# taz.de -- Polnischer Aktivist über LGBTI*-Szene: „Wir sind die Zivilgesellschaft“
       
       > Nach der Wiederwahl Andrzej Dudas stehen der LGBTI*-Szene Polens harte
       > Jahre bevor. Der Philosoph Tomasz Kitlinski hofft auf die Kulturarbeit.
       
 (IMG) Bild: Tanz und Protest im Regen: Demo der Warschauer LGBTI*-Community in Warschau
       
       taz: Herr Kitlinski, Sie kämpfen schon vielen Jahre in Ihrem Heimatland
       insbesondere um LGBTI*-Rechte. Was bedeutet das Resultat der polnischen
       Präsidentschaftswahlen für die queere Szene? 
       
       Tomasz Kitlinski: Nichts als eine totale Katastrophe. Einerseits, denn der
       sehr knapp gewählte alte und neue Präsident hat sich ja in seinem Wahlkampf
       explizit gegen queere Menschen positioniert. Andererseits, das mag paradox
       klingen: Das Ergebnis von Anfang Juli stimmt uns auch optimistisch – weil
       es bedeutet, dass unser kreativer Kampf um Menschenrechte, Liebe und
       Demokratie nicht resonanzlos blieb, im Gegenteil.
       
       Womit hat Andrzej Duda agitiert? 
       
       Er hat uns mit seiner Kampagne entmenschlicht. Menschenrechte für uns seien
       Idiotismen, sagte etwa der Spitzenabgeordnete der regierenden Partei PiS,
       Przemysław Czarnek. Was mich besorgt, ist, dass der Sieg Dudas wie eine
       Schockwelle für autoritär geführte Länder Ungarn, Russland und die Türkei
       wirken könnte – wie eine Ermutigung für Orbán, Putin und Erdoğan.
       
       Und wie gehen Sie persönlich mit weiteren fünf Jahren eines PiS-Präsidenten
       um? 
       
       Indem ich mir folgende Frage stelle: Wo ist die Zivilgesellschaft Polens?
       In der LGBTI*-Gemeinschaft! Und wo ist das „Gewissen der Menschheit“? In
       uns! In meinen Freund*innen, in mir, in allen, die eine freie Gesellschaft
       wollen.
       
       Gibt es nach einigen Jahren an PiS-Regierung überhaupt noch eine queere
       Infrastruktur und Öffentlichkeit? 
       
       Die lokale Kultur ist die LGBTI*-Szene – die lokale, die mit der
       internationalen eng verbunden ist. Trotz vieler Bemühungen, ja, horriblen
       Wünschen der PiS-Politiker kann sie nicht zerstört werden. Wir sind
       miteinander verbunden, wir bilden die Zivilisation in meinem Land.
       
       Wie zeigt sich diese Kultur? 
       
       Die Kulturarbeit ist die wichtigste für eine*n Outsider*in. Polen hat eine
       lange Tradition der LGBTI*-Ausstellungen, bei manchen war mein Mann Pawel
       Leszkowicz Kurator: „Sollen sie uns doch sehen“, „Liebe und Demokratie“,
       „Ars Homo Erotica“ und „Liebe ist Liebe“ – so hießen die Projekte. Derzeit
       kann man in der Lubliner Galerie Labirynt die Ausstellung „Wir sind Leute“
       gegen die Dehumanisierung während der Kampagne sehen, kuratiert von
       Waldemar Tatarczuk.
       
       Und politische Gruppen? 
       
       Auch NGOs sind sehr aktiv: Grupa Stonewall, Kampagne gegen Homophobie,
       „Liebe soll inklusiv sein“, die „Fundacja Marsz Równości w“ … Und an
       polnischen Universitäten werden Queer Studies angeboten. An der
       Adam-Mickiewicz-Universität in Posen gibt es sogar eine Vereinigung von
       Lehrenden und Forschenden aus dem queeren Spektrum.
       
       Und das antiqueere Spektrum? 
       
       Das hat jetzt noch viele Jahre Zeit, sein Werk fortzusetzen – uns unhörbar
       zu machen, ja, manche fantasieren sogar, uns auszulöschen, wie das auch im
       Russland Wladimir Putins passieren soll. Homophobe führen ihren Krieg mit
       juristischen Waffen – etwa die LGBTI*-phobische Gruppe „Ordo Iuris“, die
       die Filmregisseurin Agnieszka Holland verklagt hat. Auch mir droht eine
       Strafanzeige, ich könnte mit zwei Jahren rechnen, weil ich mich gegen einen
       antisemitischen, frauenfeindlichen, antiukrainischen, islamfeindlichen und
       homophoben Politiker ausgesprochen habe.
       
       Wer war das? 
       
       Przemysław Czarnek, Gouverneur der Region Lublin. Lublin ist die Stadt, in
       der ich lebe und an der Maria-Sklodowska-Curie-Universität lehre und
       forsche. Ich bin Spezialist für politische Philosophie, und ich habe es
       gewagt, mich offen gegen die Hassreden dieses extremen Politikers
       auszusprechen, der die regierende rechte PiS-Partei vertritt. Ich bin in
       der konservativen Region zum Sündenbock für alle progressiven Anliegen
       gemacht worden, die von den Ultranationalisten verachtet werden. Und ich
       fühle mich persönlich bedroht. Indem sie mich beschuldigen, wollen sie auch
       ein Signal der Intoleranz an die breite Bevölkerung senden.
       
       Was war passiert? 
       
       Am 12. Oktober vorigen Jahres wurde Herrn Czarnek die Medaille Amicis
       Universitatis Mariae Curie-Skłodowska verliehen. Diese prestigeträchtige
       Auszeichnung wurde also einem Beamten verliehen, der sich offen gegen
       Ukrainer und Muslime ausspricht, Geschlecht als Ideologie darstellt, zu
       Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und insbesondere Homophobie aufruft. Er war
       maßgeblich an der Erklärung der Region Lublin zur LGBT-freien Zone
       beteiligt. Ich musste, sonst hätte ich nicht mehr ruhig schlafen können,
       meine Ablehnung seiner Ideologie des Hasses offen erklären.
       
       Sie hätten auch ruhig bleiben können. 
       
       Und genau das wollte ich nicht – zu schweigen nützt den Homophoben, weil
       sie denken, dass sie mit ihrem Hass durchkommen. Ich schrieb einen
       öffentlichen Brief, in dem ich Czarneks intolerante, bigotte Ansichten
       zitierte, und ich stellte auch die Entscheidung des Universitätspräsidenten
       in Frage, diesen Politiker aufgrund seiner obligatorischen öffentlichen
       Geldspenden an die Universität zu ehren.
       
       Können sich in Polen zwei Männer oder Frauen öffentlich Hand in Hand
       zeigen? 
       
       Nein, keine Diskussion, nein.
       
       Sollte es ein Strafdelikt des Hassverbrechens geben? 
       
       Dies ist die wichtigste Frage, gewichtiger als die Frage der
       Lebenspartnerschaft oder der Ehe für alle – obwohl ich immer darauf
       bestanden habe, dass für uns nur die Ehe als Ziel infrage kommt, die
       Lebenspartnerschaft markiert ja eine Art Ersatz. Ein Delikt
       „Hassverbrechen“ wäre relevant – aber da mache ich mir keine Illusionen:
       Das wird es zu unseren Gunsten und anderer Bedrohter in Polen nicht geben,
       solange die PiS die Fäden in der Hand hält.
       
       Was erwartet ihr von liberaleren Ländern wie Deutschland? 
       
       Kooperationen wie vor Jahren, als aus Berlin queere Menschen kamen, um am
       CSD teilzunehmen. Wir benötigen Zusammenarbeit mit Universitäten, mit
       zivilgesellschaftlichen Projekten – und wir brauchen Besuche, so dass wir
       nicht allein bleiben. Lassen wir die Gastfreundschaft leben, eine alte
       Tradition in meinem Polen!
       
       Dieses Interview erschien in der Verlagsbeilage taz thema CSD.
       
       27 Jul 2020
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jan Feddersen
       
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