# taz.de -- Roman über enttäuschende Baugruppen: Erbin der Hippies
       
       > Von wegen Harmonie. In ihrem Roman „Bodentiefe Fenster“ schreibt Anke
       > Stelling über Streit, Druck und Neid in Gemeinschaftshäusern.
       
 (IMG) Bild: Autorin Anke Stelling weiß: Mit der Kommune 1 haben Baugruppen nichts mehr gemein.
       
       Absolut glaubwürdig ist alles, was Anke Stelling in ihrem neuen Roman mit
       dem großartigen Titel „Bodentiefe Fenster“ beschreibt. Das Hauen und das
       Stechen in der Baugruppe, also dem „Gemeinschaftshaus“, wie sie es nennen:
       So und kein bisschen anders geht es, wie man immer wieder hört, in derlei
       „Projekten“ zu – ganz besonders wahrscheinlich im berühmt-berüchtigten
       Berliner Ex-Szeneviertel Prenzlauer Berg, das in den vergangenen zehn
       Jahren mehr Häme über sich hat ausschütten lassen müssen als jeder anderer
       Stadtteil jeder anderen großen Stadt in diesem Land. Ganz zu Recht, wie ich
       meine.
       
       Jedenfalls leidet Anke Stellings Heldin Sandra, verheiratete Mutter von
       zwei Kindern, in einer Art innerem Monolog, der nur ab und zu durch
       gruppendynamische Diskussionen im Haus und Streitereien mit Erzieherinnen
       bei der verspäteten Abgabe des Kindes gestört wird, an diesem Hauen und
       Stechen, am ewigen Sichbelauern und Sichvergleichen der „Richtigmacher und
       Rezeptverteiler“, die mit ihr dieses Haus bewohnen.
       
       Sie verzweifelt aber auch am Auftrag ihrer Müttergeneration, es besser zu
       machen und die Privilegien, die sie hat, zu nutzen, sich selbst zu
       verwirklichen, um jeden Preis, auch um den, die anderen, also die, die das
       nicht schaffen, links liegen zu lassen – von wegen „alle Menschen sind
       gleich und jeder ist etwas Besonderes“.
       
       Man spürt es an Floskeln wie diesen, die immer wieder sehr musikalisch
       eingestreut sind in die Erzählung: Sandra gehört jener Generation an, deren
       Mütter Achtundsechzigerinnen waren, Hippies, Kinderladengründerinnen. Ein
       schweres Erbe also. Es ist eines der Stärken von Anke Stellings Buch, dass
       sie dieses nicht einfach nur beschreibt, sondern es auch stilistisch
       spiegelt.
       
       ## Ingeborg Bachmann und Christa Wolf
       
       Anke Stelling ist zwar wie ihre Sandra Anfang der Neunziger in ein Berlin
       gekommen, in dem alles möglich war, wie Sandra erlebte sie die Verwandlung
       der Stadt ein Jahrzehnt später, heiratete, bekam Kinder, zog in eine
       Baugenossenschaft in P-Berg. Und doch ist ihr Buch kein autobiografisches.
       Anke Stelling ist eine Schriftstellerin um die vierzig, die am
       Literaturinstitut Leipzig studiert und schon einige tolle Bücher
       geschrieben hat. Sie weiß natürlich, dass sich Authentisches nur auf sehr
       komplizierte und erdachte Weise durch eine Sprache herstellen lässt, die
       nur authentisch wirkt.
       
       Soll heißen: So, wie sich „Bodentiefe Fenster“ inhaltlich mit der
       Emanzipationsbewegung auseinandersetzt, so knüpft es stilistisch an die
       sogenannte Frauenliteratur der Siebziger an, an Ingeborg Bachmanns „Malina“
       vielleicht oder Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ – ganz abgesehen
       davon, dass Sandra eine Art harmlose, bürgerliche Variante der Kassandra
       darstellt, wie sie auch Christa Wolf beschrieben hat, eine Außenseiterin
       also, die so mit ihrer Seherei beschäftigt ist, dass sie gar nichts mehr
       entscheiden kann.
       
       Darum kommt es auch, wie es kommen muss: Irgendwann erträgt Sandra das
       viele Beobachten und Nachdenken über sich selbst, ihre Mütter und ihr
       grauenhaftes Milieu nicht mehr, über all die Lebenslügen und geplatzten
       Hoffnungen. Wie so viele Mütter dieser Zeit, die sich nur noch von
       Wellnessangebot zu Wellnessangebot schleppen, die an all den Ansprüchen an
       sich selbst kaputtgehen, lässt auch Anke Stelling ihre arme Sandra am Ende
       auflaufen.
       
       Sie, die sich, da freischaffend, eigentlich keinen Burnout leisten kann,
       klappt zusammen und landet in einer Kur auf einer Nordseeinsel. Wenn man
       wollte, könnte man „Bodentiefe Fenster“ also sogar als eine Art
       Konzeptroman lesen, an dem sich elegant die Diskussion über die
       Vereinbarkeitslüge und über ausgebrannte Mütter aufhängen ließe, wie sie
       gerade wieder einmal die Runde macht.
       
       ## Der Prototyp einer Generation
       
       Anke Stelling ist mit ihrer Sandra, die alles so herrlich scharf sieht und
       böse auf den Punkt bringt und trotzdem völlig hilflos über sich ergehen
       lässt, so etwas wie der Prototyp einer Generation gelungen: ein schaurig
       schönes, bewundernswert durchkonzipiertes Bild der überbesorgten,
       überprivilegierten Mutter von Prenzlauer Berg, wie sie schon oft
       beschrieben wurde – nur dass sie bislang eher von außen beschrieben wurde
       und nicht von innen, so wie sie funktioniert und wie sich selbst sieht.
       „Krusten pulend, Wickel wechselnd. Globuli zählend. Allein.“
       
       Und warum hat man am Ende der Lektüre von „Bodentiefe Fenster“ dann
       trotzdem ein wenig das schale Gefühl, um irgendwas betrogen worden zu sein?
       Vielleicht sind es die Momente des Glücks, die doch jeder noch so
       Verzweifelte zwischendurch immer mal hat und die alle bei der Stange halten
       – wahrscheinlich selbst überbesorgte Mütter in Baugruppen; nur eben nicht
       Anke Stellings Sandra.
       
       Vielleicht ist es aber auch einfach ein bisschen Humor, der sich allzu zart
       gestaltet in diesem Roman. Denn sicher sind die Sandras dieser Welt, die so
       sehr im eigenen Saft schmoren, überaus bedauernswert. Noch sicherer sind
       sie aber auch ein bisschen lachhaft.
       
       Ach, übrigens: Die Sache mit bodentiefen Fenstern, über die sich in Sandras
       Baugruppe ausnahmsweise mal alle einig sind, ist eine der Anekdoten im
       Buch, die Anke Stelling wirklich lustig auflöst. Richtig schlafen kann
       Sandra nämlich nur noch in ihrem Büro. Dort, wo es keine bodentiefen
       Fenster gibt, sondern nur „schmale, vergitterte“. Sie gewähren
       eingeschränkten Blick auf einen Hof, den nur Leute durchqueren, die Sandra
       nicht kennt. „Und auch nicht kennen muss.“
       
       31 May 2015
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Susanne Messmer
       
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