# taz.de -- Popmusik aus Haiti: Politisch unterdrückt, musikalisch frei
       
       > Übersteuerte E-Gitarren und Todesschwadrone: Ein exquisites Doppelalbum
       > beleuchtet die haitianische Popmusik der 60er und 70er.
       
 (IMG) Bild: Geprägt von einer Freigeistigkeit, die das politische Klima der Zeit zu verspotten schien: Les Loups Noirs.
       
       Die Onlineauktionen fungieren mal wieder als Frühwarnsystem. Umgerechnet 40
       Euro für ein Originalalbum von Les Fantaisistes de Carrefour, stolze 72
       Euro für ein Werk von Les Pachas du Canapé-Vert, gar 140 Euro für eine
       Compilation von Les Shleu-Shleu – was bricht da gerade wieder für ein
       Wahnsinn los?
       
       Die „Sofort kaufen“-Preise, die derzeit für Vinyl aus dem Goldenen
       Zeitalter der haitianischen Musik aufgerufen werden, zeigen vor allem, dass
       Hugo Mendez ganze Arbeit geleistet hat. Der Betreiber des Londoner Labels
       und Soundsystems Sofrito hat für die Kollegen von Strut Records die
       Doppelalbum-Compilation „Haiti Direct – Big Band, Mini Jazz & Twoubadou
       Sounds 1960–1978“ zusammengestellt.
       
       Jetzt wollen die hungrigen Musikgourmets mehr Futter. Ist in den
       Nachrichten oder im „Weltspiegel“ von Haiti die Rede, geht es eigentlich
       immer um Katastrophen: das Erdbeben im Januar 2010 und die nachfolgende
       Cholera-Epidemie, das Terrorregime von Papa Doc Duvalier und später seinem
       Sohn Baby Doc, Umweltkatastrophen, bürgerkriegsähnliche Unruhen, schwere
       Wirtschaftskrisen – das Leben im einstmals reichsten amerikanischen Land
       ist notorisch von Mühsal und Plage gekennzeichnet.
       
       Seltsamerweise erweckt die Musik auf „Haiti Direct“ einen so ganz anderen
       Eindruck. Der hier berücksichtigte Zeitraum ist geprägt von der Diktatur
       der Duvaliers, die eine auf Korruption und Vetternwirtschaft basierende
       Kleptokratie installierten und mit ihren Todesschwadronen Angst und
       Schrecken verbreiten ließen. Dennoch bedienen die meisten Songs zumindest
       an der Oberfläche auch die Klischees einer frohsinnigen afrokaribischen
       Partymusik, wie man sie ähnlich aus Trinidad, Kuba oder Puerto Rico kennt.
       Aber das ist nur ein Teil der Geschichte.
       
       ## Monströs übersteuerte E-Gitarre
       
       Man nehme einen Track wie „Pile ou face“ von Les Loups Noirs,
       veröffentlicht 1972: ein irrer Jam, in dem eine monströs übersteuerte
       E-Gitarre und eine Spielzeugorgel unter einem Trommelfeuer diverser
       Percussioninstrumente um die Wette immer noisiger werden, bis der Vokalist
       alle in die Schranken weist, indem er herumkreischt, als würde ihn der
       Leibhaftige auf kleiner Flamme rösten.
       
       Wurde da ein Voodoo-Ritual in die Aufnahme hineingekreuzt? Nein, das ist
       psychedelisch informierte Spaßmusik mit hohem Jazzanteil, geprägt von einer
       künstlerischen Freigeistigkeit, die das politische Klima jener Jahre zu
       verspotten scheint: Das ist Mini-Djaz.
       
       Aber blenden wir ein paar Jahre zurück. Zu Beginn der fünfziger Jahre ist
       Haiti musikalisch nicht auffälliger als die meisten anderen Karibikinseln
       und wird wie die ganze Karibik von kubanischen Stilistiken, vom Calypso und
       vielleicht noch ein wenig vom Biguine der frankophonen Karibik-Kollegen
       Martinique und Guadeloupe geprägt. Neben den rituellen Rara-Rhythmen ist
       die einzige Besonderheit der Meringue, den man als nationales Erbe
       beansprucht. Den Nachbarn aus der Dominikanischen Republik, die ihn
       Merengue nennen und ebenfalls als ihre ureigenste künstlerische
       Hervorbringung für sich reklamieren, wirft man Epigonentum oder gleich
       Diebstahl vor.
       
       Die Legende will es, dass an einem Tag des Jahres 1955 der Orchesterleiter
       Nemours Jean-Baptiste seinen Musikern verkündete, dass er heute gerne etwas
       Neues ausprobieren wolle. Seine Idee war, einen langsamen Meringue mit
       einem anderen, noch langsameren Rhythmus zusammenführen, wobei die
       Bläserarrangements sich aber perfekt ergänzen sollen mit den ineinander
       verschmolzenen Parts der Gitarren, des Schlagzeugs und der Percussions. So
       ähnlich, so wolkig, liest man es in verschiedenen Quellen.
       
       Jedenfalls brachte Jean-Baptistes Gruppe einen neuen Sound hervor, der als
       „Konpa dirèk“ (haitianisches Kreyòl: direkter Beat) in Haiti immens populär
       wurde und zur Basis für diverse Experimente und Exkursionen in den
       kommenden zwei Jahrzehnten wurde. Die erste maßgebliche Variante war der
       „Kadans rampa“ des abtrünnigen Jean-Baptiste-Zöglings Webert Sicot, der
       perkussiver und kubanischer war und schnell eine ähnlich große Popularität
       wie der Konpa dirèk erreichte.
       
       ## Ende der 60er beginnt der Mini-Djaz
       
       Beide Bands bekämpften sich erbittert, teilweise auch via Songtexte, und
       die Fangruppen pflegten eine Rivalität, die der von Fußballfans gleichkam.
       Doch mittlerweile sind wir in den sechziger Jahren angelangt und wie
       überall auf der Welt hinterlassen auch auf Haiti die Beatles einen starken
       Eindruck. Prompt tauchte ein neues Genre auf: Yeye. Leider wird es auf
       „Haiti Direct“ komplett ausgespart, vielleicht hat es aber auch keine
       vergleichbar interessanten Resultate hervorgebracht. Oder die neuen
       Einflüsse wurden gleich genutzt, um etwas neues Eigenes aufzubauen.
       
       Ende der sechziger Jahre beginnt die Zeit des Mini-Djaz. Warum mini? Weil
       der Mini-Rock wichtiges modisches Accessoire der (weiblichen)
       Mini-Djaz-Fans war. Und weil die Bands deutlich kleiner als die Big Bands
       des Konpa dirèk und des Kadans rampa waren.
       
       Das Instrumentarium von Les Shleu-Shleu (deren Leadsänger den schönen Namen
       Hans Cherubin trug), Les Fantaisistes de Carrefour oder Les Ambassadeurs
       glich dem der psychedelischen Rockbands jener Zeit. Es wird jedoch anders
       eingesetzt, anders auch als etwa in der lateinamerikanischen Psychedelik.
       Die Gitarristen stehen zwar im Zentrum, aber ihr Spiel ist eher von
       Highlife und Wes Montgomery als von Jimi Hendrix und Eric Clapton
       inspiriert. Selbst die Verzerrung ist nicht eine wohldosiert eingesetzte
       Schattierung aus der Klangpalette, sondern der Not des Lautspielens
       geschuldet.
       
       Anders als im Rest Lateinamerikas und der Karibik spielte die E-Gitarre in
       Haiti allerdings auch schon vorher eine tragende Rolle – nicht zuletzt dank
       Nemours Jean-Baptiste und seinem Konpa dirèk. Man sieht, dass die Musik auf
       Haiti ähnliche Kreolisierungsprozesse durchlief wie die Sprache (der auf
       Mini-Djaz folgende Stil wurde „Nouvel generasyon“ genannt). Hierin liegt
       auch der eigentliche Zauber dieser Musik, dieser Entwicklungen, die genau
       wie Sprachentwicklung auch durch die widrigsten Lebensverhältnisse nicht zu
       bremsen ist.
       
       Und wenn Hugo Mendez ein Vorwurf zu machen ist, dann der, dass er in seinen
       Linernotes die französischen Benennungen und Schreibweisen denen des
       haitianischen Kreyól vorzog.
       
       23 Mar 2014
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Detlef Diederichsen
       
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