# taz.de -- Mythos des britischen NHS: Wo alle willkommen sind
       
       > Der National Health Service ist in Großbritannien eine Art
       > Ersatzreligion. Seine Schwachstellen werden in der Corona-Pandemie nun
       > allerdings deutlich.
       
 (IMG) Bild: Applaus von allen Briten: NHS-Angestellte werden gefeiert
       
       Die Liebe der Briten zum staatlichen Gesundheitssystem NHS (National Health
       Service) treibt mitunter seltsame Blüten. Der NHS ist in der populären
       Vorstellung mehr als nur die staatliche Behörde der kostenlosen
       Krankenfürsorge, sondern eine Ersatzreligion. Zu merken ist das am
       offiziellen NHS-Weihnachtslied. 2015 wurde ein NHS-Chor damit an die Spitze
       der Charts katapultiert. Der ebenfalls in den Top Ten platzierte Popstar
       Justin Bieber animierte seine Fans, die NHS-Single zu kaufen, damit es der
       Chor bis Weihnachten auf Nummer eins schafft.
       
       Die Sympathie, die der NHS genießt, zeigte sich auch bei der
       Eröffnungsfeier der [1][Sommerolympiade 2012 in London]. In der
       Choreografie von Regisseur Danny Boyle tanzten zu Ehren des NHS in
       traditionelles Blau gewandete Pflegerinnen, die sich dabei gegen düstere,
       von JK Rowling inspirierte „Voldemort“-Gesellen zur Wehr setzen mussten.
       
       Momentan in der Coronakrise führt die NHS-Zuneigung zu immer neuen
       Kapriolen. Immer donnerstags versammeln sich BritInnen, um denjenigen zu
       applaudieren, die als Pflegekräfte und ÄrztInnen nun für Kranke ihr Leben
       riskieren. Aber in erster Linie wird damit dem NHS gedankt.
       
       „Der NHS gehört dem Volk“, so steht es in den Statuten. Es gibt keine
       schriftlich fixierte britische Verfassung, juristisch gesehen ist es die
       Krone, die den Staat repräsentiert. Aber dass der dem Volkswohl schon
       rhetorisch dienende NHS eine Verfassung hat, ist sozusagen ein Weg, ihm
       seine Aufgabe als Volksglauben zu übertragen. Andere Nationen haben Ärzte
       und Krankenhäuser, den NHS gibt es ausschließlich in Großbritannien.
       
       In Boyles’ Eröffnungszeremonie 2012 kulminierte die NHS-Choreografie im
       nationalen Mythos der britischen Rolle im Zweiten Weltkrieg. Erst wurde der
       äußere Feind, die Nazis, besiegt, dann unterlag der Tory-Premier Winston
       Churchill zugunsten einer von Clement Attlee geführten Labour-Regierung.
       „Jetzt gewinnen wir auch im Frieden“, verkündeten Labour-Wahlplakate und
       zeigten 1945 heimkehrende Soldaten, die Jobs brauchten, Wohnungen und neue
       Zuversicht.
       
       ## Multikulturelle Belegschaft
       
       Der NHS ermöglichte Gesundheitsversorgung für alle, „kostenlos an der dafür
       jeweils zuständigen Stelle“, querfinanziert durch Steuern. Es war billiger,
       Bürgerinnen finanziell zu fördern, als eine Bürokratie aufzubauen, die
       herausfindet, wer bezugsberechtigt ist und wer nicht.
       
       Boyles’ Labour-freundliche NHS-Einhegung in das britische
       Weltkrieg-Zwei-Narrativ wurde 2012 durchaus als implizite Kritik am damals
       amtierenden konservativen Premierminister David Cameron verstanden. Von
       heute aus wirkt die NHS-Eloge eher wie das, was der Architekturkritiker
       Owen Hatherley „Austeritätsnostalgie“ genannt hat.
       
       Denn die Gründung des NHS hat mit der Rationierungspolitik nach 1945 zu
       tun. Die von Labour festgelegten Lebensmittelrationierungen endeten erst
       1954. Allmählich fusionierte die Sparpolitik mit der staatstragenden
       Bedeutung des NHS in der öffentlichen Meinung.
       
       Die Gründung des NHS 1945 ging einher mit der Verstaatlichung der
       Eisenbahn, der Einführung von Arbeitslosenhilfe, Krankengeld und dem Bau
       abertausender Mietskasernen, die Wohnraum garantierten, für diejenigen, die
       im Zweiten Weltkrieg von den Nazis ausgebombt wurden.
       
       Der NHS war Leuchtturm all jener Labour-Reformen. Staatliche Industrien
       sind längst privatisiert oder stillgelegt, Sozialwohnungen wurden verkauft,
       und der Wohlfahrtsstaat von einst ist Geschichte. Aber der NHS besteht
       weiter, während Arbeitslosenhilfe nicht einkommensgebunden ist, wie jetzt
       von vielen BritInnen in der Coronakrise gerade schmerzhaft erfahren wird.
       
       Im Großbritannien der 1960er wurden viele neue Krankenhäuser errichtet. Das
       Personal kam aus der Karibik, aus Indien und Pakistan. Das ist eine weitere
       Schlüsselrolle des NHS: Seine internationale Belegschaft wurde zum Sinnbild
       einer positiven Erfahrung der multikulturellen Gesellschaft. Das
       Wartezimmer wurde in dieser Vorstellung zum Ort, an dem alle willkommen
       sind.
       
       In der Ära Thatcher, von 1979 bis 1990, kam es im Gesundheitssektor zwar zu
       Einsparungen, an den NHS hat sich die Eiserne Lady jedoch nicht getraut. In
       der Amtszeit von New Labour unter [2][Tony Blair, 1997 bis 2007,] wurde das
       Budget für Gesundheit wieder erhöht. Aber die NHS-Einrichtungen wurden nun
       querfinanziert mit der Private Finance Initiative, die auf komplizierten
       Kreditmechanismen fußte, oftmals mit sinkenden Zinssätzen.
       
       ## Leave wegen Missbrauch des NHS
       
       Es ging darum, Staatsausgaben möglichst gering zu halten, obwohl der Staat
       selbst sich billig Geld besorgen konnte. Privatisierungen gingen
       unvermindert weiter.
       
       Ein Zuzug von EU-BürgerInnen setzte ein, die beim NHS anheuerten und
       zusammen mit MigrantInnen aus den Commonwealth-Staaten arbeiteten. In den
       zehner Jahren wurden auf Twitter oft Fotos gepostet, die solche
       Krankenhausbelegschaften zeigten: Der britisch-pakistanische Chefarzt
       rettete Leben mit portugiesischen OP-Schwestern und ungarischen
       Anästhesisten. Auch die pessimistische Position wurde in der
       Brexit-Kampagne ab 2015 laut: Zu viele Ausländer könne selbst ein NHS nicht
       schultern.
       
       Was aus dem NHS-Mythos geworden ist, lässt sich in den mehrheitlich rechten
       Boulevardmedien verfolgen, die in der Brexit-Kampagne gegen Flüchtlinge
       mobil machten, aber auch gegen Ausländer, die angeblich „unseren NHS“
       missbrauchen. Die Leave-Kampagne der Brexit-Befürworter stellte die absurde
       Rechnung auf, die „ausländische“-EU-Bürokratie stehle britisches Geld, das
       besser beim NHS aufgehoben wäre. Für im Land lebende EU-BürgerInnen wurden
       Gebührenregelungen eingeführt.
       
       ## NHS-Button als patriotisches Symbol
       
       Dazu betonte Gesundheitsminister Matt Hancock im November 2019, die Behörde
       heiße „National Health Service, nicht International Health Service“.
       Hancock achtet darauf, dass er stets mit NHS-Button vor die Presse tritt.
       Dieser ist in der Corona-Krise zum patriotischen Symbol geworden.
       
       Pro Kopf gibt es im Vereinigten Königreich weniger Ärzte und Pflegekräfte
       als in jeder anderen Industrienation, im Vergleich zu Deutschland verfügt
       man über ein Fünftel weniger Intensivbetten. In den letzten 30 Jahren hat
       sich die Anzahl von Krankenhausbetten insgesamt halbiert, obwohl die Anzahl
       der Krankenhausaufenthalte sich in der gleichen Zeit verdoppelte.
       Pflegeberufe sind notorisch schlecht bezahlt und im vergangenen Jahrzehnt
       hat der Lohn stagniert.
       
       Das hat 2015 zu einem erbitterten Streik von Assistenzärzten geführt, viele
       sind freiwillig ausgeschieden. Früher wurden PflegerInnen Stipendien
       zugestanden, um die Krankenpflegeschule zu absolvieren, inzwischen müssen
       sie selbst 9.000 Pfund zur Ausbildung beisteuern. Diese ist praxisbezogen,
       das heißt, sie müssen ihre Arbeit auch bezuschussen. Und momentan sind sie
       besonders gefährdet, denn es fehlt im ganzen Land an Schutzkleidung.
       
       ## Müllsäcke als Schutz
       
       Als Corona Mitte März richtig in Großbritannien zuschlug, wurden die
       Schwachstellen des Gesundheitssystems sofort sichtbar, bald zirkulierten
       Kriegs- und Rationierungsmetaphern aus den vierziger Jahren. Die mit
       Müllsäcken als Schutzkleidung notdürftig ausgerüsteten Pfleger und
       Ärztinnen wurden zu Helden erklärt, weil sie der Krise mit Fantasie
       begegneten. Ein bisschen entschädigt die NHS-Bediensteten die große
       Anteilnahme der Bevölkerung für die negativen Auswirkungen der Einsparungen
       im Gesundheitswesen.
       
       Ein Arzt hat mir gestanden, er begrüße den abendlichen Applaus seiner
       Nachbarn für den NHS zwar, lieber wäre ihm geeignete Schutzausrüstung.
       Krankenhausbelegschaften bekommen nun Verpflegung umsonst, eine nette
       Geste, aber nicht ausreichend, um die miese Bezahlung zu kompensieren.
       
       Dadurch, dass nun auf die heldenhaften Mediziner und den NHS fokussiert
       wird, gerät das Versagen der Politik aus dem Blick. Die Regierung Johnson
       hat viel zu langsam auf die Pandemie reagiert. Dass sich Premierminister
       Boris Johnson mit Corona infizierte, nachdem er zuvor Hände von
       Covid-Patienten geschüttelt hatte und darüber witzelte, sein Plan,
       britische Firmen dazu zu bringen, dringend benötigte Beatmungsgeräte
       herzustellen, wird „Operation Last Gasp“ (Operation Letzter Seufzer)
       heißen, passt ins Bild.
       
       Nach seiner Verlegung auf die Intensivstation des St.-Thomas-Krankenhauses
       blieb über Tage unklar, wie ernst es um ihn bestellt ist. Ausgerechnet
       Johnsons Sorglosigkeit machte ihn volksnah. Er dankte ausdrücklich den
       migrantischen Krankenschwestern, die ihn pflegten.
       
       ## Die Rede der Queen
       
       Als die [3][Queen ihre Rede an die Nation] richtete, zitierte sie aus ihrer
       allerersten Ansprache von 1940. „We’ll meet again“ war eine Referenz an den
       gleichnamigen Song von Vera Lynn, der 1939 zum Hit wurde, als der Zweite
       Weltkrieg begann. Ein Virus ist doch kein Krieg!
       
       In britischen Krankenhäusern sterben viermal so viele Menschen an Corona
       wie in Deutschland. Insgesamt ist die Zahl der Toten viermal so hoch wie in
       Deutschland. Auf dem Gebiet der sentimentalen Rhetorik ist Großbritannien
       weltführend, dringender benötigt werden aber ÄrztInnen, PflegerInnen und
       Krankenhausbetten, Schutzausrüstung und Beatmungsgeräte. Und vor allem
       brauchen wir eine Regierung, die wissenschaftliche Fakten über
       Parteipolitik stellt und Wahrheit über Rhetorik. Vielleicht kriegen wir
       eine, wenn diese Krise überstanden ist.
       
       Aus dem Englischen von Julian Weber
       
       20 Apr 2020
       
       ## LINKS
       
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