# taz.de -- Mobilitätswende in Kiel: Die Rückkehr der Straßenbahn
       
       > Das einzige öffentliche Verkehrsmittel in Kiel ist der Bus. Deshalb soll
       > es wieder eine Straßenbahn geben. Das ist dringend nötig.
       
 (IMG) Bild: Zur Stoßzeit ziemlich voll: Busse am Kieler Hauptbahnhof
       
       KIEL taz | Spricht man am Bussteig vor dem Kieler Hauptbahnhof
       Passant:innen darauf an, dass es in ihrer Stadt bald eine Straßenbahn
       geben soll, sagt der eine: „Das wird doch noch 50 Jahre dauern.“ Eine
       andere sagt: „Die Idee ist doch uralt.“ Und eine dritte Person erinnert
       sich: „Eine Straßenbahn gab’s doch früher mal.“
       
       Auch Kiel hat sich zum Ziel genommen, die [1][Mobilitätswende vor Ort]
       voranzubringen. Dafür soll der ÖPNV nicht einfach nur in kleinen Schritten
       ausgebaut werden, wie es die meisten anderen Städte im Norden machen,
       sondern gleich um ein neues Verkehrsmittel erweitert werden: die
       Straßenbahn. Erste grobe Trassenpläne für drei Linien mit einem gemeinsamen
       Schnittpunkt am Hauptbahnhof gibt es schon.
       
       Während sich die Begeisterung in der nicht-repräsentativen Mini-Umfrage in
       Grenzen hält, sind andere Kieler:innen deutlich optimistischer. „Derzeit
       stehen die Chancen so gut wie nie“, sagt Jan Niemeyer. Er setzt sich seit
       neun Jahren für die Straßenbahn in seiner Stadt ein. Der 32-Jährige ist
       Vorsitzender des [2][Vereins „Tram für Kiel“]. Wird das wirklich etwas
       bringen? Ist das problemlos umsetzbar? Wem, außer dem Klima, nützt das
       Vorhaben? Und steht dem Projekt noch etwas im Weg?
       
       Bei einer Busfahrt – Kiels einzigem öffentlichen Verkehrsmittel – entlang
       einer der geplanten Trassenführungen will Niemeyer über das Projekt reden,
       dass aus seiner Sicht nicht nur mit Mobilität zu tun hat. „Es geht hier
       auch um Teilhabe, um Stadtentwicklung und die Frage, wie wir zusammen leben
       wollen in einer Stadt.“
       
       ## Mit der 14 nach Mettenhof
       
       Im 15-Minuten-Takt hält die Buslinie 14 Richtung Mettenhof am Hauptbahnhof.
       Es ist Mittagszeit, Schüler:innen, Alte und Mittelalte mit Einkaufstüten
       aus dem Shopping-Center gegenüber drängeln sich vor der einzigen geöffneten
       Tür vorn beim Fahrer, um einzusteigen. Der Busfahrer schaut sich jeden
       Fahrschein genau an. Ein junger Mann kauft bei ihm ein Ticket und legt das
       Geld auf die Kasse. Doch die Hebel, die das Rückgeld in die kleine Schale
       spülen sollen, klemmen.
       
       Drei Mal haut der Busfahrer laut auf die Kasse, wo sich offenbar
       irgendetwas verhakt hat. Danach kommt das Rückgeld unten in der Schale an.
       Niemeyer lächelt. „Jetzt warten wir schon mehr als zwei Minuten, um in den
       Bus einsteigen zu können“, sagt er. So lange dauere es in den Bussen zwar
       nicht an jeder Haltestelle, „aber da kommt viel Wartezeit zusammen“.
       
       Einfach einsteigen, das klappt hier nicht. Als der Bus am Bahnhof losfährt,
       ist er gerammelt voll. „An eine Straßenbahn packst du in den Stoßzeiten
       mehr Wagen dran“, sagt Niemeyer. Eine höhere Taktung der Busse würde das
       Problem nicht lösen. Es führe eher zu neuen Problemen: Schon jetzt werde
       händeringend nach Fahrer:innen gesucht. Auf dem kleinen
       Fernsehbildschirm unter dem Busdach ploppt alle zwei Minuten eine Werbung
       der Kieler Verkehrsgesellschaft KVG auf; sie bemüht sich jetzt darum,
       Lkw-Fahrer:innen für einen Berufsumstieg zu gewinnen. „Und wenn noch mehr
       Busse eingesetzt werden, stehen sich die Busse im Weg rum.“
       
       Im Weg steht plötzlich auch ein Auto, dass vor dem Bus aus einer Parklücke
       fährt. Der Busfahrer macht eine Vollbremsung, selbst die im Bus Sitzenden
       halten sich an Griffen und Stangen fest. „Eine eigene Spur für die
       Straßenbahn muss einfach sein“, sagt Niemeyer. Später, auf der Rückfahrt,
       kippt bei einem ähnlichen Bremsmanöver ein im Bus abgestellter Kinderwagen
       um.
       
       ## Qualität des ÖPNV auch eine soziale Frage
       
       Mettenhof liegt am Rand von Kiel, direkt danach gehen die Felder los.
       Zwischen Zentrum und Mettenhof, zur Linken, ist man auch schon kurz im
       Grünen – der Stadtteil ist abgekapselt vom Rest der Stadt und gleichzeitig
       ihr größter. In der in den 1960er-Jahren erbauten Großwohnsiedlung leben
       fast 20.000 Menschen: viel Beton, viel Armut, viel Arbeitslosigkeit.
       
       Am „Weißen Riesen“, dem höchsten Wohnhochhaus der Stadt, dessen
       Fassadenfarbe abbröckelt, steigen wir aus. Der Skandinaviendamm, der aus
       der Innenstadt herführt, ist so breit, als wäre er für Militärparaden
       angelegt: Vier Autospuren, ein breiter, grüner Mittelstreifen, dazu gibt es
       noch einen Fahrrad- und Fußweg und selbst für Bushaltebuchten ist noch
       Platz. „Baulich wäre die Trasse hier sicher kein Problem“, sagt Niemeyer.
       Zwei Autospuren weg, zwei Straßenbahngleise dafür hin und dann: einfach
       einsteigen.
       
       Niemeyer – Sneaker, Jeans, roter Baumwollpulli und Regenjacke drüber – ist
       gerade mit dem Jura-Studium fertig. „Seit drei, vier Jahren sind viele
       Jüngere dabei“, sagt Niemeyer über den Verein. Eine neue Generation sei
       jetzt dabei, für die eine Straßenbahn nicht aus technischen Gründen eine
       tolle Sache ist, sondern weil sie angesichts der Klimaerhitzung die
       Mobilitätswende voranbringt. Und weil die Qualität eines ÖPNV auch eine
       soziale Frage sei.
       
       Straßenbahn sei jetzt kein Nerd-Thema mehr, sagt Niemeyer. Obwohl,
       „mittlerweile bin ich wohl auch ein Nerd“. Denn seitdem vorletztes Jahr
       eine Grundlagenstudie veröffentlicht wurde, bekommt die alte Idee
       Rückenwind – und die Pläne werden immer detaillierter, sodass auch Niemeyer
       tief in der Materie steckt.
       
       ## Scheitern nicht ausgeschlossen
       
       Dennoch, oder gerade deswegen, ist nicht ausgeschlossen, dass das Projekt
       noch scheitert. Das weiß auch Kiels Oberbürgermeister Ulf Kämpfer (SPD).
       „Das Stirnrunzeln kommt immer erst, wenn es konkret wird“, sagt Kämpfer und
       nennt, wie Niemeyer auch, die Namen zweier Städte: Aachen und Wiesbaden.
       Dort sind Pläne für den Bau einer Straßenbahn auf die denkbar nachhaltigste
       Weise gestoppt worden: per Bürgerentscheid.
       
       Der Gegenwind gegen die beiden Vorhaben war dort erst gekommen, als alle
       Befürworter:innen schon dachten, der Straßenbahn stünde nichts mehr im
       Weg. In Wiesbaden mobilisierte die FDP mit ihrem politischen Know-how die
       Gegner:innen. Es werden einige Jahrzehnte vergehen, ehe sich
       Befürworter:innen wieder trauen, die Idee auf die Agenda zu setzen.
       Auch Niemeyer sagt: „Das kann noch hässlich werden.“
       
       Nun reicht die Debatte um die Wiedereinführung einer Straßenbahn in Kiel
       bald ein Vierteljahrhundert zurück. „Mitte der 1990er gab es schon die
       ersten Vorschläge“, sagt Niemeyer. Eine „Stadt-Regional-Bahn“, die auch die
       umliegenden Gemeinden auf der Schiene einbinden sollte, sollte nach Kiels
       Wünschen entstehen. 2015, nach knapp 20 Jahren, gab Kämpfer das Aus der
       Pläne bekannt: Die umliegenden Kreise wollten nicht mitziehen. Nun will es
       Kiel innerhalb der Stadtgrenzen erneut versuchen.
       
       Bislang ist die Kritik jedoch erstaunlich leise. Mit einigen
       Gewerbetreibenden werde bei Gesprächen manchmal sehr kontrovers gestritten,
       sagt Kämpfer. Ansonsten ist in Kiel selbst die FDP für die Straßenbahn.
       
       ## Drängelnde „Fridays For Future“-Generation
       
       Dem Eindruck, das Projekt werde zurückgelehnt, gar bewusst langsam
       vorangetrieben, um Skeptiker:innen nicht das Gefühl zu geben, hier
       würde eine Idee überstürzt umgesetzt, widerspricht Kämpfer vehement. Im
       Zwei-Wochen-Takt würden derzeit wichtige Entscheidungen bei den Plänen
       fallen. „Wir arbeiten daran so schnell wie möglich.“ Wer wie die
       [3][„Fridays For Future“-Generation] sagt, dass die Zeit drängt, dem genüge
       das natürlich nicht. Es sei aber besser, bereits jetzt Konflikte
       auszutragen, um zu einer Lösung zu kommen.
       
       Dennoch: Vor dem Jahr 2030 wird wohl kaum eine Bahn durch die Stadt rollen,
       eher wird es später. „Aber wenn wir unsere Partnerstadt Aarhus ansehen, ist
       klar: Wir hängen der Entwicklung 15 Jahre hinterher“, sagt Kämpfer. In
       Aarhus gibt es seit 2017 wieder eine Straßenbahn, nachdem der Betrieb der
       alten Wagen 1971 eingestellt worden war.
       
       Auch in Kiel gab es früher schon einmal ein Straßenbahn, doch sehen lässt
       sich das in der Stadt fast nicht mehr. Abgesehen von einem Wendehammer im
       nordwestlichen Stadtteil Wik sind die letzten Spuren der Vergangenheit
       mittlerweile überteert. 100 Jahre lang fuhr das Verkehrsmittel durch die
       Stadt: Während viele Städte in Deutschland schon in den 60er-Jahren die
       Straßenbahn zugunsten des Autoverkehrs einstellten, endete die letzte Fahrt
       in Kiel am 4. Mai 1985. „Es ist ja schon fast lustig: Als Kiel damals den
       Straßenbahnverkehr einstellte, begannen zum selben Zeitpunkt in Frankreich
       die ersten Pläne für eine Reaktivierung“, sagt Niemeyer.
       
       ## Rostende Erinnerung an Kiels alte Straßenbahn
       
       Rund 20 Kilometer nordöstlich des Stadtzentrums, wenige Hundert Meter vor
       dem Schönberger Strand, stehen noch einige Wagen der alten Kieler
       Straßenbahn herum. Gras wächst dort zwischen den Schienen, alte Briefkästen
       und eine Telefonzelle der Bundespost sind auch Teil des öffentlich
       zugänglichen Außenmuseums. Auf der Rückseite des kleines Backsteinbahnhofs
       stehen noch Zugwaggons aus Kaiserzeiten.
       
       Auf der vorderen Seite, unter einer zu den Seiten offenen Halle, stehen
       drei Wagen, die bis 1985 durch Kiel rollten. Mit dunklem Holz sind die
       Wagen innen vertäfelt, die harten, schmalen Holzbänke versprühen antiken
       Charme, auch wenn darauf heute wohl niemand mehr gern sitzen würde.
       
       Ihre weiß lackierten Außenfassaden rosten an vielen Stellen vor sich hin.
       Der alte Werbeschriftzug des Hapag-Lloyd-Reisebüros blättert langsam ab.
       Noch immer klebt das Linienschild auf der Innenseite des vorderen Fensters:
       Die 4 von Holtenau über Gaarden und den Hauptbahnhof nach Wellingdorf. Auch
       auf dieser Route könnte bald wieder eine, natürlich viel modernere
       Straßenbahn rollen
       
       Niemeyer ist drei Jahre nach der Einstellung der Straßenbahn in Kiel
       geboren. Ihre Historie kennt er trotzdem, allein schon, weil die künftig
       denkbaren Trassen wieder dort entlang führen werden, wo auch die alten
       Wagen, die am Schönberger Strand herumstehen, fuhren. Ungeduldig ist
       Niemeyer mittlerweile nicht mehr. „Je mehr ich mich mit dem Prozess
       beschäftige, desto eher kann ich die Dauer verstehen.“ Auch wenn es zu
       wünschen wäre, dass das Projekt vorankommt.
       
       19 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] https://www.xn--tram-fr-kiel-ilb.de/
 (DIR) [3] /Siebter-globaler-Klimastreik/!5759462
       
       ## AUTOREN
       
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