# taz.de -- Rechter Mord an Ramazan Avcı: Eine Tat, die politisierte
       
       > Ende 1985 prügeln Rechte auf Ramazan Avcı ein, an Heiligabend stirbt er.
       > Avcı ist ein Opfer in einer Reihe rassistischer Gewaltakte in der alten
       > BRD.
       
 (IMG) Bild: 11. Januar 1986: 15.000 Menschen demonstrieren nach dem Mord am 26-jährigen Ramazan Avcı
       
       Ein Platz vor dem Hamburger S-Bahnhof Landwehr trägt seinen Namen: Ramazan
       Avcı. An dem Platz erinnert ein kleiner Gedenkstein an die Ermordung von
       Avcı hier in Hamburg-Eilbek durch rechtsextreme Skinheads vor 35 Jahren. Im
       kollektiven deutschen Gedächtnis ist der Tod des werdenden Vaters, der
       seinen Sohn nie kennenlernte, kaum präsent.
       
       Die Geschichte des rechten Terrors ist lang. Die Geschichte der politischen
       Relativierung der Täter mindestens genauso lang. Ebenso die Geschichte der
       mangelnden Empathie für die betroffenen Familien und Freunde. Avcı ist
       eines der ersten Opfer rassistischer Gewalt in der alten Bundesrepublik, er
       ist eines der vielen fast vergessenen Opfer nach der Wiedervereinigung.
       
       Am 21. Dezember 1985 war Avcı mit seinem Bruder und einem Freund in Hamburg
       unterwegs, um ein Auto zu verkaufen. Mit dem Geld wollte der 26-Jährige
       eine Babyausstattung erwerben. Zu Hause wartete die hochschwangere Verlobte
       [1][Gülüstan Avcı], die den Nachnamen ihres Verlobten nicht mehr annehmen
       konnte, so aber benannt werden möchte. Am S-Bahnhof stieß die Gruppe auf
       rechtsextreme Skinheads, die regelmäßig in den Bahnhofstuben verkehrten.
       
       Zuerst pöbelten die Rechtsextremen die drei an, dann stürmten etwa 30
       Rechte aus ihrer Stammkneipe auf sie zu. Mit Reizgas konnte Avcı den ersten
       Angriff abwehren. Die Angreifer zogen sich zurück, bewaffneten sich in der
       Kneipe und griffen erneut an. Avcı rannte auf die Fahrbahn, wurde von einem
       Auto erfasst. Die Rechten schlugen auf den Verunglückten ein. Mit einem
       Axtstiel, einem Gummiknüppel und mit Baseballschlägern. Trotz mehrerer
       Notoperationen verstarb Avcı, ohne aus dem Koma erwacht zu sein, an
       Heiligabend, berichtete Gülüstan Avcı der taz. Zehn Tage später kam der
       gemeinsame Sohn zur Welt, sie gab ihm seinen Namen.
       
       ## Bei rechter Gewalt vergisst man gern den Westen
       
       In der Bundesrepublik gehen die Zahlen über die rechtsextremen Todesopfer
       von staatlichen Stellen und zivilgesellschaftlichen Initiativen weit
       auseinander. Die Bundesregierung geht von 109 Todesopfern aus, die Amadeu
       Antonio Stiftung von 213 Opfern. Bei rechter Gewalt wird schnell – aus
       triftigen Gründen – in den Osten geschaut. In den Westen seltener. Die
       heutigen offiziellen Statistiken deuten die frühe Ignoranz an. Sie beginnen
       oft erst ab dem Wendejahr 1990. Und vor der Wende? Genaues weiß man nicht.
       Von den Sicherheitsbehörden wurden diese Morde in den Jahren 1949 bis 1990
       nicht explizit erfasst.
       
       Von 1970 bis 1989 haben Rechtsextremisten mindestens 54 Menschen im Westen
       ermordet. In Hamburg starben allein in den Jahren vor 1985 Nguyen Ngoc
       Chau, Do Anh Lan und Adrian Maleika. Wenige Monate vor Avcıs Ermordung
       erschlugen am 24. Juli rechte Skins Mehmet Kaymakçı.
       
       Bei beiden Verfahren wurde der politische Hintergrund relativiert. Die
       Staatsanwaltschaft betonte bei Kaymakçı, dass „nicht der Ausländerhass“ das
       Motiv war, sondern die „persönlichen Probleme“ der Angeklagten.
       
       Dem vorsitzenden Richter bei Avcı fiel es schwer, eine rassistische
       Motivation zu erkennen. Ein heute altbekanntes Verhalten führte mit zu der
       Bewertung: Der damalige Polizeipräsident schloss im „Mordfall Avci“ vor der
       Verhandlung einen „politischen Hintergrund“ aus, obwohl die Täter vor Ort
       gefasst worden waren, und das Landesamt für Verfassungsschutz weigerte
       sich, „Erkenntnisse“ preiszugeben. In dem Prozess wurde bekannt, dass ein
       hoher Polizeibeamter einen Täter zunächst laufen ließ. Sein Sohn verkehrte
       in der rechten Szene und war mit einem der Angeklagten befreundet.
       
       ## Erst 2012 kam der Gedenkplatz
       
       Die Tat politisierte damals. Nach der Ermordung organisierten Jugendliche
       mit Migrationshintergrund einen Selbstschutz. Beinah täglich kam es zu
       Prügeleien und Messerangriffen zwischen „deutschen und türkischen
       Jugendbanden“, wie die FAZ den Konflikt umschrieb.
       Baseballschläger-Wochen an der Elbe. Am 11. Januar 1986 demonstrierten
       15.000 Menschen im Gedenken an Avcı.
       
       Anhaltende Nachwirkung? „Danach ist die Solidarität abgebrochen“, sagte
       [2][Gülüstan Avcı der taz im vergangenen Jahr.] „Ich war sehr alleine.“
       Einer half aber konkret. Der CDU-Politiker Wolfgang Kramer unterstützte
       Mutter und Sohn bis zum 18. Geburtstag mit monatlich 200 Euro. Erst im Jahr
       2012 wurde der Tatort Ramazan-Avcı-Platz genannt. Oft kommt Gülüstan Avcı
       hier her. Am 21. Dezember werden die Familienmitglieder nicht alleine seine
       – eine Gedenkveranstaltung wurde für den Abend angekündigt.
       
       21 Dec 2020
       
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 (DIR) Andreas Speit
       
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