# taz.de -- Machtwechsel in der Ukraine 1944: Wo Geschichte zur Waffe wird
       
       > Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee Lwiw von der Wehrmacht. Nicht alle
       > empfanden das als Befreiung. Ein Diskussionsabend in Berlin.
       
 (IMG) Bild: Gefallen im aktuellen Krieg: Zwei Unteroffizieren der ukrainischen Armee in Lviv werden im April 2024 beerdigt
       
       Im ukrainischen Lwiw gibt es in diesem Jahr trotz eines runden Jahrestags
       wenig zu feiern. Vor 80 Jahren eroberte die Rote Armee das frühere Lemberg
       von der Wehrmacht zurück. Doch als Befreiung empfanden viele Menschen
       diesen Machtwechsel nicht, der mit neuen Kämpfen und neuem Terror daherkam.
       
       Eben jener Herrschaftswechsel stand am Dienstagabend im Berliner Museum
       Karlshorst [1][(ehemals Deutsch-Russisches Museum)] im Mittelpunkt einer
       Veranstaltung, die einigen Widerspruch im Publikum auslöste. Es ging um
       ukrainische Nationalisten, sowjetische Machtpolitik, zerstörte polnische
       Hoffnungen – und um den Krieg Putins gegen die Ukraine. Aber wurde dabei
       der „Faschismus wieder salonfähig gemacht“, wie ein Besucher mit bebender
       Stimme anmerkte?
       
       Dabei hatten sich die Vortragenden um einen betont sachlichen Vortrag
       bemüht. Der Historiker Kai Struve benannte die Eckpunkte der Entwicklung
       vor 80 Jahren, Liana Blikharska vom Museum „Territorium des Terrors“ in
       Lwiw steuerte die aktuelle ukrainische Debatte bei.
       
       Die Nazis hatten bis 1943 fast alle Juden im multikulturellen Lemberg
       ermordet. Das Ende ihres Terrorregimes 1944 weckte Hoffnungen: Die
       polnischen Bewohner setzten auf eine Wiederangliederung an Polen, so wie
       vor dem sowjetischen Überfall 1939. Viele Ukrainer bevorzugten einen
       eigenen Nationalstaat. Stalin schließlich ging es um eine
       Wiedereingliederung des Gebiets in die Ukrainische Sowjetrepublik.
       
       Wer ist Täter, wer Opfer? 
       
       Die Kurzfassung der Geschichte lautet, dass Moskau diese
       Wiedereingliederung gelang. Verbunden war dies freilich mit
       hunderttausenden Toten und Vertriebenen. Alle Polen hatten auf Geheiß
       Moskaus Lemberg zu verlassen. Aber wer hier die Täter, wer die Opfer waren,
       das rührt an eine Erzählung, die über Jahrzehnte hinweg in der UdSSR und
       ihren Satelliten tradiert worden ist.
       
       Diese Erzählung trägt einen Namen: [2][Stepan Bandera.] Der ukrainische
       Nationalist hatte 1941 den Einmarsch der Wehrmacht unterstützt und mit den
       Deutschen kollaboriert. Seine Ukrainische Aufständische Armee OUN wechselte
       erst 1943 die Seiten. Danach bekämpfte deren militärischer Arm UPA
       sowjetische Truppen und ermordete polnische Zivilisten.
       
       Das Ziel: ein ethnisch reiner ukrainischer Staat. Mehr als 150.000 Menschen
       starben, 200.000 Ukrainer ließ Stalin deportieren. Der Konflikt endete erst
       Anfang der 1950er Jahre.
       
       War dies also eine Art Befreiungsbewegung? Nein, sagte Struve mit
       dankenswerter Klarheit, es handelte sich um eine „verbrecherische
       Organisation“. Tatsächlich kämpften in der UPA desertierte Polizisten, die
       den Nazis beim Judenmord geholfen hatten. Blikharska berichtete über die
       jüngste polnisch-ukrainische Aussöhnung. Sie machte klar, dass Bandera in
       der heutigen Ukraine durchaus unterschiedlich betrachtet werde.
       
       Mitten im aktuellen Krieg 
       
       Deshalb war der Abend in Berlin-Karlshorst so strittig. Es ging hier nicht
       um das Unterkapitel einer vernachlässigenswerten Geschichte; vielmehr
       befanden wir uns mitten im aktuellen Krieg zwischen Russland und der
       Ukraine, insbesondere aber bei Putins Begründung, man müsse den Nachbarn
       „denazifizieren“. Ukrainischer Nationalstaat und Faschismus, das geht bei
       Putin Hand in Hand.
       
       In Lemberg findet eine lebendige Debatte um Geschichte statt, betonte
       Blikharska. Das selektive historische Gedenken aus Sowjetzeiten gehöre der
       Vergangenheit an. Es gehe ihr darum, die damaligen Vorstellungen aller
       Bewohner Lembergs zu erforschen, der Ukrainer, Polen und Juden.
       
       Von einer solchen Diskussion über den Stalinismus und seine Verbrechen sei
       Moskau dagegen weit entfernt, sagte Historiker Struve. Deshalb kommt Putin
       mit seiner Legende von den Faschisten in Lemberg bei den Russen durch. So
       macht er Geschichte zur Waffe.
       
       24 Apr 2024
       
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