# taz.de -- Pressefreiheit in Russland: Alles „Agenten“ und „Spione“
       
       > Seit dem Angriff auf die Ukraine schüchtert Russland Journalist*innen
       > massiv ein. Unsere Autorin stellt sich täglich die Frage: Gehen oder
       > bleiben?
       
 (IMG) Bild: Der „Wall Street Journal“-Reporter Evan Gershkovich bei einer Anhörung am 18. April
       
       MOSKAU taz | Russland-Berichterstattung ist oft eine
       Gerichtsprozess-Berichterstattung. Ein Mensch in Richterrobe verliest die
       Klageschrift, als ob jemand hinter ihm her wäre. Im sogenannten Aquarium,
       einem Käfig aus Glas, läuft währenddessen der Angeklagte seine kleinen
       Runden, als wäre er ein verletztes Tier im Zoo. [1][Evan Gershkovich] hat
       einige solcher Prozesse erlebt.
       
       Der US-Amerikaner war vor fünf Jahren als Reporter nach Moskau gekommen.
       Seine Eltern hatten einst die Sowjetunion verlassen, ihre beiden Kinder an
       der amerikanischen Ostküste dennoch mit [2][russischen Büchern] erzogen.
       Der 31-Jährige wollte [3][Russland] verstehen. Oft war er auf Achse, hat
       über Proteste auf Mülldeponien geschrieben, über aussterbende Sprachen im
       riesigen Land, und ja, auch über etliche Gerichtsprozesse von
       Andersdenkenden.
       
       Im April schlich Evan Gershkovich selbst wie ein verletztes Tier durch ein
       Moskauer Gerichts-Aquarium. Der russische Staat wirft dem Korrespondenten
       des Wall Street Journal „Spionage“ vor, eine Beschuldigung, die zu 20
       Jahren Freiheitsentzug führen könnte.
       
       20 Jahre Haft, weil der Journalist in einem Land seiner Arbeit nachgegangen
       ist, das Krieg führt und diesen offiziell nicht so benennen will. Der Fall
       Gershkovich trifft alle westlichen Korrespondent*innen, die in Moskau leben
       und arbeiten, ins Mark. Es stellt sich wie so oft seit dem 24. Februar 2022
       die Frage: „Gehen oder bleiben?“ Ich schreibe seit mehr als fünf Jahren aus
       und über Russland. Es ist mein zweiter Aufenthalt als Korrespondentin in
       Moskau. Auch ich stelle mir täglich diese Frage.
       
       ## Menschen schweigen aus Angst
       
       Kann ich hier noch weiter arbeiten und mit meiner Familie leben? Gefährde
       ich unser Kind? Bringe ich meine Gesprächspartner*innen noch weiter in
       Gefahr? Ertrage ich meine eigenen Ängste und die Schuldgefühle, wenn ich
       das Kind ganz erstarrt auf einem Sitz am Flughafen sehe, weil es erlebt,
       wie die Eltern vom Grenzschutz festgehalten werden – weil der Geheimdienst
       noch „zusätzliche Fragen“ stellen will? Wie stehe ich, oft selbst mit
       Emotionen wie Trauer, Wut, Hilflosigkeit kämpfend, dem Kind bei, wenn es
       auf einen Schlag Dutzende von Freunden verliert?
       
       Immer mehr Bereiche werden unzugänglich – weil der Staat sie für
       Journalist*innen versperrt und weil viele Menschen aus Angst schweigen.
       Und doch: Die Nuancen des Lebens, die Stimmung in der Gesellschaft, die
       Klagen, die Unzufriedenheit, die kleinsten Veränderungen, sie werden erst
       im Land selbst ersichtlich. Für alle westlichen Journalist*innen
       bedeutet ein Verbleib in Russland eine Art „Fahren auf Sicht“.
       
       ## Heimat ohne Freiheit oder Freiheit ohne Heimat
       
       Auf dem [4][Index der Pressefreiheit, den Reporter ohne Grenzen] jährlich
       veröffentlicht, liegt Russland auf Platz 155 von 180 und damit fast
       gleichauf mit Staaten wie Pakistan und Afghanistan. 61 russische Medien und
       129 russische Journalist*innen hat der russische Staat mittlerweile zum
       „ausländischen Agenten“ erklärt.
       
       Knapp 320 unabhängige russische Medien sind im Land blockiert und lassen
       sich lediglich über einen VPN-Zugang lesen, der die Informationen durch
       einen verschlüsselten virtuellen Tunnel leitet. Doch russische Behörden
       sind mittlerweile auch geübt darin, zahlreiche VPN-Tunnel zu stören.
       
       „Die schmutzigen Tricks des Staates werden nicht weniger. Und doch halte
       ich es für wichtig, hier zu sein, an einem Ort, wo grundlegende Sachen
       passieren, fürs Auditorium, das hier ist“, sagt der russische Journalist
       Wassili Polonski, der weiterhin aus Moskau berichtet.
       
       Polonski hat einst für den unabhängigen TV-Sender Doschd gearbeitet. Doschd
       ist mittlerweile in Europa stationiert, seine Homepage ist in Russland
       gesperrt, etliche Doschd-Journalisten sind zu „ausländischen Agenten“
       erklärt worden. Später war er für Nowaja Gaseta im Einsatz. Die Zeitung hat
       längst keine Medienregistrierung mehr in Russland. Polonski berichtet
       mittlerweile für ihren europäischen Ableger, allen Risiken zum Trotz.
       
       Auch Dmitri Muratow, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Nowaja
       Gaseta, weiß, wie schwer es für alle unabhängigen russischen
       Journalist*innen ist, sich zu entscheiden, ob sie in Russland bleiben
       oder aus dem Ausland berichten wollen. „Heimat ohne Freiheit oder Freiheit
       ohne Heimat – das ist ein Dilemma.“
       
       2 May 2023
       
       ## LINKS
       
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