# taz.de -- Museumsdirektor über das Möglich-Machen: „Kunst muss mir Welten eröffnen“
       
       > Nils-Arne Kässens ist Dozent, Kurator und Regisseur – und seit knapp drei
       > Jahren Direktor des Museumsquartiers Osnabrück.
       
 (IMG) Bild: Liebt Orte, die eine Geschichte erzählen: Nils-Arne Kässens im Osnabrücker Nussbaum-Haus
       
       taz: Herr Kässens, wer den Weg zu Ihrem Büro sucht, verläuft sich schnell.
       Ein Effekt von Daniel Libeskinds labyrinthischer Architektur. Haben auch
       Sie sich hier schon verlaufen? 
       
       Nils-Arne Kässens: Mehrfach, gerade in meinen ersten Arbeitstagen. Aber das
       Verlaufen ist ja auch eine Chance: Führen mehrere Wege zum gleichen Ziel,
       sieht man jedes Mal was Neues.
       
       Sogar für Libeskind ist es bis heute schwierig, sich in den Verwinkelungen
       seines Erstlingsbaus zu orientieren, Ihres Felix-Nussbaum-Hauses. Waren Sie
       mal dabei, in einem solchen Moment? 
       
       Bei seinem Besuch letztes Jahr! Aber dieser Effekt ist gar nicht negativ,
       finde ich. Es ist ja die Intention des Gebäudes, dass der Besucher zuweilen
       ein bisschen die Orientierung verliert: ein Verweis auf das Leben
       Nussbaums, der als NS-Verfolgter ja auch oft nicht wusste, wohin es ihn
       verschlägt. Das Haus ist Architektur gewordenes Statement.
       
       Wie arbeitet es sich in Räumen, deren Fenster so schräg sind, dass man
       meint, der Fußboden kippt einem unter den Füßen weg? 
       
       Ich sehe das als produktive Herausforderung. Mich inspiriert das.
       
       Aber ein derart skulpturaler Bau, der kaum Rücksicht nimmt auf Pragmatik,
       auf Praktikabilität, legt seiner Bespielung doch sicher manchmal Steine in
       den Weg? 
       
       Natürlich, das ist ja kein White Cube. Aber gerade das macht es so
       spannend. Ich arbeite gern mit Räumen, die ein Eigenleben haben, eine
       Geschichte, die etwas erzählen. Auch in Köln war das so.
       
       Da waren Sie Leiter des Kunsthauses Rhenania. 
       
       Das liegt an einem Hafen, gebaut in der Zeit der Industrialisierung; heute
       ist er stillgelegt. Unser Nachbar war Microsoft. Drumherum Firmen aus der
       Digitalbranche, hochpreisige Wohnungen, Agenturen, die es schick finden,
       ihre Büros in einem alten Speicher zu haben. Alles unglaublich
       gentrifiziert. Ich finde es wichtig, die Vorgeschichte einer solchen
       Topografie zu kennen, Stadtgeschichte künstlerisch zu reflektieren.
       
       Wie in Detroit, bei Ihrem Projekt „Route 313“. Was hätte ich erlebt, bei
       der Fahrt in Ihrer fiktiven Shuttlebuslinie? 
       
       Die künstlerische Wiederbelebung des öffentlichen Nahverkehrs, der dort ja
       kaum noch existiert. Eine Stadtrundfahrt, an deren Haltestellen es Kunst zu
       sehen gab, in Reaktion auf die wirtschaftliche, ethnische, soziale
       Geschichte der Stadt. Das Projekt habe ich gemeinsam mit Folke Köbberling
       realisiert. Eine der Stationen war ein Memorial, an einer Brücke. Ein
       Künstler hatte sie uns gezeigt, drunterher führt eine Geisterautobahn. Das
       Haus seiner Großeltern hatte da gestanden, war abgerissen worden für diese
       Straße, die heute keiner mehr braucht. Wir haben dann dort
       Erinnerungsgegenstände seiner Familie gezeigt.
       
       Sie haben in Detroit auch gelehrt? 
       
       An der Wayne State University. „Route 313“ war auch ein studentisches
       Projekt.
       
       Über Detroit hört man meist nur Horrorgeschichten: Brachflächen,
       Kriminalität, Armut … 
       
       Ja, aber das ist ein Zerrbild. Klar, es gibt all das. Es gibt sogar
       Stadtteile, in die Weiße nur kommen, um Fotos zu machen, Fotos von
       Häuserruinen, die teils noch bewohnt sind. Da sieht man dann
       Kameraausrüstungen, die so teuer sind, dass mancher Detroiter dafür mehrere
       Jahre arbeiten müsste; das ist schon ein krasses Missverhältnis. Aber ich
       habe auch ein anderes Detroit kennengelernt. Menschen, die Hoffnung haben,
       die etwas aufbauen wollen. Viele Künstler sind dorthin gezogen, haben
       Community-Projekte begonnen, und das trägt Früchte. Das ist eine Stimmung
       wie in Berlin Anfang der 1990er.
       
       Aus der Metropole Detroit sind Sie in die niedersächsische Provinz
       gewechselt, zum Kunstzentrum Syker Vorwerk. Warum ein solcher
       Radikalumbruch? 
       
       Eigentlich war es gar keiner. In Syke ging es, wie in Detroit und Köln, um
       die künstlerische Reaktion auf einen sehr besonderen Ort – nur diesmal eben
       einen sehr ländlichen. Das hat mich unglaublich gereizt. Außerdem war es
       wie eine Rückkehr. Ich bin ja auf dem Land groß geworden, in einem Dorf mit
       100 Einwohnern, in der Lüneburger Heide.
       
       Und so ganz aus der Welt liegt Syke ja auch nicht. 
       
       Aber es kommt einem manchmal so vor. Felder, Wald, und plötzlich ist da
       diese Institution mit überregionaler Strahlkraft, gefühlt mitten im Nichts.
       Ein wunderschönes, altes Gebäude. Auch dort habe ich Projekte gemacht, die
       den Ort selbst zum Thema hatten. Mein letztes war „In Syke“, zusammen mit
       dem Fotografen Jo Fischer. Ich habe ihn eingeladen, eine Zeitlang in Syke
       zu leben, für eine Foto-Dokumentation über die Menschen dort, die
       Landschaft.
       
       Köln, Detroit, Syke, jetzt Osnabrück, dazu Dozent an der Kunsthochschule
       Kassel, der Leuphana-Universität Lüneburg: Dafür, dass Sie erst 40 Jahre
       alt sind, ist Ihr Lebenslauf ziemlich vielschichtig. Wie ist Ihnen das
       gelungen? Gute Vernetzung? Zielstrebigkeit? 
       
       Es stimmt, ich bin schon ziemlich zielstrebig. Aber eine Portion Glück war
       auch dabei.
       
       Sie wirken stets sehr kontrolliert, sehr unaufgeregt, sehr beharrlich.
       Brodelt in Ihnen dennoch ein Vulkan der Utopien, der Visionen? 
       
       Beides bedingt einander. Ausdauer ist wichtig. Gerade bei Kulturprojekten,
       die Jahre an Vorlauf brauchen, wo du Partner auf deine Seite ziehen musst,
       Bündnisse schmieden musst mit Gleichgesinnten, wo du Geldgeber brauchst.
       Aber ohne eine gute Idee, ohne Überzeugungskraft, hilft die beste Ausdauer
       nichts.
       
       Ende 2016 haben Sie das Museumsquartier Osnabrück übernommen. Seither gehen
       Sie dort Wege der Neuerung, mit einem teils sehr jungen Team. Was war das
       Herausforderndste, mit dem Sie das Publikum bisher konfrontiert haben? 
       
       Das 20. Jubiläum des Nussbaum-Hauses, 2018. Nicht nur, dass unser Team erst
       wenige Wochen vorher vollzählig war. Wir haben Nussbaums Werke abgehängt
       und 20 Freunde des Hauses eingeladen, das Programm jeweils einen Tag lang
       zu gestalten, vom Konzert bis zur Performance. Parallel haben wir Nussbaum
       virtuell hinaus in die Stadt gebracht, durch 20 Stelen an 20 Orten, zu
       jeweils einem Bild, das erzählt, was es mit dem Ort zu tun hat, an dem es
       zu sehen ist. Nussbaums Bilder wurden auf dem Smartphone sichtbar, indem
       man einen QR-Code auf der Stele scannt. Anfangs war das Nussbaum-Haus dabei
       komplett leer – Architektur pur; eine unglaublich intensive Erfahrung. Über
       die 20 Tage hat sich diese Leere dann wieder gefüllt. Jeder der 20 Freunde
       hat etwas hinterlassen, ein Relikt seiner Aktion – Instrumente, Kostüme.
       Ein wirklich sprechendes Bild: Eine Stadt füllt ihr Museum mit Leben.
       
       Was haben Sie gedacht, als Sie auf die Osnabrücker Direktorenstelle
       aufmerksam wurden? 
       
       Das ist’s! Das möchte ich machen! Eine extrem spannende Museumstopografie
       aus vier Häusern. Mit Felix Nussbaum im Zentrum, einem herausragenden
       Künstler, dessen Biografie so viel über die deutsche Vergangenheit erzählt.
       Dazu die Chance, das Motto „Stadt, wo Frieden Geschichte und Zukunft hat“
       mit Leben zu füllen. Äußerst reizvoll.
       
       Auch die Arbeit als Theaterregisseur hat Sie gereizt. Sie haben 2010
       Tankred Dorsts „Parzival“ inszeniert, 2012 Matias Faldbakkens „Unfun“ für
       die Bühne adaptiert. Machen Sie solche Arbeit noch? 
       
       Dafür bleibt keine Zeit. Aber was ich derzeit tue, erfüllt mich vollauf.
       Ich möchte etwas bewegen, Ideen umsetzen; das ist meine Triebfeder. Ob das
       ein Konzept fürs Museum ist oder ein eigenes künstlerisches Projekt, ist
       eigentlich zweitrangig; das kann sich verschiedene Bahnen suchen. Ich muss
       nicht unbedingt der sein, der das Operative selber macht. Im Moment bin ich
       ein Möglichmacher, und das ist total befriedigend.
       
       Ihre Familie ist sicher ziemlich kulturaffin? 
       
       Mein Vater hat viele Jahre die Literaturabteilung des NDR geleitet; davor
       war er Schauspieldramaturg. Auch meine Mutter hat am Theater gearbeitet.
       Das hat mich natürlich geprägt, schon als ich klein war. Wir hatten oft
       Künstler bei uns zu Gast. George Tabori zum Beispiel, oder Tankred Dorst,
       das hat mich damals sehr beeindruckt. Ja, die Kultur liegt bei uns wohl in
       der Familie.
       
       Was muss Kunst haben, damit sie Sie fasziniert? 
       
       Sie muss im Hier und Jetzt verortet sein, aber zugleich über die Gegenwart
       hinausweisen. Sie muss mir Neues über die Welt erzählen, in der ich lebe,
       muss mir Welten eröffnen, die ich noch nicht kenne. Mich interessiert
       Kunst, die in einem gesellschaftspolitischen Kontext steht. Kunst, die
       unser eurozentristischer Blick marginalisiert. Kunst um der Kunst halber
       reizt mich nicht.
       
       Sie sagen, sie haben „maritime“ Wurzeln. Inwiefern? 
       
       Ich schätze die norddeutsche Weite, gerade auch die der See. Ich mag das
       Kühle, das Klare des Nordens. Das habe ich auch in Syke sehr zu schätzen
       gewusst. Ich bin jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren, aus
       Heiligenfelde, wir haben da in einem alten Bauernhof gewohnt. Da kommt man
       nur durch Flachland, über Kilometer sieht man keinen Baum, und dann liegt
       da dieser Nebel über den Feldern. Das ist unglaublich beeindruckend. Da
       habe ich mich sehr zu Hause gefühlt. Da gibt es eine schöne Anekdote …
       
       Welche denn? 
       
       Sie hat sich in Köln zugetragen. Jemand fragt mich, wo ich herkomme. Aus
       Hamburg, sage ich. Oh, nein, erwidert er. Du Armer! Da brach richtiges
       Mitleid los. Und dann bekam ich erst mal ein Kölsch hingestellt.
       
       Ist doch fein. 
       
       Ab da wusste ich: Wenn ich ein Freibier will, muss ich nur sagen: Ich komme
       aus dem Norden!
       
       In Osnabrück reanimieren Sie ein Museumsensemble, das lange mehr tot als
       lebendig war. Fühlen Sie sich manchmal wie ein Notarzt? 
       
       Mein Impuls war eigentlich gar nicht, der große Erneuerer zu sein. Aber es
       stimmt: Viel hat sich bewegt, und das in ziemlich kurzer Zeit. Wir haben
       das Museumsquartier als neue Dachmarke etabliert, es gibt neue
       Vermittlungsformate, zusammen mit dem ZDF ist eine digitale
       Nussbaum-Kunsthalle entstanden, wir haben den Deutschen Friedenspreis für
       Fotografie etabliert, konzipieren die Stadtgeschichte-Präsentation neu,
       sanieren unsere Villa Schlikker, einst Hauptquartier der Osnabrücker NSDAP,
       um uns dort zukünftig mit dem NS-Juristen Hans Calmeyer und den Themen
       Widerstand und Zivilcourage zu beschäftigen. Und wenn dann, wie kürzlich,
       sogar eine Studie der OECD sagt, dass der von uns eingeschlagene Weg in die
       richtige Richtung zeigt, ist das natürlich eine schöne Bestätigung.
       
       Zuletzt eine persönliche Frage: Warum tragen Sie stets eine Mütze? 
       
       Sie ist ein Teil von mir. Aber es ist gar nicht so sinnvoll, immer alles zu
       verraten.
       
       18 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Harff-Peter Schönherr
       
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