# taz.de -- Neuer Erlass aus Belarus: Die Rache des Diktators
       
       > Belarus verstärkt stetig den Druck auf im Ausland lebende Bürger. Drei
       > Exilbelaruss*innen berichten über die letzten Repressionsmaßnahmen.
       
 (IMG) Bild: In Polen lebende Belarussinnen bei einer Demonstration im August
       
       Mehr als 170.000 Belaruss*innen haben [1][seit den
       Präsidentschaftswahlen im August 2020 ihr Land verlassen]. Je nach Quelle
       leben bis zu 1,5 der rund 9 Millionen Belaruss*innen aktuell im
       Ausland. Zum großen Teil handelt es sich um Oppositionelle und
       Politmigranten, die vor den Repressionen des autoritären Regimes von
       Präsident Alexander Lukaschenko geflohen sind.
       
       Seit Donnerstag müssen Belaruss*innen, die ständig in einem anderen Land
       leben wollen, einen Antrag bei der Migrationsbehörde in Minsk stellen.
       Binnen 35 Tagen entscheidet dann die Behörde über den Fall, unter anderem
       aufgrund vorliegender Informationen über Steuerschulden, Wehrpflicht oder
       Vorstrafen. Bislang musste sie nur das jeweilige belarussische Konsulat
       über eine erhaltene Aufenthaltsgenehmigung informieren. 
       
       Dieser Erlass kommt fast drei Monate nach einem anderen Präsidialerlass
       (Nummer 278), der belarussischen Botschaften verbietet, unter anderem
       Reisepässe auszustellen. Jetzt müssen Belaruss*innen mindestens einmal
       alle zehn Jahre in ihr Land zurückkehren, um Dokumente zu erneuern. Bereits
       in den letzten Jahren untersagte Lukaschenko die Wahlteilnahme im Ausland.
       Beschlossen wurde auch, den Exilbelaruss*innen wegen angeblicher
       Mitwirkung in „extremistischen Formationen“ die Staatsbürgerschaft zu
       entziehen. 2021 wurde das staatliche Programm „Weg in die Heimat“
       aufgelegt. Einige, die sich darauf einließen und zurückkehrten, landeten im
       Gefängnis. Aktuell gibt es im Land über 1.500 politische Gefangene.
       
       ## Wie man ohne Pass überlebt
       
       Was der Erlass 278 bedeutet, können wir uns am Beispiel [2][der
       belarussischen Diaspora in Litauen] anschauen, zu der auch ich seit drei
       Jahren gehöre. 2020 musste ich Belarus verlassen, nachdem ich durch meine
       Arbeit als Journalistin und meine Berichterstattung über die gefälschten
       Wahlen ins Visier der belarussischen Sicherheitskräfte (Siloviki) geraten
       war. Gegen mich wurde ein Strafverfahren eröffnet. [3][Man drohte mir,
       meine Kinder in ein Waisenhaus zu bringen].
       
       Dank der Hilfe der litauischen Regierung konnte ich innerhalb kurzer Zeit
       für meine Familie und mich temporäre Visa vom Typ D (umgangssprachlich
       „humanitäres Visum“, Anm. d. Redaktion) erhalten, mit denen wir gefahrlos
       Belarus verlassen und dann auch länger als drei Monate in Litauen bleiben
       und dort auch arbeiten konnten. Nach der Ankunft in Litauen beantragten wir
       die Anerkennung als Flüchtlinge und erhielten nach sechs Monaten einen
       positiven Bescheid.
       
       Nun, nach Lukaschenkos Erlass Anfang September, ist es für
       Belaruss*innen wichtig, welchen Status sie jeweils im Ausland haben:
       Sind sie dort mit Arbeits- oder humanitärem Visum, haben sie ein
       befristetes oder unbefristetes Aufenthaltsrecht bzw. Flüchtlingsstatus.
       
       Mit dem Flüchtlingsstatus habe ich fast das gesamte Spektrum an
       Bürgerrechten in Litauen erhalten. Mein belarussischer Pass lief im August
       2023 aus, seitdem ist er also ungültig. Jetzt sind meine einzigen Dokumente
       der Aufenthaltstitel, den ich für fünf Jahre erhalten habe und der sich
       automatisch um fünf weitere Jahre verlängert, sowie ein „Konventionspass“,
       also ein Passersatz für Flüchtlinge im Sinne der Genfer
       Flüchtlingskonvention, mit dem ich auch aus Litauen ausreisen kann.
       
       Einen neuen belarussischen Pass kann ich nicht bekommen, weil ich
       Flüchtling bin und deshalb nicht das Recht habe, die Grenze zu einem Land
       zu überqueren, in dem mir Gefahr droht. Der nicht vorhandene belarussische
       Pass hat für mich, mit meinem jetzigen Status, keine ernsthaften und
       bedrohlichen Folgen. Mit dem Flüchtlingsstatus kann ich meinen
       belarussischen gegen einen EU-Führerschein tauschen. Dazu muss ich eine
       kleine Umschulung absolvieren und einen Test zu Straßenverkehrsordnung und
       Fahrprüfung bestehen.
       
       Meinen ganzen Besitz in Belarus, Auto und Immobilien, habe ich vor der
       Emigration legal an Angehörige weitergegeben. Ich bin lediglich noch
       polizeilich in dem Haus gemeldet, in dem ich zuletzt gewohnt habe. Aber
       solange dort Mieter gemeldet sind, kann der jetzige Eigentümer das Haus
       nicht verkaufen. Wenn ich meine polizeiliche Meldung von einem litauischen
       Notar beglaubigt kündige, ist sie gemäß dem Lukaschenko-Erlass nun nicht
       gültig, weil die Kündigung nicht auf belarussischem Staatsgebiet erfolgt
       ist. Dieses Problem ist aber lösbar: der Eigentümer kann sich an ein
       belarussisches Gericht wenden und meine Registrierung dort zwangsweise
       beenden lassen – meine Anwesenheit ist nicht zwingend notwendig.
       
       Es gibt noch eine weitere Besonderheit. Ich bin gerade im
       Scheidungsprozess. Meine Ehe wurde auf belarussischem Staatsgebiet
       geschlossen. Nach einem Termin bei einem litauischen Anwalt habe ich jedoch
       erfahren, dass ich als anerkannte Geflüchtete das Recht habe, mich vor
       einem litauischen Gericht scheiden zu lassen. Ich muss also auch für die
       Scheidung nicht nach Belarus. So gewährt der Flüchtlingsstatus in Litauen
       all denjenigen, die ihr Land weiterhin auf dem Weg des demokratischen
       Wandels unterstützen, auch ohne die Möglichkeit der Rückkehr,
       vollumfänglichen Schutz vor der Rache des Diktators.
       
       Alexandrina Glagoljewa, Vilnius 
       
       ## Keine Studiumsbeglaubigung
       
       Verdammt, das Regime macht mir schon wieder einen Strich durch die
       Rechnung“ – das war mein erster Gedanke, als ich von Lukaschenkos neuem
       Erlass hörte. 2023 wollte ich mich an der Universität einschreiben und
       online einen neuen Beruf ergreifen. Ich hatte mich gerade an mein Dasein im
       georgischen Exil gewöhnt und suchte nach Möglichkeiten, wie und wo ich mich
       weiterentwickeln könnte. Für eine Einreise in die EU mussten meine Diplome
       ins Englische übersetzt und beglaubigt werden. Früher hätte ich meine
       Verwandten um Hilfe gebeten, sie hätten das in Minsk mit einer Vollmacht
       erledigt. Oder ich hätte die Dokumente beim belarussischen Konsulat in
       Georgien einreichen können. Doch das ist ab sofort nun nicht mehr möglich.
       
       Ich bin jetzt schon zwei Jahre im Exil in Georgien. 2022 war mein
       belarussische Reisepass abgelaufen, ich musste ihn verlängern lassen. Im
       Konsulat in Georgien vereinbarte ich einen Termin, brachte ein ganzes Paket
       von Dokumenten vorbei und wartete, bis alles nach Belarus und dann per
       Diplomatenpost wieder zurückgeschickt wurde. Das Ganze hat fünf Monate
       Wartezeit und 100 Euro gekostet. Das Konsulat hatte mir übrigens zunächst
       versichert: Einen Pass bekomme man in Belarus schneller. Wie durch ein
       Wunder gelang es mir, die Frauen am anderen Ende der Leitung davon zu
       überzeugen, dass es jetzt finanziell äußerst schwierig sei, nach Hause zu
       fahren. Es sei Sommer, Russlands Krieg gegen die Ukraine tobe und eine
       einfache Fahrt würde 500 Euro kosten.
       
       Doch glimpflich ist das alles dann doch nicht abgegangen. Sie hatten
       vergessen, meine minderjährige Tochter in das neue Dokument einzutragen.
       Die Mitarbeiter*innen des Konsulats entschuldigten sich für den Fehler
       und boten an, die ganze Prozedur zu wiederholen. Ich habe das abgelehnt.
       Jetzt ist mein neuer Pass völlig „sauber“ – so, als wäre ich nicht
       verheiratet gewesen und hätte keine Kinder. Ich erinnere mich noch an meine
       Angst, als ich zum Konsulat fuhr: „Werden sie mich dort festhalten?“ Für
       alle Fälle hatte ich vorher meinen Freunden und meiner Tochter die Kontakte
       von Organisationen gegeben, die sich um politische Gefangene kümmern. Ich
       bereitete mich auf das Schlimmste vor.
       
       Ohne gültigen Reisepass in einem fremden Land zu leben ist unangenehm: Man
       bekommt kein Geld vom Konto, man kann sich nicht mit der Versicherung
       auseinandersetzen, wenn man plötzlich im Krankenhaus landet. Über das Thema
       Dokumente wird in den belarussischen Kreisen Georgiens lebhaft diskutiert.
       Die Leute scherzen, checken die Gültigkeit ihres Passes und überlegen, in
       welches Land sie als Nächstes reisen werden. Manche träumen sogar davon,
       ihre belarussische Staatsbürgerschaft aufzugeben. Es ist schwierig, in
       Georgien einen legalen Status zu bekommen. Nur wenige Menschen erhalten
       eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Die Möglichkeit, die
       Staatsbürgerschaft zu erlangen, grenzt an Utopie. Selbst ethnische
       Georgier*innen warten schon seit Jahren darauf. Und auch ich mache mir
       Gedanken darüber, wo ich künftig leben soll. Ich habe noch kein Visum,
       warte seit sieben Monaten auf einen Anruf von einem der litauischen
       Konsulate in Tbilissi oder dem armenischen Jerewan, um dort ein humanitäres
       Visum zu beantragen. Meine Tochter hat über ihren Großvater eine
       fünfjährige Aufenthaltserlaubnis für Litauen erhalten. Ich denke, ich werde
       als Nächstes, sofern dies in unserer Situation möglich ist, einen Antrag
       auf Familienzusammenführung stellen, um künftig in der EU leben zu können.
       
       Der belarussische Pass hat jetzt für alle Exilbelaruss*innen einen
       neuen Wert erlangt. Ich habe ihn in einem Schrank auf das oberste Regal
       gelegt, nachdem ich ihn zuvor in Zellophan eingewickelt hatte, damit die
       Katze und die Nachbarn nicht herankommen. Das hatte auch meine Großmutter
       gemacht und ich habe sie immer ausgelacht. Aber jetzt ist das nicht mehr
       lustig. Einmal mehr müssen sich die Belaruss*innen den
       Herausforderungen des Regimes stellen und handeln. Und ich möchte meine
       Träume nicht aufgrund präsidialer Erlasse verraten. Ich hoffe, dass ich
       wieder studieren kann.
       
       Olga Deksnis, Batumi 
       
       ## Ausweise in Ikea-Box sichern
       
       Meinen Pass habe ich bisher noch nie verloren. Das Ausweisdokument lag fast
       immer in einer Mappe, die ich in einer Kommode in meiner Minsker Wohnung
       aufbewahrte. Ich brauchte diesen Pass nur für die seltenen Dienstreisen ins
       Ausland oder den jährlichen Urlaub am Meer. Meine Frau allerdings konnte
       das blaue Büchlein oft nicht wiederfinden: mal hatte sie es bei der Post
       gebraucht und dort vergessen, mal im Auto liegen gelassen oder bei
       Freunden. In Belarus ist es aber problemlos möglich, sich einen neuen Pass
       ausstellen zu lassen. Man füllt eine Verlustmeldung aus, bringt vier
       Passbilder und umgerechnet etwa 20 Euro mit. Zwei Wochen später hat man
       dann ein neues Ausweisdokument. Alles wurde anders, als meine Frau und ich
       mit Tochter und Hund das Land verlassen mussten.
       
       Die Gefahr in Belarus hält bis heute an. Menschen in Belarus werden in
       genau diesem Augenblick verhaftet. Warum? Für einen „Like“ in einem
       beliebigen Medium, das nicht auf Lukaschenkos Seite steht, zum Beispiel.
       Dutzende unabhängiger Redaktionen wurden geschlossen, und 33 meiner
       Kolleg*innen sind bis heute wegen Ausübung ihres Berufs hinter Gittern.
       
       Auch wir beschlossen damals, aus Belarus zu fliehen. Meine Frau ist
       Ukrainerin, darum wollten wir eigentlich nach Kyjiw. Unsere Minsker Wohnung
       hatten wir bereits zum Verkauf inseriert, telefonisch berieten wir uns mit
       den ukrainischen Verwandten, auf welcher Seite des Flusses Dnipro man
       besser leben könne. Und doch zögerten wir den Umzug immer weiter hinaus. Es
       ist so schwer, alles einfach aufzugeben!
       
       Vermutlich haben uns Trödelei und Heimatverbundenheit das Leben gerettet.
       Denn nach dem 24. Februar 2022 wurde auch uns klar: Putin hat Lukaschenko
       dabei geholfen, die Proteste zu unterdrücken, und er wird die Belarussen
       mit ziemlicher Sicherheit dazu zwingen, ebenfalls zu kämpfen. Besonders
       beunruhigend war, dass die russischen Soldaten auch von belarussischem
       Staatsgebiet in die Ukraine einfielen. Was sollten wir tun? Beim Nachdenken
       fielen uns unsere Pässe wieder ein: meiner war noch ein Jahr gültig, der
       von meiner Tochter noch zwei. Nur meine Frau hatte ihren noch für acht
       Jahre. Zwei Monate später waren wir alle mit neuen Pässen ausgestattet,
       einige Monate später dann mit Visa für die EU. Obwohl sie noch so neu sind,
       gilt meiner nur fünf Jahre. Der meiner Tochter läuft noch früher ab.
       
       Die neue Verordnung Lukaschenkos ist für meine Familie und für mich
       gefährlich – für einen belarussischen, männlichen unabhängigen Journalisten
       um die 30. An dem Tag, an dem ich diesen Text schrieb, erklärten die
       litauischen Behörden, dass sie Belaruss*innen bei Bedarf einen
       „Ausländerpass“ ausstellen könnten; auch Warschau bot Unterstützung an. Der
       Stab der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Vilnius spricht auch
       von einem Pass für Neu-Belarus. Aber das ist erst mal nur eine Theorie. Mit
       keiner dieser drei Möglichkeiten gibt es einen gleichwertigen Pass zu
       unserem jetzigen, im juristischen Sinne.
       
       Jetzt liegen unsere Pässe in einem extra dafür angeschafften
       Plastikordner. Und meine Frau hat noch eine Ikea-Plastikbox gekauft.
       Dorthinein kommt jetzt der Ordner, damit meine Tochter sie nicht einmal
       herunterholen und anmalen kann. Dürfte ich den Pass vielleicht bei einer
       Bank einschließen, bis zu dem Tag, an dem Belarus frei sein wird?
       
       Ihar Dzemiankou, Riga 
       
       Aus dem Russischen: Gaby Coldewey und Barbara Oertel
       
       24 Nov 2023
       
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