# taz.de -- Oper einer Komponistin: Zum Verlieben schön
       
       > Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin: „Heart Chamber“ von Chaya
       > Czernowin. Eine große Oper ohne all das, was sonst zu einer großen Oper
       > gehört.
       
 (IMG) Bild: Patrizia Ciofi auf der Treppe und träumend
       
       Es beginnt dem Solo eines Kontrabasses. Elektronisch verstärkt, wie alles,
       was hier noch zu hören sein wird, öffnet er einen akustischen Raum, in dem
       zweifellos komplizierte, dennoch unmittelbar erfahrbare Gesetze gelten. Uli
       Fussenegger, der Solist, erkundet die möglichen Klänge seines Instruments.
       Schwirrend hohe Flageoletts, schnarrende Tiefen, gezupft, mit dem Bogen
       gestrichen oder geschlagen, zu Clustern geschichtet, gleitende Kaskaden.
       
       Es ist wahrscheinlich irrsinnig schwer, so zu spielen, aber das Tempo ist
       so langsam, dass auch noch die kleinste Berührung irgend eines Teiles
       dieses Klangkörpers ein Ereignis ist, und zwar ein schönes. Nur dieses
       Adjektiv passt, alles andere sagte zu wenig. Es geht um Schönheit, nicht um
       avantgardistisch gemeinte, auf ästhetische Schocks zielende Effekte mit
       Geräuschen. Das Spiel mit dem Material des Klangs ist kein Experiment, es
       ist in sich vollendet.
       
       Ist es Musik? Das Solostück des Anfangs endet in genau zwei Tönen. Es folgt
       einer fest vorgeschriebenen Form, wie alles weitere an diesem Abend, der
       nur 90 hochkonzentrierte Minuten lang ist. Was es darin nicht gibt, sind
       Melodien, Harmonien und Rhythmen. Es gibt nur Tonhöhen, über das ganze
       hörbare Spektrum hinweggleitend, es gibt Schichtungen von Tönen, die
       manchmal wie harmonische Akkorde klingen. Aber es sind keine, sondern nur
       das vorübergehende Ergebnis linearer Sequenzen von Tönen und ihren
       charakteristischen Frequenzen. Sie schreiten pulsierend voran, mal
       schneller, mal stockender, durch Stille oder harte Einzelschläge
       unterbrochen, ein fester Rhythmus ergibt sich daraus nie.
       
       Geschrieben hat dieses Stück Chaya Czernowin, 1956 in Haifa geboren, heute
       unter anderem Professorin für Komposition an der Harvard University bei
       Boston, Massachusetts. Wenn der Kontrabass zu Ende gespielt hat, öffnet
       sich der Vorhang für die Bühne von Regisseur Claus Guth und Bühnenbildner
       Christian Schmidt. Vor einer schwarzen, weiß eingerahmten Wand sitzen links
       Patrizia Ciofi (Sopran) und Noa Frenkel (Alt), rechts mit weitem Abstand
       dazwischen Dietrich Henschel (Bariton) und Terry Wey (Countertenor).
       
       „Heart Chamber“ heißt das Werk. Den Text hat die Komponistin selbst
       verfasst und in die Partitur integriert. Im Untertitel soll es „An inquiry
       about love“ sein, was nicht ganz zutrifft. Über die Liebe und ihre ebenso
       tragischen wie komischen Dramen ist in der Oper vermutlich längst alles
       gesungen worden. Was aber fehlt, ist der Akt des Verliebens selbst –
       übrigens auch in der Psychologie und der Philosophie. Es ist keine
       Handlung, eher eine Infektion, schön ausgedrückt mit der Metapher
       „Schmetterlinge im Bauch“. Glück und Angst sind kaum zu unterscheiden, wir
       rufen uns zur Ordnung, geben doch nach und lächeln dabei so blöd, dass wir
       uns eigentlich schämen müssten. Aber wofür?
       
       ## Bienenschwarm und verrotzte Bläser
       
       Wir wissen es nicht, und nur darum geht es Czernowin, nicht um die Liebe,
       über die wir fast alles wissen. Es gelingt ihr, diesen notorisch blinden
       Fleck zum Klingen zu bringen, weil ihre Musik niemals ein womöglich auch
       noch dramatischer und zu Tränen rührender Ausdruck tiefer Gefühle sein
       kann. Sie ist materiell und konkret. In der Nachkriegsavantgarde gab es
       auch dafür Ansätze, bei Stockhausen, bei Ligeti und Lachenmann. Prägend
       blieben aber die formalen Reihen und ihr dialektisches Gegenteil, die
       Aleatorik. Dafür interessiert sich Czernowin überhaupt nicht, sie gräbt
       sich lieber immer weiter hinunter in die Tiefen des Klingens von was auch
       immer, der Singstimmen, der Instrumente.
       
       Sie hört überall Natur, nicht Gefühl. Minutenlang summt die elektronisch
       überarbeitete Feldaufnahme eines Bienenschwarms durch den Saal.
       Spezialisten des Elektronikstudios am SWR haben den Ton einzelner Blätter
       aufgenommen und gefiltert. Das Ergebnis ist ein narkotisiernd endlos
       pulsierendes Klappern, Rauschen und Wispern, das auf die Singstimmen
       antwortet, unterstützt von einem kleinen Solistenchor, einem Kammerensemble
       aus Klavier, Schlagzeug, E-Gitarre, Saxofon und dem kompletten
       Symphonieorchester der Deutschen Oper.
       
       Johannes Kalitzke, selbst Komponist, kennt die Arbeiten von Chaya Czernowin
       sehr gut und entlockt den oft schlecht gelaunten Damen und Herren im Graben
       wundersame Töne, die ihnen sonst verboten sind: klanglos am Steg
       gestrichene Glissandi der Streicher, verhauchte und verrotzte Bläser in
       allen Tonlagen. Claus Guth ist klug genug, dieses Universum der konkreten
       Materie durch kein Psychotheater des Liebesleids zu verkleinern. Es gibt
       nicht einmal Namen, nur „Sie“ und „Er“. Beide brauchen jedoch jeweils zwei
       Stimmen, weil der innere Konflikt des Verliebens sonst nicht darstellbar
       wäre. Angst, Verletzlichkeit, Lust, Erwartung und Glück überlagern sich so
       unentwirrbar wie die Zeichen in der Partitur. Sie sind alle da und immer
       zusammen hörbar.
       
       Die Drehbühne zeigt auf der Rückseite der schwarzen Wand einen modernen
       Beton-Bungalow mit Freitreppe. Sie und Er begegnen sich, singen sprechend
       mit ihrer einen Stimme, denkend mit der anderen. Einmal fällt sogar der
       Satz „Ich liebe dich“, aber das ist kein Höhepunkt, nur ein beiläufiges
       Ereignis wie alles andere auch. Guth zeigt dazu schwarz-weiße Videos von
       Straßen und Innenräumen, belebt von Paaren und Passanten ohne soziale
       Auffälligkeit, dazu Nahaufnahmen von Bienen, Händen, Gesichtern. Das ist
       gut, weil es nicht mehr ist als das optische Gerüst für eine extreme Musik,
       die gar nichts erklären oder verstehen will. Sie bringt die wortlose
       Verwirrung zum Klingen, die wir (hoffentlich) alle kennen. Es ist zum
       Verlieben schön. Und große Oper außerdem. Begeisterter Applaus nach der
       Premiere vom Freitag.
       
       17 Nov 2019
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Niklaus Hablützel
       
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