# taz.de -- Pisa-Schock für deutsche Schüler:innen: Im freien Fall
       
       > Neuntklässler:innen schneiden in der Pisa-Studie so miserabel ab wie
       > noch nie – in allen getesteten Bereichen. Corona erklärt den Trend nur
       > zum Teil.
       
 (IMG) Bild: Unterricht an einem Gymnasium in Neustrelitz während der Coronapandemie 2020
       
       BERLIN taz | Viel zu beschönigen gibt es nicht für die Präsidentin der
       Kultusministerkonferenz (KMK) an diesem Dienstagvormittag: „Die Befunde
       können uns natürlich nicht zufriedenstellen“, sagt Katharina Günther-Wünsch
       zu den Ergebnissen der neuen Pisa-Studie. „Wir müssen uns jetzt den
       Konsequenzen stellen.“ Die CDU-Politikerin und Berliner Bildungssenatorin
       hat soeben mitanhören müssen, wie die Pisa-Projektleiterin für Deutschland
       die verheerenden Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudie 2022
       vorgestellt hat.
       
       Und die sind tatsächlich drastisch: In keiner vorherigen Untersuchung
       schnitten deutsche Neuntklässler:innen so schlecht ab wie dieses Mal.
       Und das in allen drei getesteten Bereichen: Mathematik, Lesen,
       Naturwissenschaften. Von einem „Abfall in nie da gewesenem Ausmaß“ spricht
       Francesco Avvisati, einer der Autoren der Studie.
       
       Am stärksten abgesackt ist die durchschnittliche Punktezahl in Mathe, dem
       Bereich, der bei dieser Studie im Fokus stand: In allen vorherigen
       Pisa-Tests erreichten die deutschen Schüler:innen im Schnitt mindestens
       500 Punkte – nun 475. Auch die Leistungen in Lesen (480) und
       Naturwissenschaften (492) sind im Vergleich zur letzten Studie 2018
       deutlich gesunken. Die Einbußen entsprechen in etwa dem Lernstoff eines
       ganzen Schuljahres. Mit diesen Ergebnissen liegt Deutschland im
       Durchschnitt der teilnehmenden OECD-Länder. Nur in den Naturwissenschaften
       schneidet Deutschland leicht besser ab. Zum Vergleich: Spitzenreiter
       Singapur erreicht im Lesen 543 und in Mathe sogar 575 Punkte.
       
       Zu den Ursachen für das schlechte Abschneiden äußern sich die
       Autor:innen zurückhaltend. Die Pandemie dürfte die Ergebnisse aber
       beeinflusst haben, sagt OECD-Experte Avvisati. In Deutschland sei es zu
       monatelangen Schulschließungen gekommen, die Schulen seien auf den
       Distanzunterricht schlecht vorbereitet gewesen. Auch KMK-Präsidentin
       Günther-Wünsch verweist auf die hohen Lernrückstände wegen der Pandemie.
       „Corona alleine kann aber nicht alles erklären“, betont Avvisati.
       Schließlich war der negative Trend an deutschen Schulen schon vorher zu
       sehen.
       
       Das sieht man auch bei dem großen Anteil von Schüler:innen, die die
       Basiskompetenzen verfehlen. In Lesen und Naturwissenschaften ist das
       mittlerweile rund jeder vierte, in Mathe sogar fast jeder dritte. In den
       letzten zehn Jahren ist diese Gruppe in allen drei Fächern um rund elf
       Prozent gewachsen. Die obersten beiden der insgesamt sechs Niveaustufen
       erreichten nur je zwischen acht und zehn Prozent der Schüler:innen und
       damit jeweils weniger als noch vor zehn Jahren. Die Leistungsstarken werden
       also weniger und die Leistungsschwachen, die selbst grundlegende Aufgaben
       nicht lösen können, immer mehr.
       
       Was aber gleich geblieben ist: Ob jemand gut oder schlecht abschneidet,
       liegt vor allem am sozialen und wirtschaftlichen Hintergrund der
       Schüler:innen. Die Leistungen zwischen Jugendlichen der sozialen Ober- und
       Unterschicht klaffen weit auseinander, zum Teil stärker als in der
       Vergangenheit. Als „Skandal“ bezeichnete das die Bildungsgewerkschaft GEW.
       Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, deren Anteil mittlerweile 39
       Prozent beträgt, schneiden deutlich schlechter ab als solche ohne.
       
       Ähnliche Befunde haben in den vergangen Monaten auch schon die Iglu-Studie
       für Grundschulen und die IQB-Bildungstrends für die vierte bzw. neunte
       Klasse gezeigt. Manche Bildungspolitiker:innen gaben sich deshalb am
       Dienstag wenig überrascht: „Die Ergebnisse waren zu erwarten“, sagte etwa
       der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD) zu den Pisa-Ergebnissen.
       
       Auch für Bildungsforscher Kai Maaz kommen sie nicht komplett unerwartet.
       Dass deutsche Schüler:innen in allen Bereichen so schlecht abschneiden,
       hätte Maaz aber nicht angenommen. Neben der Pandemie und der gestiegenen
       Heterogenität in Klassen sieht Maaz noch weitere Gründe für das schlechte
       Abschneiden. „Jahrelang hat die Politik den Fokus ausschließlich auf die
       Unterrichtsqualität gelegt, ohne Schule als Ganzes zu betrachten“, sagt
       Maaz zur taz. Etwa Konzepte zur Sprachförderung: Das seien gute Programme.
       Offenbar reiche guter Unterricht allein aber nicht mehr aus, um alle
       Schüler:innen mitzunehmen.
       
       Als Beispiel nennt Maaz das Bundesprogramm „Schule macht stark“, das er
       wissenschaftlich begleitet. „Ich höre oft von Schulleitungen: Was bringt
       mir mehr Mathe, wenn die Schüler nicht im Unterricht erscheinen“. Aus
       seiner Sicht müsste die Politik ihr Augenmerk stärker auf die
       Schulentwicklung richten. Mit dem „Startchancenprogramm“, das Bund und
       Länder zur Unterstützung von Brennpunktschulen auflegen wollen, besteht für
       Maaz nun „die einzigartige Möglichkeit, Schulen systemisch zu entwickeln
       und Maßnahmen der Unterrichtsentwicklung mit denen der Schulentwicklung
       kohärent zu verzahnen“.
       
       Als zweiten Punkt nennt der Geschäftsführende Direktor des
       Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation den Ausbau
       der frühkindlichen Förderung. Bei Kitas stehe der Bildungsauftrag bislang
       oft nicht im Zentrum der Debatten: „Wir drehen uns viel stärker um die
       Frage, ob wir den bestehenden Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einlösen
       können.“ Hier brauche es ein Umdenken in der Politik, etwa über
       verbindliche Sprachtests im Kita-Alter und eine entsprechende verbindliche
       Förderung. Bisher ist das so erst in Hamburg und Berlin der Fall.
       
       Auch die Autor:innen der Pisa-Studie sehen hier Handlungsbedarf. „Wir
       brauchen eine systematische, bedarfsgerechte Förderung von Kindern bereits
       im Vorschulalter“, sagt Doris Lewalter, die nationale Pisa-Projektleiterin,
       bei der Studienvorstellung. Weiter empfiehlt sie der Politik, die
       Ressourcen an Schulen „bedarfsgerecht“ zu verteilen und Unterrichtsangebote
       weiterzuentwickeln, um Jugendliche zum Lernen zu motivieren.
       
       Bei den Bildungspolitiker:innen stoßen diese Forderungen weitgehend
       auf offene Ohren. KMK-Präsidentin Günther-Wünsch räumt ein, dass das
       Bildungssystem bundesweit eine gezielte Sprachförderung brauche, „die in
       der Frühen Bildung ansetzt und die Lernenden begleitet“. Auch wiederholt
       sie, was die Bildungsminister:innen schon als Reaktion auf die
       Grundschulstudie Iglu im Frühling verlauten ließen: Nämlich, dass sich die
       Schulen künftig stärker auf die Basiskompetenzen konzentrieren sollen.
       
       Ob dafür ausreichend Lehrer:innen und andere Fachkräfte zur Verfügung
       stehen, wie Lehrerverbände und Gewerkschaften anmahnen, steht allerdings
       auf einem anderen Blatt.
       
       5 Dec 2023
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Pauli
       
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