# taz.de -- Lukas Bärfuss' Roman über einen Stalker: Misstraue deinen Sinnen
       
       > „Hagard“ heißt im Französischen so viel wie „verstört um sich blicken“.
       > So heißt auch das neue Werk von Lukas Bärfuss über einen Stalker.
       
 (IMG) Bild: Lukas Bärfuss auf der Leipziger Buchmesse, 2014
       
       „Ich mache mir beim Schreiben keine Gedanken über die Wirkungen, ich folge
       einem Impuls. Alles andere wäre lebensverhindernd“, hat Lukas Bärfuss 2015
       [1][im Interview mit der taz erklärt]. Beim Verfassen seines neuen, für den
       Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Romans „Hagard“ dürfte ein Impuls
       gewesen sein zu schildern, was Zufälle in einem Menschen anrichten können
       und wie sie mit den Zeitläuften in Verbindung stehen.
       
       Eine unerwartete Zugbremsung führt dazu, dass Philip, dem Protagonisten von
       „Hagard“, ein Schuh abhandenkommt. Ein Mann in einem öffentlichen
       Verkehrsmittel unterwegs mit nur einem Schuh wirkt lächerlich. Er wird
       automatisch zum Outcast. Bärfuss schildert diesen Umstand mit pietätloser
       Präzision. Philip habe „keine Zeit für Legenden, er hat nicht einmal Zeit
       für Erlösung“.
       
       Zeit ist in der durchgetakteten Gegenwart des Romans eine kostbare
       Ressource. Auf knapp 180 Seiten entwickelt Bärfuss eine Geschichte, die
       sich an wenigen Märztagen in einer Stadt zugetragen hat, „in der
       Gleichgültigkeit die vorherrschende Haltung ist“. Arbeit, Verkehr,
       Alltagsleben, alles an diesem Ort ist der Produktivität unterworfen. Und
       doch schleichen sich in „Hagard“ Zweifel ein, ob der unendliche Wohlstand
       und die gesellschaftliche Unbeschwertheit nicht bald Geschichte sind.
       
       Die Stadt, obgleich sie ungenannt bleibt, macht der Leser unschwer als
       Zürich aus. Bärfuss erwähnt auch einen Malaysia-Air-Unglücksflug und den
       Konflikt zwischen der Ukraine und Russland um die Krim, datiert seinen
       Roman also in der jüngeren Vergangenheit. Ansonsten gibt der Schweizer
       Autor seinen Lesern kaum Gegenwartssplitter und Gewissheiten an die Hand.
       Sein Erzähler ist nicht gerade verlässlich, er berichtet retrospektiv und
       steht doch vor einem Rätsel: „Ich weiß alles und begreife nichts“, heißt es
       gleich zum Auftakt, dann zählt er Personen und Situationen auf, die im
       Verlauf der Geschichte eine Rolle spielen werden.
       
       ## Die Frau
       
       Seinem Roman hat Bärfuss ein Fragment aus einem Lehrgedicht von Parmenides
       vorangestellt, einem Denker, der zu den Pythagoreern gezählt wurde. Denken
       und Sprache stellte er über das Sein. „Es ist für mich das Gleiche, von wo
       ich anfange; denn dahin kehre ich wieder.“ Bärfuss’ Ich-Erzähler führt die
       moralische Instanz dieses Philosophen in die Gegenwart und offenbart
       Verzweiflung: „Ich bin ein Spieler knapp vor dem Bankrott.“ Doch bei allem
       Selbstzweifel ist dieser Erzähler manchmal einen Tick zu kokett gezeichnet.
       Der Sog von „Hagard“ entwickelt sich gerade dann, wenn der namenlose
       Ich-Erzähler aus der Handlung ausgeblendet wird und das Geschehen
       stattdessen aus der Perspektive des Protagonisten geschildert wird.
       
       Der handysüchtige Philip arbeitet als „Immobilienentwickler“: Eigentlich
       soll er in einem Café einen Kunden zum Verhandlungsgespräch treffen. Da
       sich jener verspätet, nimmt das Unheil seinen Lauf. Des Wartens
       überdrüssig, verlässt Philip das Café, sieht eine junge Frau und beginnt
       sie zu verfolgen. Über Rolltreppen, durch Bahnhöfe, vorbei an gesichtslosen
       Bauten aus Waschbeton, hinaus in die Vorstadt. Vielleicht folgt er auch nur
       den „pflaumenblauen Ballerinas“ an den Füßen der Frau. Solche und andere
       Konsumartikel, ihre Darstellung auf Bildschirmen und Werbeplakaten muten in
       „Hagard“ stets unheimlich an. Im Französischen bedeutet „hagard“ „verstört
       um sich blicken“.
       
       Die Frau bemerkt ihren Verfolger bald. Und entkommt ihm ein ums andere Mal.
       Der Verfolger dagegen wird selbst zum Verfolgten. Kein Geld, keine
       Kommunikation, kein Plan; alles, was ihn zuvor privilegiert hat, belastet
       ihn plötzlich. Wenn Philip der Frau nicht hinterherstalkt, blickt er auf
       die Batterieanzeige seines Handys. Allmählich schwindet dessen Leistung,
       und Philips Verbindung zur Welt wird schwächer, bis sie vollständig
       erlischt.
       
       „Mit der Nichtigkeit der Details“ will sich der Ich-Erzähler nicht
       abfinden. Sie sind ihm peinlich, beschäftigen ihn aber mehr als die
       „abseitigen, schmutzigen und kranken Momente“ der Geschichte. An einer
       Stelle rätselt Philip, warum die junge Frau in ein Pelzgeschäft geht und
       was sie dort macht. Der Leser denkt an Leopold von Sacher-Masochs „Venus im
       Pelz“ und dessen krankhaften Realismus. Bärfuss’ Ich-Erzähler denkt an
       Tierschutzorganisationen, aber auch an Internetpornografie mit
       akrobatischen russischen Frauen. Sigmund Freud würde sich seinen Teil dazu
       denken.
       
       Lukas Bärfuss lehrt mit „Hagard“, den eigenen Sinneswahrnehmungen zu
       misstrauen. Die Lektüre seines neuen Romans löst viele, auch ungute
       Gedanken aus, und das ist gut so.
       
       15 Mar 2017
       
       ## LINKS
       
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