# taz.de -- Ökoproteste in Serbien: Wenn Blockaden wirken
       
       > In Serbien gehen Zehntausende Menschen auf die Straße und besetzen
       > Infrastruktur, um zwei Gesetze zu verhindern. Vorerst mit Erfolg.
       
 (IMG) Bild: Protestierende in Belgrad am 4. Dezember. Präsident Vučić nennt sie „Terroristen“
       
       BELGRAD taz | Das hat es bisher nicht einmal im von Massendemos geprägten
       Serbien gegeben: An zwei Samstagen in Folge blockierten Demonstranten
       Straßen, Kreuzungen, Brücken und internationale Autobahnen in rund fünfzig
       Ortschaften. Dem Aufruf von Umweltorganisationen „das ganze Land zu
       blockieren“ folgten Zehntausende Bürger.
       
       Am Mittwochabend lenkte [1][Staatspräsident Aleksandar Vučić] vor den
       „Terroristen“ ein. Alle ihre Forderungen sollen erfüllt werden, sagte er in
       einer Ansprache an das Volk.
       
       Die Forderungen grüner Aktivisten waren einfach: das neue, bereits
       verabschiedete Referendumsgesetz zu ändern und das neue Enteignungsgesetz,
       das nur noch auf die Unterschrift des Staatspräsidenten wartete,
       zurückzuziehen. Letzteres sollte es bei einem Bauprojekt von „nationalen
       Interesse“ ermöglichen, Eigentum binnen zehn Tagen samt Klagefrist einfach
       zu verstaatlichen, wenn es im Wege steht.
       
       Das neue Referendumsgesetz wiederum sieht unter anderem hohe Gebühren für
       ein Volksbegehren vor. Laut Umweltorganisationen für serbische Verhältnisse
       so hoch, das sie de facto abschreckend wirken sollten.
       
       ## Das Milliardengeschäft von Rio Tinto
       
       Grüne Aktivisten beschuldigten die Regierung, die zwei Gesetze im Interesse
       ausländischer Firmen durchboxen zu wollen. In erster Linie geht es um Rio
       Tinto. Der umstrittene britisch-australische Bergbaukonzern ist ein rotes
       Tuch für alle Umweltschützer. Der Konzern möchte im Tal des Flusses Jadar
       im Westen Serbiens eine Lithiummine errichten – mit dem Boom von
       Elektroautos der derzeit wohl meist begehrte Rohstoff der Welt. Nahe der
       Stadt Loznica soll sich das viertgrößte Lithiumvorkommen in Europa
       befinden. Es geht um ein Milliardengeschäft, Rio Tinto hat schon
       investiert.
       
       Wissenschaftler und Umweltschützer warnen bei dem von der Regierung
       unterstützten Projekt vor erheblichen Umweltrisiken. Ab 2026 will Rio Tinto
       in Serbien jährlich 58.000 Tonnen Lithiumcarbonat produzieren. In der
       Jadar-Region könnte das zu einer Verseuchung der Grundwasserreserven
       aufgrund des hohen Arsengehaltes im Erz führen.
       
       Das Enteignungsgesetz könnte die Bauarbeiten beschleunigen und das
       Referendumsgesetz Manipulationen erleichtern, falls ein Volksbegehren über
       den Abbau von Lithium im Jadar-Tal entscheiden sollte. Die Anzahl der
       Bürger, die sich an den Blockaden beteiligten, schien die Behörden
       überrascht zu haben. Am zweiten Samstag waren es noch mehr.
       
       Auf die Straßen gingen nicht nur Naturliebhaber und Ökos, sondern alle
       Unzufriedenen, die ihren Frust loswerden wollten. Dort, wo oppositionelle
       Parteien zugrunde gerichtet werden, Medien gleichgeschaltet sind, das von
       Vučić’ Serbischer Fortschrittspartei dominierte Parlament für die
       Abrechnung mit Andersdenkenden missbraucht wird und wo die regierende
       Partei staatliche Ressourcen für Eigenwerbung und den Kampf gegen jede
       dissonante Stimmen verwendet, müsse sich der Unmut auf den Straßen
       entladen, erklärte die bekannte serbische Journalistin Vesna Mališić.
       
       ## Präsident Vučić pfeift die Polizei zurück
       
       Die Opposition und die wenigen kritischen Medien reden vom „geraubten
       Staat“. Nicht staatliche Institutionen, sondern Vučić und sein engster
       Umkreis würden demnach über alles entscheiden.
       
       Überraschend war auch, dass sich praktisch aus dem Nichts sehr viele junge
       Menschen an den Demonstrationen beteiligten, die bisher überhaupt kein
       Interesse für Politik oder gesellschaftlichen Aktivismus gezeigt hatten.
       Die Stimmung war kämpferisch. In einem politischen System, das auf
       Einschüchterung setzt, zeigten die jungen Menschen keine Angst, nahmen
       Prügel oder Festnahmen bewusst in Kauf. Sie seien bereit gewesen, wie sie
       selbst sagen, auch den [2][„Schlägertrupps von Vučić“] die Stirn zu bieten.
       
       Regimetreue Medien und staatstragende Politiker bezeichneten die
       Demonstranten als „faschistoide Terroristen“, „ausländische Söldner“, eine
       „Handvoll von Schurken“, die brave Serben terrorisierten. Einer direkten
       Konfrontation wich das Regime allerdings bisher aus. Der alles bestimmende
       Präsident Vučić pfiff die Polizei schließlich zurück, um größere Krawalle
       zu vermeiden.
       
       Vučićs Einlenken war ein taktischer Rückzug. Die Begründung: Nicht wegen
       des „Drucks der Straße“, tue er das, sondern weil brave Bürger im Jadar-Tal
       besorgt seien. Er ordnete der Regierung und dem Parlament an, seine
       Entscheidung gleich am Donnerstag umzusetzen. Die wurden tatsächlich gar
       nicht erst gefragt.
       
       Die „Causa Rio Tinto“ wurde vorerst aufgeschoben, auf einen Zeitpunkt nach
       den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, sowie den Belgrader Wahlen
       Anfang April. Es gab wohl die Befürchtung, dass die Konfrontation mit
       Demonstranten sich negativ auf das die Umfragewerte des Präsidenten und
       seiner Partei auswirken würde. Umweltaktivisten kündigten für Freitagabend
       eine große Siegesfeier in Belgrad an.
       
       10 Dec 2021
       
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