# taz.de -- Neues Album von Shirley Collins: Liebe, mehrere Oktaven tiefer
       
       > Einfach und direkt: Das Comeback der großartigen britischen Folksängerin
       > Shirley Collins geht mit dem Album „Heart's Ease“ weiter.
       
 (IMG) Bild: Konservatorin, aber nicht konservativ: Shirley Collins
       
       Das Aufregendste an Shirley Collins’ 2016 erschienenem Comeback-Album
       „Lodestar“ war, dass es überhaupt zustande kam. Was erst mal nichts über
       die Qualität der Musik aussagt, aber viel über die Umstände ihres
       Entstehens. Knapp vier Jahrzehnte nach dem abrupten Verstummen und
       Verschwinden der großen Dame des britischen Folk hatte wirklich niemand
       mehr mit einer neuen Veröffentlichung gerechnet.
       
       Seither ging es dann Schlag auf Schlag: Vom [1][gefeierten Dokfilm] über
       Collins’ ungewöhnliches Leben zum neuerlichen autobiografischen Buch, von
       umjubelten Comeback-Konzerten zu einem abermaligen neuen Album, wieder
       veröffentlicht beim Londoner Indie-Label Domino: „Heart’s Ease“.
       
       Die Frage drängt sich auf: Kann es ohne das Überraschungsmoment des
       Vorgängers bestehen? Vor der Antwort ein wenig Historie. Shirley Collins
       ist so etwas wie der Rosettastein des britischen Folk. Ab den späten
       1950ern entschlüsselt sie einer jungen Generation die jahrhundertealte
       britische Liedtradition. Schon als 17-Jährige singt sie in Londoner Clubs.
       
       ## Altes, vergessenes England
       
       Begleitet lediglich von einem Banjo trägt sie mit nüchtern kristallklarer
       Stimme uralte Songs über die Unbill der Fronarbeit auf dem Feld, die
       zeitlosen Wirren der Liebe und vor allem die Erzählungen aus einem
       seltsamen alten, beinahe vergessenen England vor. Viele dieser Traditionals
       kennen Shirley und ihre Schwester Dolly von Kind an. Mutter und Tante
       singen zu Hause die Lieder der Grafschaft Sussex, so wie es ihre Eltern
       zuvor getan haben und davor deren Eltern.
       
       Anderes wiederum bringt sie mit von einem abenteuerlichen Trip durch die
       USA, wo sie [2][Alan Lomax] 1959 hilft, die Lieder britischer
       US-Auswanderer aufzunehmen. „Wenn ich singe“, schreibt Shirley Collins
       viele Jahre später in ihrem Buch „All in the Downs“, „dann fühle ich
       frühere Generationen hinter mir.“ Ihren HörerInnen geht es ähnlich. Kurz
       die Augen geschlossen zu Collins-Alben wie „Love, Death & the Lady“ oder
       „False True Lovers“ und man rutscht zurück in der Zeit, viele Jahrzehnte,
       manchmal Jahrhunderte.
       
       Zugleich aber hilft Collins, [3][diese alte Musik in eine zeitgemäße
       Sprache zu übersetzen]. Gemeinsam mit dem fingerflinken und keinen
       Stilbruch fürchtenden Gitarristen Davy Graham nimmt sie 1964 das auch heute
       ziemlich atemberaubend klingende Album „Folk Roots, New Roots“ auf, das mit
       Einflüssen aus Jazz, Blues und der Musik des Nahen Ostens zum Türöffner für
       eine Welle neuer britischer Folkbands wird. Von Fairport Convention über
       die Incredible Stringband bis Pentangle werden sich KünstlerInnen
       zahlreicher Gruppen von Collins’ Experimentierfreude ermuntert gefühlt
       haben.
       
       ## Illustre Gratulantenschar
       
       Wie anhaltend ihr Einfluss noch immer ist, zeigen die Geburtstagsgrüße zum
       80. Geburtstag: Auf dem Tribute-Sampler „Shirley Inspired“ verbeugen sich
       von Blur-Gitarrist Graham Coxton über US-Freak-Folkies wie [4][Josephine
       Foster] bis zum Sonic-Youth-Gitarristen Lee Ranaldo unzählige freie Geister
       vor ihrem Werk.
       
       Und Shirley Collins selbst verbeugt sich ja auch vor den alten Liedern und
       vor denen, die sie über die Jahre gesungen haben. Sie sieht sich als Glied
       in dieser Ahnenreihe aus Stimmen. Weniger Interpretin als Konservatorin.
       Aus dieser Rolle leitet sie die Art ihres Vortrags ab: einfach und direkt,
       nie überzeichnet, ohne Dramatisierung.
       
       So gesehen unterscheidet sich die heute 85-jährige Collins nicht von der
       jungen Vorgängerin im Jahre 1960, auch wenn sie es klanglich sehr wohl tut.
       Um mehrere Oktaven ist Collins Stimme gesunken, deren eins helles Strahlen
       ist einer inzwischen tieferen Wärme gewichen. Und doch ist es weiter
       unüberhörbar Shirley Collins, die hier singt. Die plötzliche Stimmstörung,
       ausgelöst 1980 durch eine traumatische Trennung, hat Spuren hinterlassen,
       aber hat sie nicht zerstört.
       
       ## Natürliche Autorität
       
       Tatsächlich ist das in einem Studio entstandene „Heart’s Ease“ ein
       stärkeres Album als der noch im Homerecording aufgenommene Vorgänger. Die
       Spannbreite der zwölf Stücke reicht von einem bekannten Traditional wie
       „Barbara Allen“ über ein fast vergessenes Stück aus ihrer Zusammenarbeit
       mit Davey Graham („Sweet Greens and Blues“) bis zur herzrührenden
       Seemannsballade „Wondrous Love“. Mit natürlicher Autorität und tiefer
       Verbundenheit zu dieser Musik hält Collins’ Stimme das Dutzend zusammen.
       Ihre Backingband macht es ihr leicht mit sensiblen, nie die Stimme
       bestürmenden Arrangements.
       
       Wie weit das neue Selbstvertrauen dieser großen englischen Künstlerin geht,
       zeigt sich ganz zum Schluss. Wie eine dichte Nebelwand schiebt sich der
       flächige Hurdy-Gurdy-Drone des Finales „Crowlink“ aus den Boxen, und selbst
       an diesem experimentellen Schlusspunkt klingt Collins’ entfernt hallende
       Stimme auf frische Art souverän. Ihr nächstes Album kündigt Collins bereits
       abenteuerlustig an.
       
       11 Sep 2020
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://vimeo.com/ondemand/shirleycollinsmovie
 (DIR) [2] /Oral-tradierte-Hochkultur/!465905/
 (DIR) [3] /Neues-Album-von-Devendra-Banhart/!5621537/
 (DIR) [4] /Neues-Album-von-Josephine-Foster/!5080453/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gregor Kessler
       
       ## TAGS
       
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