# taz.de -- Neues Buch von Sahra Wagenknecht: Früher war alles besser
       
       > In „Die Selbstgerechten“ malt Sahra Wagenknecht die 70er-Jahre als
       > Heimstatt des Gemeinsinns. Und jagt die linksliberalen Gespenster von
       > heute.
       
 (IMG) Bild: Vorwärts in die Vergangenheit scheint Sahra Wagenknecht mit ihrem Buch zu steuern
       
       Die [1][US-Theoretikerin Nancy Fraser] hat in dem Bündnis von
       Neoliberalismus und Linksliberalen eine [2][Voraussetzung für den Aufstieg
       des Rechtspopulismus] identifiziert. Ein „dröhnender Dauerdiskurs über
       Vielfalt“, so Fraser, habe die Forderungen nach sozialer Gleichheit
       verdrängt. Die Linke müsse sich wieder sozialer Gerechtigkeit zuwenden,
       aber ohne Minderheitenrechte zu vergessen.
       
       Auch [3][Sahra Wagenknecht treibt die Frage] um, warum die
       gesellschaftliche Linke partout nicht mehrheitsfähig wird. Sie knüpft in
       ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ an Frasers Kritik an und
       radikalisiert sie bis zur Unkenntlichkeit. Denn bei ihr sind der giftige
       Neoliberalismus und der nur scheinbar menschenfreundliche Linksliberalismus
       fast das Gleiche.
       
       „Die linksliberale Erzählung ist nichts als eine aufgehübschte
       Neuverpackung der Botschaften des Neoliberalismus. So wurde aus Egoismus
       Selbstverwirklichung, aus Flexibilisierung Chancenvielfalt, aus
       Verantwortungslosigkeit gegenüber den Menschen im eigenen Land
       Weltbürgertum.“ Wagenknecht will soziale Gerechtigkeit und
       Minderheitenrechte nicht verbinden. Minderheitenrechte erscheinen hier als
       linksliberale Marotte, die auf dem Weg zum Ziel stören. Das ist eine sozial
       und ethnisch homogene Gesellschaft mit viel Gemeinsinn.
       
       Der Linksliberalismus, dessen toxische Wirkungen hier mannigfach besungen
       werden, bleibt dabei eine vage Erscheinung. Mal wird er [4][mit radikaler
       Identitätspolitik] gleichgesetzt, mal mit urbanen Milieus, mal mit allen
       Mitte-links-Parteien. So werden alle Katzen grau. Sogar Gerhard Schröder
       taucht mal als Stammvater der Lifestyle-Linken auf, die „hypersensible
       Rücksichtnahme in Sprachfragen“ mit der „Entfesslung von Renditemacherei“
       verbanden.
       
       ## Die EU als unbrauchbare Agentur des Neoliberalismus
       
       Da wird dem Ex-Kanzler, der Frauenpolitik für Gedöns hielt, zumindest zur
       Hälfe Unrecht getan. Wagenknecht wirft einen Panoramablick auf Staat,
       Demokratie und Wirtschaft und fragt, wie aus übler Gegenwart lichte Zukunft
       werden kann.
       
       Die EU erscheint als unbrauchbare Agentur des Neoliberalismus und soll zu
       einer „Konföderation souveräner Demokratien“ zurückgebaut werden. Diese
       Wortwahl erinnert an rechtskonservative EU-Skeptiker. Auch das Loblied auf
       den Nationalstaat als einziges Gefäß, in dem Gemeinsinn gedeihen kann, hat
       Schnittmengen mit konservativen Ideen. Das Gleiche gilt für die Ablehnung
       von Migration, die, so die These, sowohl in armen als auch in reichen
       Ländern Schaden anrichten würde.
       
       In der Welt, die uns hier als bessere empfohlen wird, haben Nationalstaaten
       das Sagen, die Ökonomie funktioniert eher national denn global. Und
       Migration gibt es kaum. Wagenknechts Arkadien ist eine Republik ohne
       Moscheen, Genderpolitik und Quoten und ähnelt stark der Bundesrepublik vor
       50 Jahren. Daran ändert auch die pflichtschuldige Anmerkung nichts, dass
       die Losung „Zurück in die Siebziger“ als „Zukunftsentwurf“ nicht so recht
       tauge.
       
       Wie sehr es die Autorin in die Vergangenheit zieht, zeigt ihr Bild des
       Wandels von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft. In den goldenen
       Zeiten des Industriekapitalismus wurden noch sinnvolle Produkte hergestellt
       und es regierten Tugenden wie „Arbeitsethos, Gründlichkeit, Zurückhaltung
       und Disziplin“. Die creative economy hingegen sei „nutzlos und vielfach
       schädlich“ und produziere bloß Marketing und Überwachungstechnologien.
       
       ## Konservative Verfallserzählung und Ungleichheitskritik
       
       Verfall also überall. In den ordentlichen 60er und 70er Jahren regierten
       noch [5][echte Volksparteien, und „Maß und Mitte“] galt noch etwas. Alles
       perdu. In dieser Deformationserzählung kommen auch die 68er nicht gut weg.
       Die seien „wohlhabende Bürgerkinder“ gewesen, die „den Leistungsgedanken
       verächtlich“ machten. Das wiederholt rechtskonservative Kritik der
       Studentenbewegung. So fließen konservative Verfallserzählung und
       Ungleichheitskritik zu einer Retro-Vision kommunitaristischer
       Gemeinschaftlichkeit zusammen.
       
       Recht paradox mutet dabei an, dass der Gemeinsinn, der hier als Heilmittel
       gegen Spaltungen beschworen wird, mit einer ätzenden, ja spalterischen
       Kulturkampf-Rhetorik gegen Linksliberalismus bewaffnet wird. Völlig aus dem
       Blick gerät, dass die Aushandlungsprozesse in einer individualisierten
       Gesellschaft, in der ein Viertel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat,
       komplexer sein müssen als in der BRD 1970.
       
       Wagenknecht ist eine eloquente Autorin. Doch auch das Nachdenkenswerte, wie
       die Skizze einer Marktwirtschaft mit strikt regulierten Eigentumsrechten,
       wird von einem sirrenden Pfeifton der Rechthaberei übertönt. Folgen wir der
       [6][Ex-Chefin der Linksfraktion], dann blockieren Minderheitenpolitik und
       eine Horde Moralapostel, die die Grünen, die SPD und [7][seit ihrem
       Rückzug] auch die Linkspartei gekapert haben, eine erfolgreiche
       gesellschaftliche Linke.
       
       „Fridays for Future“ und „unteilbar“ werden im Vorbeigehen als lächerliche
       Wohlfühlbewegungen von Bürgerkindern verhöhnt, [8][Coronaproteste hingegen
       mit freundlichen Worten] bedacht. Diese Sympathieverteilung ist für eine
       Spitzenpolitikerin der Linkspartei erstaunlich. Eine Bewegung fehlt dabei
       übrigens – [9][„Aufstehen“. Diese von Wagenknecht mit initiierte Bewegung]
       kam ihrem sozialkommunitaristischem Programm nahe und scheiterte kläglich.
       Warum? Dazu findet sich auf 345 Seiten kein Wort.
       
       Das Buch heißt „Die Selbstgerechten“. Wenn man den Plural streicht, ist
       dies ein zutreffender Titel.
       
       8 Apr 2021
       
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