nicht mehr die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder den
       geplanten Anschlag in Grünau vor, sondern allein die Verabredung zur Tat
       nach Paragraf 30 StGB. Diese verjährt im Extremfall nicht nach 20, sondern
       nach Interpretation der Bundesanwaltschaft erst nach 40 Jahren. Fragen der
       taz zu dem Fall will die Behörde nicht beantworten.
       
       „Es kann nicht sein, dass die Verabredung zu einer Straftat länger verfolgt
       wird als die zeitlich spätere Vorbereitung der Tat“, kritisiert Peter
       Krauths Verteidigerin Undine Weyers. Das sei unverhältnismäßig. Deshalb
       haben die Anwälte der drei zunächst beim Bundesgerichtshof Beschwerde
       eingelegt – erfolglos – und sind dann vor das Bundesverfassungsgericht
       gezogen, das die Verfassungsbeschwerde nicht annahm.
       
       Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg erklärte eine
       Beschwerde von Thomas Walter gegen diese Entscheidung für unzulässig: Er
       sei nicht von einer Auslieferung nach Deutschland bedroht, also seien seine
       Rechte nicht verletzt. Die drei könnten sich also nur beschweren, wenn
       konkret die Gefahr bestünde, dass sie in Deutschland ins Gefängnis kommen.
       
       Wie weit die Ermittlungsbehörden bei der Fahndung auch in der Vergangenheit
       gingen, zeigt auch das Vorgehen gegen die taz. Einige Monate nach dem
       Untertauchen der drei Männer 1995 wird im Berlin-Teil der Zeitung in
       Auszügen ein Bekennerschreiben abgedruckt. Überschrieben ist es mit „Knapp
       daneben ist auch vorbei“. Darin äußern sich die Verfasser für militante
       Linke ungewohnt selbstkritisch über ihren missglückten Anschlag. Sie
       sezieren die eigenen Fehler und bedauern, „relativ kopflos“ Unbeteiligte
       hineingezogen zu haben. Das K.O.M.I.T.E.E. löst sich mit dem Schreiben auf.
       
       ## Auch die taz im Visier
       
       Am Tag nach der Veröffentlichung gibt es in der Redaktion der Zeitung eine
       Hausdurchsuchung, laut Ermittlungsakten ringen ein Polizist und der
       taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch um eine Kamera, mit der Letzterer die
       Durchsuchung dokumentieren will. Auch die taz-Redakteurin Barbara Bollwahn,
       die über den Fall berichtet hatte, wurde noch Jahre später von der Polizei
       überwacht und vor der taz bei einem Treffen mit einem Kollegen
       fotografiert.
       
       Die Polizei versuchte in diesen Jahren einiges, um den Dreien auf die Spur
       zu kommen: 2005 überwachte das Bundeskriminalamt eine Reise von Berliner
       Linksradikalen nach Kolumbien und schickte zwei BKA-Beamte nach Ägypten, um
       einen äußerst vagen Hinweis zu verfolgen. 2006 observierten die Ermittler
       einen Computer in einem Berliner Museum per Videokamera, weil von dort aus
       auffallend häufig die Seite der Öffentlichkeitsfahndung nach den dreien
       abgerufen wurde. Auch wurden rechtswidrig Telefongespräche mit Anwälten
       aufgezeichnet. Alles vergebens. Wie die Ermittler am Ende Bernhard
       Heidbreder fanden, ist unklar.
       
       Wo sie sich in all den Jahren aufgehalten haben, wollen die drei nicht
       verraten, um ihre Helfer nicht zu gefährden. Die Fahnder vermuteten sie
       zwischenzeitlich in Frankreich, Argentinien oder Uruguay. Beim Abendessen
       erzählen sie von den Jahren auf der Flucht.
       
       Immer wieder treffen sie sich, manchmal verbringen sie lange Zeit zusammen,
       dann trennen sich die Wege wieder. Sei es wegen der Freundin oder weil das
       illegale Leben sie dazu zwingt. Einmal geraten Thomas Walter und Peter
       Krauth in eine Polizeikontrolle. Von einem Moment auf den anderen scheint
       alles aus zu sein. Die Beamten stehen mit vorgehaltener Maschinenpistole
       vor ihnen, durchsuchen sie nach Waffen, wollen die Papiere sehen.
       
       Nun haben sie uns, denken die beiden. Erst mit der Zeit wird ihnen klar,
       dass die Polizisten einen anderen Europäer suchen, der sich ebenfalls in
       dem Land aufhalten soll. Die Furcht, doch noch von den Fahndern
       aufgegriffen zu werden, ist mit den Jahren immer mehr in den Hintergrund
       getreten. „Mit der Angst ist es wie mit der Einsamkeit, man gewöhnt sich
       daran“, sagt Thomas Walter. Irgendwann ist das Leben als Untergetauchter
       Normalität, Alltag. „Wir lebten oft nicht anders, als wenn wir eine legale
       Identität gehabt hätten.“
       
       ## Wenig geblieben vom sozialistischen Traum
       
       Und trotzdem: „Natürlich waren da diese furchtbar einsamen Abende, etwa an
       Weihnachten oder Neujahr, an denen man alleine in einer Wohnung saß,
       während andere feiern.“ Doch es gibt immer Menschen, bei denen sie
       vorübergehend wohnen können, die ihnen Arbeit verschaffen, mit Geld
       aushelfen oder ein Bankkonto für sie eröffnen.
       
       Die Zeiten, in denen sie von einem Land zum nächsten zogen, sind heute
       vorbei. Hugo Chávez und die Hoffnung auf einen Sozialismus des 21.
       Jahrhunderts haben alle drei vor rund zehn Jahren nach Venezuela gelockt.
       Bis vor Kurzem arbeitete Bernhard Heidbreder hier in einer Druckerei und
       Thomas Walter in einem Kollektiv, das ein Internetcafé betreibt.
       
       Doch vom sozialistischen Traum ist wenig geblieben. Mehr als 130 Menschen
       sind bei Protesten gegen die Regierung allein in diesem Jahr gestorben.
       Thomas Walter erzählt, wie er vor ein paar Tagen in einem Reisebus
       überfallen wurde. Ihm und den anderen Fahrgästen blieb nichts als ihre
       Kleidung und ein paar Bolívares, das Geld, das nichts mehr wert ist. All
       das ist längst Alltag in Venezuela, einem Staat, der mehr und mehr
       zerfällt, in dem nicht mehr sehr viel sicher ist.
       
       Genauso Alltag wie der Mangel an Reis, Bohnen, Zucker und vielen anderen
       Grundnahrungsmitteln. Und das, was es gibt, wird immer teurer. Thomas
       Walter nimmt sich noch ein Bier. Für den Preis einer Flasche bekam man vor
       einem Jahr noch drei. Aber damit müssen sie leben. Es ist die Ironie ihrer
       Geschichte, dass sie sich dem deutschen Staat nicht stellen wollen, aber
       jetzt von einem anderen Staat abhängig sind. Einem Staat, der jederzeit
       zusammenbrechen kann.
       
       Doch mit der Legalität gewannen sie auch eine neue Freiheit. Sie dürfen
       endlich Besuch von ihren Familien bekommen. Während Peter Krauth noch damit
       ringt, wie er sich zu seiner Schwester verhalten soll, bekommt Thomas
       Walter Besuch von seiner Mutter. Er sieht sie zum ersten Mal seit 22 Jahren
       wieder.
       
       Seine Verbindung zur Heimat war bei Thomas Walter immer sehr stark. In
       seiner Küche hängt neben dem Fenster ein Foto der Yburg, die vor 800 Jahren
       Teil eines Verteidigungssystems der Markgrafschaft Baden war und heute von
       Weinbergen umringt ist. Es ist das Panorama, das er als Jugendlicher sah,
       wenn er zu Hause in Sinzheim durchs Fenster blickte. Die Hoffnung, dahin
       zurückkehren zu können, hat er mit seinen 55 Jahren nicht aufgegeben.
       
       ## „Hey, ich bin wieder da“
       
       Vor ein paar Monaten hat Thomas Walters Mutter einen Anruf per Skype
       bekommen, völlig unerwartet. „Hey, ich bin wieder da“, sagt er. Vorher war
       sein Grundsatz: Keine Kommunikation, viel zu gefährlich.
       
       Es war vor allem die Sehnsucht nach seiner Mutter, dem Vater und den
       Geschwistern, die ihn bewogen haben, in Venezuela den Flüchtlingsstatus zu
       beantragen. „Ich wusste ja, dass die Eltern darunter leiden, wenn ein Kind
       plötzlich einfach weg ist.“ Er hatte ein schlechtes Gewissen, immer.
       
       Als sie sich dann treffen, auf dem Flughafen von Caracas, im Wartebereich
       des internationalen Terminals, fließen keine Tränen. Vor lauter Freude muss
       Jacqueline Walter einfach nur lachen.
       
       Sie erkennen sich sofort. Einen Moment lang bleiben beide stehen und
       schauen sich aus der Distanz an. Sie in blauer Bluse, blauem Schal und
       roter Handtasche. 84 Jahre ist sie alt und noch ziemlich agil. Er locker
       und einfach gekleidet. Wie früher. Dann geht sie, gestützt auf ihren Stock,
       langsam auf ihn zu. Sie fallen sich in die Arme. An diesem Abend reicht es
       gerade noch für die Fahrt ins nahe gelegene Hotel, eine Paella und eine
       Flasche Wein. Dann fällt sie ins Bett und schläft sofort ein. So
       beschreiben beide das Treffen im Nachhinein.
       
       Mehr als eine Woche Besuch ist nicht drin. Vater Heribert ist dement und
       pflegebedürftig, Jacqueline Walter kann ihn nicht lange allein lassen.
       „Viel zu kurz“, meint der Sohn. „Aber genug Zeit“, widerspricht seine
       Mutter, „um über grundsätzliche Dinge zu reden, über die man sonst nie
       spricht: über das Leben, den Tod und schiefe Gedanken.“
       
       Ein paar Wochen nach der Reise sitzt Jacqueline Walter in ihrem Wohnzimmer
       in Sinzheim bei Baden-Baden. Sie erzählt davon, wie sie und ihre Familie
       unter den Fahndungsmaßnahmen gelitten haben. Gleich nach dem misslungenen
       Anschlag stellt die Polizei das Haus auf den Kopf. „Wir wussten erst gar
       nicht, warum“, erinnert sich Jacqueline Walter. „Erst am Abend hat
       Heriberts Bruder angerufen, er hatte im Fernsehen von der Sache erfahren.“
       
       Über acht Jahre hinweg wird das Telefon immer wieder überwacht, auch
       E-Mails lesen die Ermittler mit, so steht es in den Akten. „Wenn wir über
       das Thema geredet haben, sind wir in den Garten oder zu den Schafen
       gegangen“, sagt sie. Aus Angst vor Abhörwanzen.
       
       ## Keiner gibt die Taten zu
       
       Zu den Vorwürfen gegen ihren Sohn hat Jacqueline Walter eine eindeutige
       Meinung. „Die Mittel können wir nicht befürworten.“ Dann aber verweist sie
       auf die Abschiebungen – ein Thema, das heute wieder aktuell sei. „Es ist
       normal, dass man dagegen etwas unternimmt.“ Und schließlich habe der
       Europäische Menschenrechtsgerichtshof inzwischen geurteilt, dass das
       Einsperren von Asylsuchenden in Gefängnissen illegal sei.
       
       Das sehen die drei Männer selbst ähnlich. Zwar gibt bis heute keiner von
       ihnen die Taten zu, die ihnen vorgeworfen werden. Sie lassen aber keinen
       Zweifel daran, dass sie den vereitelten Anschlag auch mehr als 22 Jahre
       später gutheißen. Damals seien in Deutschland militante Aktionen eben
       notwendig gewesen.
       
       „Man könnte mit Blick auf die Flüchtlinge von einer Notwehrsituation
       sprechen“, sagt Thomas Walter. Ihm will auch heute kein Grund einfallen,
       was schlecht gewesen sein sollte an dem Versuch, das Abschiebegefängnis in
       die Luft zu sprengen.
       
       Aber ob es die richtige Entscheidung gewesen sei, damals das Weite zu
       suchen? Eine schwierige Frage, findet Peter Krauth. „Wer weiß schon, was
       sonst in diesen 22 Jahren passiert wäre.“ Sein Leben sei spannend
       verlaufen, reich an Erfahrungen. Nicht nur von Angst dominiert. „Man bleibt
       nicht so lange weg, wenn es einem dabei schlecht geht.“
       
       Mit der Festnahme Heidbreders und ihrem Antrag auf den Flüchtlingsstatus
       hat sich einiges geändert. „Plötzlich mussten wir uns wieder die gleichen
       Fragen stellen wie damals: Wieder abtauchen, wieder flüchten, wieder bei
       null anfangen?“, sagt Thomas Walter. Sind sie nun, mit Mitte, Anfang 50,
       nicht zu alt dafür? Und wäre es nicht an der Zeit, die Sache zu Ende zu
       bringen?
       
       Selbst wenn sie nun mit der Bundesanwaltschaft einen Deal aushandeln
       sollten, bleibt ein Problem. Bernhard Heidbreder hat keinen gültigen Pass,
       mit dem er reisen kann, er hat nicht einmal mehr eine Staatsbürgerschaft.
       Venezuela entzog ihm die venezolanische, weil er sie sich mit falscher
       Identität erschlichen habe. Die Bundesrepublik sagt, er sei kein Deutscher
       mehr, weil er die Staatsbürgerschaft bei Annahme der venezolanischen
       freiwillig abgegeben habe. Und die drei sind sich einig: Wenn sie sich
       stellen, dann gemeinsam.
       
       Im Jahr 2035 tritt für Peter Krauth und Thomas Walter die absolute
       Verjährung ein, für Bernhard Heidbreder sogar erst 2036. Sie könnten dann
       nach Deutschland fliegen, ohne ins Gefängnis zu müssen. Sie wären dann alle
       über 70.
       
       3 Dec 2017
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Kersten Augustin
 (DIR) Sebastian Erb
 (DIR) Wolf-Dieter Vogel
       
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