# taz.de -- Mietenwahnsinn in Berlin: Zwischen Verdrängung und Enteignung
       
       > Am Sonntag wählt Berlin erneut. Die Mietenexplosion ist das wohl
       > dringlichste Thema. Und was macht die Bundespolitik? Ein Ortsbesuch in
       > Kreuzberg.
       
 (IMG) Bild: Der Wrangelkiez in Berlin-Kreuzberg, frühere Heimat von Cansel Kiziltepe (SPD)
       
       BERLIN taz | Ende Januar steht Cansel Kiziltepe im Regen. Dichte Wolken
       über der Hauptstadt, eine eisige Kälte macht sich breit. Menschen
       verschwinden unter aufgespannten Regenschirmen. „Hier bin ich geboren und
       aufgewachsen“, sagt die SPD-Bundestagsabgeordnete. Hier, das ist
       Berlin-Kreuzberg, Falckensteinstraße. „Mein Zuhause“, sagt sie. Eigentlich
       wohnt Kiziltepe nicht mehr in dieser Straße, aber ihre Geschichte begann
       eben hier im Wrangelkiez, einem Teil Berlin-Kreuzbergs, der sich über die
       Jahre vom armen, migrantisch geprägten Arbeiterviertel zum angesagten
       Szeneviertel entwickelt hat. An sonnigeren Tagen klackern dort Rollkoffer
       über den Asphalt, und Menschen sitzen auf den Außenbänken der vielen
       Restaurants und Cafés. Die Mieten: unbezahlbar. Doch das war nicht immer
       so.
       
       Cansel Kiziltepe, die seit 2021 als Parlamentarische Staatssekretärin im
       Bundesbauministerium arbeitet, um die Wohnungskrise in den Griff zu
       kriegen, weiß das aus eigener Erfahrung. „Früher haben überwiegend
       sogenannte Gastarbeiter hier gelebt, weil hier keiner wohnen wollte, weil
       die Häuser so verfallen waren“, erzählt Kiziltepe, die 1975 in Westberlin
       geboren wurde. Ihr Vater wanderte 1960 aus der Türkei ein, ihre Mutter
       etwas später. Bis 1998 hat die heute 47-Jährige in der Falckensteinstraße
       gelebt. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Zunächst in der
       Falckensteinstraße 42 in einer Zweizimmerwohnung mit Kohleofen und
       Außenklo.
       
       1986 zogen sie nur ein paar Häuser weiter in die Hausnummer 8, ein
       beigefarbenes Haus mit Fassadenstuck. Drei Zimmer, Küche und Bad ohne
       Fenster. Kiziltepe zeigt auf die vierte Etage, ihr altes Zimmer, das sie
       sich bis zur Volljährigkeit mit ihrem Bruder teilte. „Damals war das so“,
       sagt sie. Aber damals war vieles anders. Damals lag der Wrangelkiez in
       Randlage nahe der Mauer, Berlin war eine geteilte Stadt. „Im ganzen Haus
       haben Freunde von meinen Eltern gelebt“, erzählt sie, „aber heute wohnt
       kein einziger mehr von denen da.“ Kiziltepe hat die Verdrängung im Kiez
       hautnah miterlebt.
       
       Als die Mauer fiel, war sie 14 Jahre alt: „Sie können sich nicht
       vorstellen, was hier abging. Die Grenzen wurden aufgemacht, die Menschen
       strömten über die Oberbaumbrücke Richtung Schlesisches Tor. Und viele
       Nachbarinnen und Nachbarn sind gleich runter zum Straßenrand und haben
       Sachen verkauft. Das war eine bewegende Zeit.“ Auch nach der Wende dauerte
       es noch bis die Verdrängungsspirale losging.
       
       Von 1999 bis Ende 2015 nahm der Berliner Senat den Wrangelkiez ins
       Förderprogramm „Quartiersmanagement“ auf, um den Stadtteil etwas
       aufzupeppen. Mehr als neun Millionen Euro flossen in Nachbarschaftsvereine
       oder Verschönerungsprojekte. Erst mit der Zeit entpuppte sich der
       Wrangelkiez zum angesagten Szeneviertel. Im Norden die Spree, im Südosten
       der Landwehrkanal, im Süden der Görlitzer Park.
       
       „Besonders in den letzten 15 bis 20 Jahren wurden sehr viele Einwohner
       verdrängt“, erzählt Kiziltepe. Die Falckensteinstraße veränderte sich.
       Kleine Gewerbe in der Straße wichen. Früher gab es dort ein
       Bestattungsunternehmen, einen Malerladen, einen Sanitär- und Heizungsladen
       und „dort drüben eine Altberliner Kneipe, die meine Tante betrieben hat“,
       erzählt Kiziltepe. Keiner dieser Läden existiert heute noch. „Viele Häuser
       wurden an Investoren verkauft. Es gab hier massenweise Proteste, weil die
       Menschen Angst hatten, herausmodernisiert zu werden“, erinnert sich
       Kiziltepe.
       
       Die Ursachen der heutigen Wohnungsnot reichen weit zurück: Die Berliner CDU
       hatte mit dem Bankenskandal von 2001 einen Milliardenschaden zu
       verantworten, der dazu führte, dass die rot-rote Koalition nach der
       Jahrtausendwende öffentlichen Wohnraum verscherbelte.[1][[Link auf
       https://taz.de/Banken-Skandal/!5547227/]] Der Ausverkauf von ehemals
       gemeinnützigen Wohnraum ließ Aktiengesellschaften wie Deutsche Wohnen und
       Vonovia entstehen. Diese trieben mit Spekulationen ihre Gewinne zu Lasten
       von Mieter*innen hoch. In kaum einer anderen deutschen Stadt sind die
       Mieten länger schon so rasant gestiegen wie in Berlin.
       
       Anfang 2020 reagierte der rot-rot-grüne Senat darauf mit dem Berliner
       Mietendeckel, der der Stadt eine kurze Atempause verschaffen sollte. Mit
       dem Deckel sollten die monatlichen Mieten nicht nur begrenzt, sondern auch
       gesenkt werden, sofern sie zu teuer waren. Die scheinbar unaufhaltsame
       Aufwärtsspirale der Mietpreisentwicklung war plötzlich gestoppt, erstmals
       nach vielen Jahren sanken die Angebotsmieten – bis Abgeordnete von CDU und
       FDP gegen den Mietendeckel vor Gericht zogen. Das Urteil des
       Bundesverfassungsgericht im April 2021: Der Bund sei für Mieterschutz
       zuständig – der Mietendeckel war Geschichte. [2][[Link auf
       https://taz.de/Entscheid-zum-Mietendeckel/!5760636/]]
       
       Zum Frust der Berliner*innen. Abends gingen damals spontan Tausende auf die
       Straße, demonstrierten zwischen Kreuzberg und Neukölln. Vereinzelt kam es
       zu Zusammenstößen mit der Polizei. Langfristig hat sich die Wut aber auch
       demokratisch kanalisiert: Im September 2021 – parallel zur Bundestagswahl
       und Berliner Abgeordnetenhauswahl – stimmten knapp 60 Prozent der
       Berliner*innen bei einem Volksentscheid dafür, große Wohnungskonzerne
       mit mehr als 3.000 Wohnungen zu enteignen. Plötzlich waren Enteignungen
       Teil des politischen Repertoires.
       
       Die Enteignungsfrage wurde dann zur Sollbruchstelle im aktuellen
       rot-grün-roten Senat. Während Linke und Grüne mit Abstrichen für die
       Vergesellschaftung sind, lehnt die SPD-Führung das Ziel des erfolgreichen
       Volksentscheids ab. Eigentlich prüft eine eingesetzte Kommission derzeit,
       ob sich eine Vergesellschaftung rechtssicher umsetzen ließe. Das hält aber
       den für das Wahldebakel verantwortlichen Ex-Innensenator und mittlerweile
       Bausenator, Andreas Geisel (SPD), nicht davon ab, das Volksbegehren für
       „wirtschaftlich verrückt“ zu erklären.
       
       Und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey kann ob ihrer
       DDR-Vergangenheit nicht mit ihrem „Gewissen“ vereinbaren, Privatbesitz zu
       enteignen. Zudem entstünde durch Vergesellschaftung keine einzige neue
       Wohnung. Rückenwind kommt auch aus dem Bund: von Bundeskanzler Olaf Scholz
       und Bundesbauministerin Klara Geywitz. Stattdessen will man auf Neubau
       setzen. Ignoriert wird, dass sich Vergesellschaftung und Neubau nicht
       widersprechen. Die Initiative DW Enteignen will beides und damit den Anteil
       von dauerhaft günstigem und gemeinnützig bewirtschaftetem Wohnraum
       vergrößern.
       
       Eine Ausnahme in der SPD-Führungsriege bei der Enteignungsfrage ist Cansel
       Kiziltepe. „Als Ultima Ratio muss das möglich sein“, findet sie beim
       Spaziergang im Wrangelkiez. „Folgende Frage müssen wir uns dennoch stellen:
       Nehmen wir so viel Geld in die Hand, ohne neuen bezahlbaren Wohnraum zu
       schaffen?“ Das sei „ein Abwägungsprozess, mit dem wir uns beschäftigen
       müssen“. Im letzten Jahr fasste der Berliner Landesverband einen Beschluss,
       der vorsieht, ein Vergesellschaftungsgesetz zu schaffen, falls die
       Enteignungskommission dies für möglich hält. „Jetzt warten wir auf das
       Votum“, sagt Kiziltepe.
       
       Tatsächlich stehen die Zeichen gut: Die von der ehemaligen
       SPD-Justizministerin Herta Däubler-Gmelin geführte Kommission hält ein
       Vergesellschaftungsgesetz nach einem Zwischenbericht für rechtlich möglich
       – auch für einen Preis unterhalb des Spekulationswertes.
       
       Genau das wäre Kiziltepe wichtig: „Welcher Weg ist verantwortungsvoller,
       günstiger und bringt für die Stadt mehr?“ Viel hänge ja davon ab, „ob man
       zum Marktwert entschädigen muss oder nicht“, sagt sie in ruhiger Tonlage.
       Vielleicht spricht da die Sachlichkeit der Volkswirtin aus ihr. Es gäbe
       auch Stimmen aus dem linken Spektrum, die argumentieren, „dass ein Kauf die
       Spekulationspreise befeuern würde“.
       
       Kiziltepe gehört zum linken Parteiflügel, auch Finanzpolitik gehört zu
       ihren Herzensangelegenheiten. Seit 2013 ist sie Mitglied des Deutschen
       Bundestages, von 2015 bis 2021 war sie stellvertretende finanzpolitische
       Sprecherin ihrer Partei. Seit 2015 ist sie zudem Geschäftsführerin des
       [3][Projekts Steuermythen]. Es wurde von SPD-Abgeordneten initiiert. Sie
       wollen die deutsche Debatte um Steuern versachlichen.
       
       ## Kreuzberg als zweifaches Sinnbild
       
       Bei der letzten Bundestagswahl sprach sich Kiziltepe für ein rot-rot-grünes
       Bündnis aus. Und auch bei der kommenden Berlinwahl hofft sie nun auf eine
       Fortsetzung von Rot-Rot-Grün. Wohnungspolitik lag ihr immer am Herzen,
       einfach, weil man sich dem Thema nicht entziehen könne, „wenn man in
       Kreuzberg aufgewachsen ist“, sagt sie. „Menschen fühlen sich bedroht in
       ihrer Existenz, wenn sie ihre Miete nicht mehr zahlen können.“ Kreuzberg:
       ein Sinnbild innerstädtischer Verdrängungsprozesse wie auch eines des
       Protests.
       
       Einer dieser Orte ist um die Ecke der Falckensteinstraße, in der
       Wrangelstraße, die dem Kiez seinen Namen gibt. 2015, als einem
       Gemüsehändler der Rauswurf drohte, protestierten Anwohner*innen
       monatelang vor dem Laden Bizim Bakkal gegen die Kündigung – bis der
       Eigentümer sie zurücknahm. Mit dabei: Cansel Kiziltepe. „Natürlich habe ich
       die Proteste mit unterstützt, ich kannte die Leute auch“, erzählt
       Kiziltepe. Inzwischen hat der Inhaber aus gesundheitlichen Gründen
       aufgehört. Heute steht der Laden leer. Dennoch: Aus diesem Protest ist die
       Initiative Bizim Kiez entstanden, die sich bis heute stadtweit gegen
       Verdrängung engagiert und vor allem kleine Gewerbetreibende im Blick
       behält.[4][[Link auf https://www.bizim-kiez.de/]]
       
       Eigentlich hätte sich Cansel Kiziltepe einen Mietendeckel auf Bundesebene
       gewünscht, erzählt sie beim gemeinsamen Aufwärmtee in einer nahen Bäckerei.
       SPD und Grüne hatten sich beide dafür ausgesprochen. „Die Idee war:
       Begrenzen wir die Mieten erst mal drastisch, damit wir Zeit haben für die
       Schaffung von bezahlbarem Wohnraum.“ Nur leider wurde daraus nichts. Nach
       der Bundestagswahl 2021 gingen SPD, Grüne und FDP eine Ampelkoalition ein.
       Ein Mietendeckel mit den Liberalen? „Wir hatten in den
       Koalitionsverhandlungen keine Mehrheit dafür“, bedauert Kiziltepe.
       
       Doch auch mit den wenigen Mietrechtsverschärfungen, die vereinbart wurden,
       geht es wohl nicht so recht voran: Eigentlich sollte die Mietpreisbremse
       verlängert und die Kappungsgrenze in angespannten Lagen von 15 auf 11
       Prozent gesenkt werden. Heißt: Mieten dürfen in drei Jahren nicht mehr als
       11 Prozent steigen. Doch das FDP-geführte Justizministerium, das für
       Mietrecht zuständig ist, lässt sich offenbar Zeit mit einem
       Gesetzesentwurf.
       
       Auf Nachfrage gibt man sich zugeknöpft: „Zum weiteren Vorgehen bei der
       Umsetzung der im Koalitionsvertrag vereinbarten Vorgehen finden innerhalb
       der Bundesregierung Gespräche statt.“ Ähnlich zäh laufen offenbar die
       Verhandlungen, um das kommunale Vorkaufsrecht wiederherzustellen, das im
       November 2021 vom Bundesverwaltungsgericht in weiten Teilen gekippt wurde.
       
       Von München über Leipzig bis Berlin war es ein erprobtes Mittel der
       Kommunen: Sollten ganze Häuser in Wohnvierteln, die stark von Verdrängung
       betroffen sind, verhökert werden, hatten sie die Möglichkeit, selbst zu
       kaufen oder Bedingungen für den Kauf stellen. Das Vorkaufsrecht kam 2017
       auch schon [5][in der Falckensteinstraße 33 zum Einsatz, als eine
       luxemburgische Briefkastenfirma das Haus aufkaufen wollte].
       Bundesbauministerin Geywitz gab im April 2021 einen Gesetzesentwurf in die
       Abstimmung mit den anderen Ministerien, um das kommunale Vorkaufsrecht
       wieder rechtssicher zu machen. Seither ist aber wenig passiert. „Der Ball
       liegt beim Bundesjustizministerium. Aber ich bin noch zuversichtlich“, sagt
       Kiziltepe. Auf Nachfrage beim Justizministerium heißt es lediglich: „Keine
       Auskunft.“ Schließlich sei ja das Bundesbaumisterium zuständig.
       Ministeriums-Pingpong.
       
       Kiziltepe verliert aber trotzdem kein schlechtes Wort über ihren
       Koalitionspartner FDP. „Es ist dringend nötig, dass wir den Mieterschutz so
       schnell wie möglich stärken, weil auch der Neubau aufgrund der aktuellen
       Krise stagniert.“ In der Tat sind mit dem russischen Angriffskrieg die
       Neubauziele in weite Ferne gerückt. Eigentlich hatte sich die Koalition
       vorgenommen, 400.000 Wohnungen pro Jahr zu schaffen.
       
       Nun sind aber Lieferketten unterbrochen, Materialpreise explodieren,
       Fachkräfte fehlen, die Bauzinsen steigen. Das Bündnis Soziales Wohnen
       sprach erst kürzlich von einem „Rekordwohnungsmangel“. Und Vonovia,
       Deutschlands größter Immobilienkonzern, kündigte erst vor Kurzem an, für
       2023 alle Neubauprojekte auf Eis zu legen. Der Konzern müsse seine
       Dividendenzahlungen in Frage stellen, findet Kiziltepe.
       
       Möchte die Bundesregierung also nur stur den Koalitionsvertrag abarbeiten?
       Das will Kiziltepe so nicht stehen lassen. „Wir haben sehr viele
       Entlastungen im letzten Jahr umgesetzt“, sagt sie: Die größte
       Wohngeldreform wurde auf den Weg gebracht, der CO2-Preis wird seit diesem
       Jahr fairer zwischen Mieter und Vermieter aufgeteilt. Der Gaspreisdeckel,
       die Energiepreispauschale, Heizkostenzuschuss. Aktuell stellt der Bund den
       Ländern bis 2026 rund 14,5 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau zur
       Verfügung.
       
       Das sei eine „Zeitenwende in der Wohnungspolitik – die Mittel für den
       sozialen Wohnungsbau haben wir fast verdreifacht“. Dennoch fallen bislang
       mehr Sozialwohnungen aus ihren Bindungen als neue entstehen. Besonders
       freut sich Kiziltepe deshalb auf die geplante neue Wohngemeinnützigkeit.
       Damit können Unternehmen steuerliche Vorteile bekommen, wenn sie
       gemeinwohlorientierten Wohnraum schaffen. So könne „dauerhaft bezahlbarer
       Wohnraum entstehen“. Ende März sollen Eckpunkte dafür vorgelegt werden.
       
       Ralf Hoffrogge, Historiker und Aktivist beim erfolgreichen Volksentscheid
       Deutsche Wohnen und Co Enteignen überzeugt das alles nicht. „Beim
       Vorkaufsrecht hätte es genügt, einen Satz zu ändern, das hätte man
       innerhalb von Wochen machen können – genau so, wie es nach dem Mietendeckel
       möglich gewesen wäre, dass Länder eigene Regelungen treffen können.“ Aber
       das sei politisch eben nicht gewollt, sagt Hoffrogge. „Dahinter sitzt die
       Immo-Lobby. Wenn ein Land die Mieten erfolgreich deckelt, geht eine Kaskade
       los – wenn es in Berlin einen Deckel gibt, kannst du in Hamburg niemandem
       erklären, warum es dort keinen gibt.“
       
       ## Artikel 15 im GG erlaubt Enteignungen
       
       Der Historiker hat sich intensiv mit der Geschichte der Arbeiterbewegung
       auseinandergesetzt und sich im Zuge dessen auch der Enteignungsfrage
       gewidmet: „Im Dezember 1918 haben SPD und USPD beim 1. Reichsräte-Kongress
       beschlossen, dass jetzt gefälligst sozialisiert wird. Erst wurde damals der
       Bergbau diskutiert, dann ging es gleich um die Wohnungsfrage.“ Die
       Beschlüsse seien zwar nicht umgesetzt worden, hätten sich aber in der
       Weimarer Verfassung niedergeschlagen. Diese „schützte Eigentum, aber sah
       Korrekturmöglichkeiten der Eigentumsverhältnisse vor.“ Diese Regelung sei
       dann etwas entschlackt auch ins Grundgesetz geschrieben worden. In Artikel
       15 werden dort Vergesellschaftungen erlaubt.
       
       Enteignung sei „kein kommunistisches Projekt“, argumentiert Hoffrogge, „der
       linke Flügel der Christdemokraten und die Sozialdemokraten haben damals
       dafür gesorgt, dass der Sozialisierungsparagraf reinkommt – das Grundgesetz
       sieht eine offene Wirtschaftsordnung vor“. Dieser Strang sei in der Führung
       der SPD vergessen worden, aber in der Mitgliedschaft noch nicht ganz. „Die
       sozialen Bewegungen tragen der SPD ihre eigenen Themen hinterher“ – wenn
       die SPD sich darauf zubewege, könne sie sich erholen, so die Analyse des
       Historikers. Derzeit habe die SPD den Anschluss an eine für sie wichtige
       Wählerschicht verpasst.
       
       Dabei zeigen Umfragen klar: Die Mietenexplosion ist das Thema, was die
       Berliner*innen vor der Wahl bewegt. Deutlich wird das bei einer
       Veranstaltung der Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen Ende Januar.
       [6][[Link auf https://dwenteignen.de/]] Die evangelische Reformkirche in
       Berlin-Moabit ist randvoll mit Mieter*innen und Aktivist*innen von
       DW Enteignen, erkennbar in lila Warnwesten mit gelber Aufschrift. Die
       Initiative hat Vertreter*innen aller Parteien zum „großen
       stadtpolitischen Wahlkampfpodium“ eingeladen.
       
       Nach einem Schlagabtausch der Politiker*innen, mit etwas mehr und etwas
       weniger Applaus, meldet sich eine Mieterin und Aktivistin von DW Enteignen
       zu Wort, die sich als Jasmina R. vorstellt. Minutenlang redet sie sich in
       Rage: „Ich bin empört und wütend. Wir sind, seit ich bei Deutsche Wohnen
       bin, Raubrittern und Wegelagerinnen in die Hände gefallen.“ Jasmina R.
       beschreibt eine Situation, wie sie nicht selten von der Deutschen Wohnen zu
       hören ist: Sie wohne im Schöneberger Süden, seit Jahren fiele in ihrem
       Block die Heizung aus. „Wir frieren, haben kein Warmwasser – Babys, Kinder,
       Alte, Hilfebedürftige.“
       
       Wenn die marode Anlage laufe, zahle man bis zu 100 Prozent mehr als den
       Durchschnittspreis, weil der Konzern „keinen Cent in die energetische
       Sanierung“ stecke. Applaus brandet auf. Aber die Jubelrufe würgt R. ab,
       weil sie noch mehr sagen will. „Ich bitte alle Berliner Mieterinnen und
       Mieter: Schließt euch zusammen, wehrt euch gegen Deutsche Wohnen und
       Vonovia, gegen Immobilienkonzerne! Wählt Politiker*innen, die Mieter
       schützen, geht zum Mieterverein! Die vertreiben uns aus der Stadt, das geht
       so nicht weiter!“
       
       Cansel Kiziltepes Eltern haben erst vor wenigen Monaten die
       Falckensteinstraße im Wrangelkiez verlassen. Sie wurden nicht verdrängt. Im
       Alter wurde es ohne Aufzug nur zu schwierig, in den vierten Stock zu
       kommen. Es habe lange gedauert, eine Wohnung für sie mit Fahrstuhl zu
       finden, erzählt Kiziltepe, bevor sie den Wrangelkiez wieder verlässt und
       zum nächsten Termin rauscht.
       
       9 Feb 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [4] https://www.bizim-kiez.de/
 (DIR) [5] /Vorkaufsrecht-in-Kreuzberg-ausgeuebt/!5424919
 (DIR) [6] https://dwenteignen.de/
       
       ## AUTOREN
       
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 (DIR) Jasmin Kalarickal
       
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